Interview mit Horia Mosadiq, 31, Journalistin und Direktorin des Human Rights Research and Advocacy Consortium, Kabul/Afghanistan http://www.afghanadvocacy.org.af/
Frage: Im Februar diesen Jahres wurde vom afghanischen Parlament ein Gesetz verabschiedet, das für Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen der letzten drei Jahrzehnte Straffreiheit in Aussicht stellt. Wie begründet das Parlament das Amnestiegesetz?
Mosadiq: Das Parlament begründete die Verabschiedung des Amnestiegesetzes vor allem mit der Möglichkeit eines nachhaltigen Friedens in Afghanistan. Dies ist für uns alle sehr wichtig. Als weiterer Grund wurde die Chance für die Regierungsopposition im Ausland genannt, bei einer Rückkehr in das Land am Demokratisierungsprozess teilzunehmen, da von einer rechtlichen Verfolgung von Kriegsverbrechen abgesehen werden soll.
Frage: Bei dem Amnestiegesetz geht es um Kriegsverbrechen der letzten drei Jahrzehnte: in der kommunistischen Ära, dem Bürgerkrieg von 1992-1996 und dem radikal-islamische Taliban-Regime. Doch nach welchen Kriterien sollen die Häftlinge freigelassen werden?
Mosadiq: Allen Kriegsparteien, die in den letzten drei Jahrzehnten am Konflikt in Afghanistan beteiligt waren, wird Immunität gegen jede rechtliche Verfolgung innerhalb Afghanistans gewährt. Diesem Gesetz zufolge wird niemand, der beschuldigt wird Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben, vor Gericht gestellt. Möglicherweise führt dieses Gesetz auch dazu, dass zukünftige Verbrechen nicht geahndet werden und stellt daher eine Art Ermutigung dar, mehr solcher Verbrechen in Zukunft zu begehen. Als das Gesetz von beiden Kammern des Parlaments verabschiedet wurde, kam es zu unterschiedlichen Reaktionen in zahlreichen Gefängnissen in Afghanistan, so z.B. im Gefängnis in Herat, in welchem die meisten Häftlinge in den Hungerstreik traten. Sie forderten auch für sich Immunität nach dem neuen Gesetz, da sie im Gefängnis saßen, weil sie z.B. 1.000 Hafs (ca. 20 US$) gestohlen hatten, während andere dafür, dass sie Dutzende Menschen getötet hatten, Dörfer und Städte zerstört hatten, Immunität bekamen. Das Gesetz legalisiert die Verbrechen, zementiert Immunität in Bezug auf die Verbrechen und verankert das Prinzip der Immunität gegen jegliche Art von Strafverfolgung von Verbrechern.
Frage: Wird zwischen den einzelnen Kriegsparteien unterschieden im Gesetz?
Mosadiq: Nein, alle die das betrifft, werden gleich behandelt. Es werden keine Unterschiede gemacht.
Frage: Welche Folgen hat das Amnestiegesetz für den Demokratisierungsprozess in Afghanistan?
Mosadiq: Es hat definitiv direkte, negative Folgen für den Demokratisierungsprozess in Afghanistan. Im Jahr 2001 war der Zugang zur Justiz eines der Versprechen, die die Regierung dem afghanischen Volk gegeben hat. Leider mussten wir fünf Jahre später mit ansehen, wie statt dessen ein Amnestiegesetz durch beide Kammern des Parlaments verabschiedet wurde. Die Frauen, die in den letzten 30 Jahren die ersten und unmittelbarsten Opfer des Konflikts im Land waren, sind sehr frustriert über die Verabschiedung des Gesetzes, da sie selbst von allen politischen Parteien als politische Waffen instrumentalisiert wurden. Frauen wurden vergewaltigt, missbraucht, zwangsverheiratet, sie wurden dazu gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Es waren Frauen, die ihre Männer und Söhne verloren, die die Last des Konfliktes schultern mussten. Nun können sie es nicht mehr ertragen zu sehen, wie die Täter Amnestie erhalten und nicht strafrechtlich verfolgt werden.
Frage: Was bedeutet das Amnestiegesetz für die afghanischen NGOs, die sich für die Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen und für die Vergangenheitsaufarbeitung einsetzen?
Mosadiq: Als das erste Amnestiegesetz, welches 12 Artikel enthielt, von den beiden Kammern des Parlaments verabschiedet wurde, haben die afghanischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und Menschenrechtsorganisationen viele Anstrengungen unternommen. Sie versuchten durch Statements, Petitionen und Gespräche mit dem Präsidenten und Parlamentariern, Aufmerksam für ihre Belange zu wecken. Sie machten sie auch auf die zukünftigen Folgen einer Institutionalisierung solcher Verbrechen, als auch auf das Problem mangelnder Übernahme von Verantwortung für die vergangenen Verbrechen aufmerksam. Der Präsident versprach, das Gesetz nicht zu unterschreiben. Aber nachdem er 6 von 12 Artikeln ändern ließ, tat er es schließlich doch. Tatsächlich ist der Inhalt derselbe geblieben, außer dass in einer Fußnote steht, dass das Gesetz Individuen nicht davon abhalten soll ihre Fälle vorzubringen. Aber wie soll jemand seinen Fall vorbringen, wenn die Täter an der Macht sind, nicht nur Schlüsselpositionen in der Regierung inne haben, sondern auch die legislative Macht besitzen?
