Von A. Sultan Karimi, Leiter der Mediothek Afghanistan e.V.
August 2007
Fast sechs Jahre sind nach dem Abschluss des Petersberger Friedensabkommens zu Afghanistan vergangen. Wo steht die afghanische Zivilgesellschaft heute, nachdem internationale Gelder und afghanisches Engagement in deren Aufbau geflossen sind? Viele Projekte – gute und einige, die eher von „Projektitis“ zeugen – sind und werden weiterhin umgesetzt. Viele lokale zivilgesellschaftliche Initiativen sind entstanden. Aber von einer starken oder aktiven afghanischen Zivilgesellschaft kann noch keine Rede sein.
Deshalb soll in einer Zwischenbilanz einigen der Herausforderungen, Probleme und Erfolgsgeschichten der afghanischen Zivilgesellschaft nachgegangen werden. Diese Zwischenbilanz aus afghanisch-deutscher Perspektive möchte skizzieren
- welche politischen Hindernisse der zivilgesellschaftlichen Entwicklung im Weg stehen
- welche Herangehensweisen in Zukunft bei der Förderung der afghanischen Zivilgesellschaft mehr berücksichtigt werden sollten
- weshalb mehr Ressourcen afghanischen Akteuren und Organisationen zur Verfügung gestellt werden sollten.
Eine umfassende Evaluierung der Förderung der afghanischen Zivilgesellschaft von deutscher Seite steht noch aus; wegen der schlechten Sicherheitslage wurde sie verschoben. Eine derartige Auswertung ist eine dringend notwendige Grundlage, um mit Afghanen und anderen Gebern über eine nachhaltige Strategie beraten zu können.
Paralleler Aufbau von Staat und Zivilgesellschaft – ohne Gesetzesbrecher
Hervorzuheben ist, dass, was die Politik zu Afghanistan angeht, seit dem 11. September 2001 weitgehend Übereinstimmung herrscht: Viele Staaten haben sich unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen dazu bereit erklärt, das Land am Hindukusch bei seinem Friedens- und Demokratisierungsprozess zu unterstützen. (Fast) niemand wollte einen gescheiterten Staat in Afghanistan, einem geostrategisch wichtigen Land, aus dem heraus Terrorismus und Drogen in die ganze Welt exportiert werden. Eigentlich wäre diese Konstellation eine einmalige Chance gewesen.
Über den formalen Friedensprozess herrschte eine Übereinkunft: Zwei Loya Jirgas (nationale Versammlungen) sowie Präsidentschafts- und Parlamentswahlen wurden abgehalten. Damit waren die Grundsteine für einen funktionierenden Staat gelegt. Allerdings blieben die Entwaffnung der Milizen, der Aufbau des Militärs und der Polizei, vor allem aber der Justiz hinter den Erwartungen und hinter dem Zeitplan zurück.
Es ist kontraproduktiv, dass weiterhin bekannte Menschenrechtsverbrecher und Kriminelle offizielle Funktionen innehaben. Internationale Akteure und die afghanische Regierung arrangierten sich mit solchen Personen, um kurzfristig die ersten Schritte der Staatsbildung nicht zu gefährden. Dies führt zu einer paradoxen Situation, in der einerseits die Taliban und andere offensichtliche Gegner der jetzigen politischen Verhältnisse militärisch verfolgt und eliminiert werden, während andererseits gegenüber denjenigen, die sich oberflächlich betrachtet in den Prozess einfügen, aber schwere Menschrechtsverletzungen begangen haben, eine Appeasement-Politik betrieben wird. Letztere versuchen, ihre Macht zu konsolidieren, wobei sie gegen Gesetze verstoßen, Menschen bedrohen, Privatmilizen unterhalten und Drogenhandel betreiben.
Die afghanische Bevölkerung ist über diese Verletzung der Grundgedanken des Petersberger Abkommens (von 2001) aufgebracht. Es ist unglaubwürdig, mit Warlords zu paktieren, da diese die eigentliche Gefahr für den Frieden verkörpern und mittelfristig in ihrem eigenen Interesse den demokratischen Prozess unterlaufen werden. Afghanen empfinden dieses Vorgehen als Doppelmoral ihrer Regierung und der internationalen Gemeinschaft. Sie haben eine treffende Redewendung für gewaltbereite Islamisten und Friedensgegner, die sich aus opportunistischen Gründen kurzfristig in den Prozess einfügen: „Leute, die Schlangen im Ärmel halten“ – jederzeit kann man gebissen werden. Deals mit Gesetzesbrechern sind nicht der Weg, die Unterstützung der Afghanen für den Friedensprozess zu gewinnen.
In der jetzigen Situation sehen wir ferner, dass es ein Mythos ist, zunächst staatliche Institutionen aufbauen zu wollen, um sich dann in einem zweiten Schritt um die Zivilgesellschaft zu kümmern – so wie es einige Theoretiker vorschlugen. In einer relativ ruhigen Phase in den Jahren 2002 bis 2005 entstanden in afghanischen Städten neue Nichtregierungsorganisationen (NRO) und Medien in großer Zahl, die sich unbehelligt kritisch zu staatlichen Institutionen äußeren konnten. Diese Zeiten sind eindeutig vorbei.
