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„Ich würde es wieder riskieren“: Kolumbianische Präsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt befreit.

Lesedauer: 6 Minuten

3. Juli 2008

3. Juli 2008

Von Michael Alvarez
Leiter des Büros Cono Sur der Heinrich-Böll-Stiftung, Santiago de Chile

Die Überraschung war perfekt: in jeder Hinsicht und auch für fast alle Beteiligten. Zwar hatten sich in den vergangenen Wochen - vor allem nach dem natürlichen Tod des langjährigen FARC-Anführers Marulanda - erneut die Gerüchte über Verhandlungen und somit über eine mögliche Freilassung der ehemaligen grünen Präsidentschaftskandidatin Ingird Betancourt verdichtet. Doch zu oft war diesen Vermutungen Ernüchterung und Enttäuschung gefolgt. So oft, dass selbst Ingrid Betancourt gestern, kurz vor dem Ende ihrer beinahe sechseinhalbjährigen Geiselhaft, nicht mehr daran glauben mochte.

Die Operation Schach

Zwei weiße Hubschrauber russischer Bauart, ohne weitere Markierungen und Kennzeichnungen, näherten sich am Vormittag dem geheimen FARC-Lager im Dschungel des südöstlichen Departements Guaviare, in dem Betancourt und 14 weitere Geiseln, kolumbianische Soldaten und Polizisten, aber auch drei US-Amerikaner, seit einigen Tagen festgehalten wurden. Den Geiselbewachern war von Undercover-Agenten der kolumbianischen Sicherheitskräfte, die die mittlere FARC-Führungsebene infiltriert hatten, mitgeteilt worden, dass alle Geiseln - im Rahmen einer humanitären Mission ins Guerilla-Hauptquartier - zu einem Treffen mit dem neuen FARC-Anführer Alfonso Cano verlegt werden sollten.

Als die Hubschrauber gelandet waren und sich, so Betancourt später auf einer Pressekonferenz, eine „surrealistisch”, mit Che-Guevara-T-Shirts bekleidete, angebliche humanitäre Delegation anschickte, den Geiseln an Bord zu helfen, ahnten die FARC-Bewacher nichts. Die Hoffnungen der Entführten auf eine baldige Freilassung schwanden erneut.

Nachdem die Hubschrauber, mit zwei der FARC-Bewacher an Bord, wieder in die Luft gestiegen waren, ging alles blitzschnell: Die zwei Guerilleros wurden von den verkleideten Soldaten der Streitkräfte zu Boden geworfen und überwältigt. Dann stellte sich der kommandierende Offizier vor und teilte den verwirrten Passagieren mit, was sie nicht glauben konnten: „Sie sind frei!” Die Operation Schach war ein voller Erfolg und ohne dass auch nur ein Schuss gefallen wäre.

Auf der Pressekonferenz zeigte Betancourt vor allem Dankbarkeit

Nach einer Zwischenlandung und ärztlichen Untersuchung auf einer nahegelegenen Militärbasis wurden die Befreiten mit einer Maschine der Streitkräfte auf den Militärflughafen Bogotas ausgeflogen, wo sie, noch auf dem Flugfeld, ihre Familien begrüßen konnten – einige der entführten Soldaten nach zum ersten Mal nach zehn Jahren.

Ebenfalls noch auf dem Flugfeld wurde eine – nicht ganz improvisierte - Pressekonferenz abgehalten, auf der Ingrid Betancourt, sehr bewegt, aber mit fester Stimme den Streitkräften für ihren „perfekten” Einsatz und dem Präsidenten Uribe für seinen Mut dankte, diese Befreiungsaktion trotz des hohen politischen Risikos bei einem Scheitern gewagt zu haben.

Mit einer für Viele überraschenden Klarheit hob sie mehrfach die Rolle der Streitkräfte in der Geiselfrage hervor und erkannte - trotz Meinungsverschiedenheiten in vielen Punkten - mehr oder weniger direkt den Erfolg von Uribes Politik der harten Hand in der Eindämmung der Guerilla an. Aus ihrer Sicht befinde sich letztere immer stärker in der Defensive.

Darauf deuteten die zunehmenden logistischen und Versorgungsschwierigkeiten hin, die sie selber in den letzten Monaten der Gefangenschaft erlitten habe: seit Monaten kein Obst, kein Gemüse, aber auch keine neue Bekleidung mehr, selbst die Stiefel und die Zelte mussten immer wieder geflickt werden.

Auf Nachfrage ließ sie sich gar zu der Äußerung hinreißen, dass glücklicherweise nicht sie, sondern Präsident Uribe die Wahlen im Jahr 2002 gewonnen habe und insbesondere seine Wiederwahl dem taktischen Kalkül der FARC auf eine neue Regierung und Politik der „weichen Hand” eine Ende gesetzt habe. Nun gehe es darum, für eine Befreiung der restlichen, noch in FARC-Geiselhaft befindlichen Entführten zu kämpfen, wenn möglich über Verhandlungen. Und wenn nicht, dann im Vertrauen auf die Fähigkeiten der Streitkräfte, fügte sie, dann doch eher zögerlich, in einem Nebensatz hinzu.