Frage: Welchen Einfluss hat das Amnestiegesetz auf die Position von Präsident Karsai sowie auf seine Akzeptanz in der afghanischen Bevölkerung?
Mosadiq: Die Menschen haben Karsai zum Präsidenten gewählt, weil er ihnen versprochen hat, das Leiden des afghanischen Volkes nicht zu vergessen, sich der Geschlechterdemokratie anzunehmen und nach sozialer Gerechtigkeit zu streben, vor allem aber den individuellen Zugang zur Justiz zu gewährleisten. Gleich nachdem er im Amt war konnten die Menschen jedoch verfolgen, wie wieder die einstigen Täter in Schlüsselpositionen der Macht gelangten und sogar mehr Macht erhielten, als sie es in der Vergangenheit je hatten. Das allein hat schon eine Distanz zwischen der Regierung und der Öffentlichkeit geschaffen. Durch das Unterzeichnen des Amnestiegesetzes hat Karsai wieder bewiesen, dass er nicht auf die Unterstützung der Öffentlichkeit baut, sondern die Unterstützung woanders sucht.
Frage: Wie wird der Präsident mit dem Druck von Seiten der ehemaliger Warlords im Parlament, die das Amnestiegesetz befürworten, und der internationalen Kritik am Gesetz umgehen?
Mosadiq: Ich denke, er steht unter Druck von Seiten der Warlords, der Zivilgesellschaft und der internationalen Gemeinschaft. Es liegt jedoch ganz bei ihm, ob er die Seite des Volkes oder aber die Seite der Kriminellen vorzieht. Er hat die Wahl in seiner Eigenschaft als Präsident, ob er 20 Millionen afghanischer Bürger vertreten möchte oder Dutzende oder hunderte Täter.
Frage: Bis jetzt ist in Afghanistan kein einziger Kriegsverbrecher angeklagt worden. Ist eine Aufarbeitung der Kriegsverbrechen nach einer Unterzeichnung des Amnestiegesetzes durch Präsident Karsai noch möglich?
Mosadiq: Es stimmt nicht, dass kein einziger Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt wurde. Direkt nach den Präsidentenwahlen 2005 wurde einer von ihnen verurteilt. Leider wurde er hingerichtet. Dies war die erste Hinrichtung unter der Regierung von Karsai. Die größte Sorge damals war, dass er ein wichtiger Augenzeuge von Kriegsverbrechen war und seine Aussagen auch beim Internationalen Kriegsverbrechertribunal verwandt hätten werden können. Seine Hinrichtung war nicht die Strafe für seine Taten, sondern offensichtlich dazu gedacht, ihn daran zu hindern, sein Wissen preiszugeben und die Aufklärung wichtiger Vorfälle zu verhindern. Der zweite Prozess wurde gegen den ehemaligen Direktor des Geheimdienstes unter dem kommunistischen Regime geführt. Er war angeklagt worden wegen Tötungen ohne Gerichtsverfahren und dem Verschwinden von Menschen in seiner Amtszeit. Er wurde zum Tode verurteilt, das Urteil jedoch nicht vollstreckt. Im Zuge des neuen Gesetzes wird er sicherlich seine Freilassung fordern und diese auch erhalten.
Frage: Hat das Amnestiegesetz Auswirkungen auf Ihre konkrete Arbeit?
Mosadiq: Auf jeden Fall. Das Amnestiegesetz hat uns vorsichtiger gemacht, uns aber auch darin bestärkt, solidarischer zwischen Menschenrechts-NGOs, FrauenrechtlerInnen und Menschenrechtlerinnen zu agieren. Wir wollen definitiv mehr Lobbying und Advocacy betreiben und wollen unsere Stimme erheben, so dass die internationale Gemeinschaft unser Anliegen vernimmt. Wir möchten die internationale Gemeinschaft an die Absichtserklärungen erinnern, die am Anfang des Demokratisierungsprozesses abgegeben wurden: Frauenrechte können nicht zur Disposition gestellt werden, nicht Verhandlungsgegenstand sein. Gerechtigkeit darf nicht dem Frieden zuliebe geopfert werden.
Das Interview führte Maria Wilke am Rande der internationalen Konferenz Roadmap to 1325, die Anfang Mai 2007 in Berlin stattfand.