Die Einschüchterung der Zivilgesellschaft durch den Staat funktioniert besser, als viele andere Bereiche, die für die Bürger wichtig sind – beispielsweise Schutz und Sicherheit vor Übergriffen. Kritischen Journalisten wird der Mund verboten, sie werden eingesperrt. Einzelne Regierungsvertreter wollen persönlich darüber entscheiden, was in den Medien berichtet wird. Kritik am Präsidenten und der Regierung ist inzwischen tabu. Frauen, die sich auf die – relativ gesehen – fortschrittliche afghanische Verfassung berufen, ihre Gleichberechtigung einfordern und wie Männer berufstätig sein wollen, werden eingeschüchtert und unterdrückt. Einige Frauen haben für ihr legitimes Anliegen bereits mit dem Tode bezahlt. Dennoch begehrt die Zivilgesellschaft gegen das autoritäre Verhalten staatlicher Institutionen auf und bildet einen wichtigen Gegenpol.
Keine Sicherheit für die Zivilgesellschaft
Private Sicherheitsfirmen, Bauunternehmen, afghanische Regierungsangehörige und dubiose Privatleute, zumeist Warlords und Drogenbarone, fahren – wie die ISAF – mit gepanzerten Fahrzeugen und Leibwächtern durch die Straßen des Landes. Zumeist handelt es sich dabei um Privatmilizen, über die einige Regierungsangehörige und Abgeordnete im Parlament verfügen. Diese sorgen dafür, dass kritische Stimmen in ihren Heimatprovinzen verstummen, womit sie klar gegen das Petersberger Abkommen verstoßen.
Das Bild von Pick-up-Trucks mit finsteren Gestalten auf der Ladefläche, die Kalaschnikows geschultert, hat sich den Menschen eingeprägt. Vor vielen Büros befinden sich stets bewaffnete Wächter. Die Summe dieser Sicherheitsmaßnahmen für einige wenige schafft – zusätzlich zu den Anschlägen – eine Atmosphäre der Angst und Unsicherheit. Die Menschen haben Angst vor diesen bewaffneten Gegnern von Demokratie und Frieden. Vor allem die Zivilgesellschaft hat darunter zu leiden, dass man sich mit Scharlatanen, Warlords und Opportunisten arrangiert hat. Eine solche Atmosphäre ist nicht produktiv und ein Hindernis für den Frieden.
Die Radioansagerin eines privaten Senders im Norden und der Organisator von Runden Tischen zu verschiedenen politischen Themen im Osten des Landes verfügten beide über keine Personenschützer oder gepanzerten Fahrzeuge. Sie kamen mit dem Sammeltaxi zur Arbeit. Das Gleiche galt für eine Frauenrechtlerin in Kandahar. Alle drei wurden umgebracht.
Viele zivilgesellschaftliche Vertreter haben Angst – so wie diese drei und viele andere – mit dem Leben für ihr friedenspolitisches und demokratisches Engagement zu bezahlen. Sie werden insbesondere von gewaltbereiten Islamisten persönlich bedroht. Mit einer für diese schwierige und bedrohliche Situation relativ geringen Bezahlung zwischen ca. 100 bis 300 US-Dollar können sie sich keinen Schutz leisten. Ihre wohl wichtigste Entlohnung ist, dass sie für ihre Überzeugungen und ihren Idealismus einstehen.
Die Polizei gilt als untätig oder korrupt. Sie ist noch nicht genügend ausgebildet und hat nur in Ausnahmefällen Menschen beschützen können. Außer bei größeren Veranstaltungen mit internationaler Beteiligung können zivilgesellschaftliche Organisationen keinen Schutz bei der ISAF anfordern. Sie sind auf sich allein gestellt. Vertreter der Zivilgesellschaft fragen sich zu Recht, wie es sein kann, dass sie, als die Stützen von Frieden und Demokratisierung, nicht beschützt, dass sie im Gegenteil bedroht werden. Es gibt – bis jetzt – auch in den Budgets internationaler Organisationen keine Mittel, mit denen diese Sicherheitslücke ansatzweise zu schließen wäre.
Die Zivilgesellschaft ist der Schlüssel zum Frieden
Wenn man überlegt, welches Bedeutung die Zivilgesellschaft für Krieg und Frieden in einem Land hat, dann ist klar, dass sie im afghanischen Friedensprozess bis jetzt eindeutig nicht genügend ermutigt, beschützt und gefördert worden ist. Die Zivilgesellschaft ist der wichtigste Faktor, wenn es darum geht, ein stabiles, demokratisches und friedfertiges Land aufzubauen. Stabilität und Entwicklung ergeben sich nicht einfach durch internationale Hilfszahlungen, sie setzen das Engagement der Bevölkerung voraus. Eine solche Beteiligung aber kann nur mittels – mehr oder weniger organisierter – Multiplikatoren erreicht werden, die für Frieden und Demokratie eintreten.