Sechs unerträgliche Jahre der Demütigung

Nach sechs Jahren Haft unter unerträglichen Bedingungen und nach einer Befreiungsaktion unter diesen Umständen sind die Erleichterung und Dankbarkeit nur allzu verständlich. Verteidigungsminster Santos, stets neben Betancourt im Bild, strahlte auch sichtlich.

Die gewaltfreie Rettung der prominentesten FARC-Geisel ist zweifellos der größte Erfolg des Ministers und seines Präsidenten, und, so scheint es, eine Bestätigung von Uribes Politik der harten Hand. Insbesondere die erfolgreiche, monatelange Infiltrationsarbeit in die Führungsebenen der FARC in Vorbereitung der Operation Schach ist ein bemerkenswerter Erfolg für die Sicherheitskräfte und spricht zugleich Bände über den Zustand der Guerilla. In der bereits anlaufenden Diskussion um eine weitere Wahl Uribes keine schlechte Ausgangsbedingung, zumal er in den letzten Wochen immer wieder Verhandlungsbereitschaft signalisierte und Ausreiseoptionen für Guerilla-Kämpfer anbot, ohne allerdings auf zentrale Forderungen der Guerilla einzugehen.

Dennoch kamen noch auf der Pressekonferenz einige zweifelnde Fragen nach dem Einsatz auf: Welche Szenarien hatten die Streitkräfte für den Fall, dass die FARC-Kämpfer die Finte durchschaut und mit Gewalt reagiert hätten? Die Erklärung, man habe für diesen Fall einen – vermutlich – gewaltlosen „humanitären Einschluss” (cerco humanitario) der Geiseln und ihrer Bewacher vorgesehen, überzeugte nicht jeden. Klar ist jedenfalls, dass keinesfalls alle der rund 700 noch in der Gewalt der FARC befindlichen Geiseln auf diese „sanfte Tour” befreit werden können. Weitere Militäraktionen dürften, wie schon in der Vergangenheit, einen höheren Blutzoll erfordern.

Ein Rückschlag für die FARC

Die Frage ist nun, wie die FARC reagiert: Marulanda-Nachfolger Cano gilt als gesprächsbereiter als sein Vorgänger und soll angeblich den fatalen Legitimationsverlust der FARC durch die Entführungen und die Drogengeschäfte erkannt haben. Der „Verlust” der “bedeutendsten” Geisel Ingrid Betancourt ist zudem ein unaufholbarer Rückschlag für die Guerilla, die neben den logistischen Schwierigkeiten und verschlechterten Kommunikationsbedingungen unter den einzelnen Kampfeinheiten zunehmend auch mit Desertion zu kämpfen hat.

Dennoch hat die FARC immer wieder überraschend, unvorhersehbar auf derartige Entwicklungen reagiert. Und ein militärischer Rundumsieg der kolumbianischen Streitkräfte ist trotz der sichtbaren Erfolge bei der Eindämmung der Guerilla kurz- oder mittelfristig nicht absehbar. Insofern kommt der internationalen Gemeinschaft in der Lösung der Geiselfrage und des Konfliktes mit der FARC weiterhin eine entscheidende Rolle zu. Seit der Krise um die Bombardierung eines FARC-Lagers durch die kolumbianischen Streitkräfte auf ecuatorianischem Boden im März diesen Jahres spielen neben den USA, Frankreich, Spanien und weiteren europäischen Staaten auch die Länder der Region eine entscheidende Rolle: Insbesondere die enge Abstimmung zwischen Argentinien und Brasilien, aber auch Chile half, den Konflikt zwischen Kolumbien einerseits und Ecuador sowie Venezuela andererseits zu entschärfen.

Ingrid Betancourt sprach denn auch auf der Pressekonferenz ausdrücklich der argentinischen Präsidentin Cristina Fernandez ihren Dank für ihren unermüdlichen Einsatz in der Geiselkrise au. Die Regierungschefin am Rio de la Plata hatte schon bei ihre Antrittsrede im Dezember - wie auch immer wieder in den vergangenen Monaten zu verschiedenen internationalen Treffen und Besuchen - Betancourts Schicksal und die Geiselkrise in Kolumbien thematisiert.

Auf die schwierigste Frage des Tages, ob sie sich, in Erinnerung der damals laut gewordenen Vorwürfe, sie habe damit ihre Entführung mutwillig provoziert, heute wieder für die Reise in das Guerillagebiet entscheiden würde, reagierte Ingrid Betancourt aber dann doch wie erwartet: Nach einer kurzen Pause und mit leicht bemühter Stimme antwortete sie doch entschieden: “Ich würde es wieder riskieren”.

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