Fehlt es hierbei an Unterstützung und werden die im Petersberger Abkommen gemachten Versprechungen nicht eingehalten, kann es leicht geschehen, dass frustrierte Zivilisten zu gewaltbereiten Islamisten und anderen Gegnern des Friedensprozesses überlaufen. Diejenigen, die sich für Frieden und Demokratisierung einsetzen, benötigen eindeutig mehr Hilfe.
In den internationalen Abkommen zu Afghanistan wird die Zivilgesellschaft zwar als wichtiger Akteur erwähnt. Welche Rolle ihr zukommen und wie sie gefördert werden soll, bleibt aber unklar. Afghanische zivilgesellschaftliche Organisationen fordern im Friedensprozess mehr Unterstützung ein. Jedoch haben ihre Anliegen keine hohe Priorität, da die internationale Gemeinschaft vermehrt militärisch vorgeht, und es auch an Geldern mangelt. Dies jedoch ist zu kurz gedacht: Verlieren wir die Unterstützung der Zivilbevölkerung, potenzieren wir die Zahl der gewaltbereiten Taliban und ähnlicher Gruppen.
Dringend benötigt: eine nachhaltige Strategie für den Aufbau der Zivilgesellschaft
Die afghanische Zivilgesellschaft benötigt stärkere und kohärentere internationale Unterstützung. In einem gescheiterten Staat muss sowohl „state building“ als auch „nation building“ betrieben werden. Beim Aufbau einer Nation und von Gemeinschaften wird immer die Zivilgesellschaft eine führende Rolle spielen müssen. Dafür jedoch fehlt eine einheitliche, transparente und nachhaltige Strategie. Notwendig ist hier mehr Beratung und Austausch, um die Zusammenarbeit der einzelnen Geber zu verbessern.
Der genannte Mangel sorgt auf der afghanischen Seite für unnötige Konkurrenz und ungleiche Startbedingungen. Die wichtigsten Geberländer sollten sich mit der UN und Vertretern der Zivilgesellschaft aus den Provinzen zusammensetzen, um Eckpunkte, Mechanismen und Ziele zu definieren. Dabei sollten die Strukturen einer traditionellen Gesellschaft berücksichtigt werden, die erst in jüngster Zeit moderne Organisationen wie NROs entwickelt hat. Wie kann man erwarten, dass nach nur sechs Jahren und ohne jede Erfahrung die afghanische Zivilgesellschaft selbstständig Mechanismen entwickelt, um Gelder gerecht zu verteilen? Selbst internationale Organisationen mit langer Erfahrung stoßen beim Aufbau Afghanistans an ihre Grenzen.
Geht es darum, Zivilgesellschaft aufzubauen, sind gewisse Moden zu beobachten: In Kabul waren es die Nähmaschinen für Frauen, Kleiderspenden für Waisenhäuser und kurzfristige Druckkostenzuschüsse für Tageszeitungen. Nur: Wie viele Frauen leben heute noch von Handarbeiten – angesichts der Konkurrenz durch Billigprodukte aus China? Wie viele Waisen leben heute behütet und mit Ausbildungschancen in Kabul? Wie viele der Zeitungen existieren noch? Eine Auswertung dürfte recht negativ ausfallen.
Erste Herausforderung: Zivilgesellschaftlicher Aufbau in einem gescheiterten Staat
Zwei strategische Fragen sind zentral. Erstens: Wie kann man in einem gescheiterten Staat zivilgesellschaftliche Strukturen aufbauen? Hierzu bedarf es politischer Instrumente, die erst wenig erprobt sind. Die ausländischen Geldgeber haben versucht, nach einem ihnen bekannten Muster vorzugehen, das heißt, sie haben sich an Medien, politische Parteien, Frauengruppen usw. gewandt. Jedoch – in Afghanistan existierten solche Organisationen kaum oder nicht in der bekannten Form. Die klassischen Instrumente der Entwicklungspolitik liefen somit ins Leere.
Gendertrainings nach westlichem Vorbild, beispielsweise, führen in einem Land, dessen Bürgerinnen und Bürger zunächst einmal ihre neue Verfassung, ihre Rechte und Pflichten kennen lernen müssen, nicht weit. Im Medienbereich wurden für viel Geld Fernseh- und Radiosender aus dem Boden gestampft. Gut ausgebildete Journalisten hingegen sind weiterhin Mangelware. Die wenigen guten und somit kritischen Journalisten stehen unter Beobachtung, werden eingeschüchtert oder gar eingesperrt. Eine Journalistenschule wäre eine wichtige und nachhaltige Investition. Es werden Konzepte und Gelder für die Herstellung informativer, inhaltlich anspruchsvoller Programme benötigt – nur so wird es möglich sein, demokratische Medien aufzubauen.
Auch die klassische Parteienförderung funktioniert nicht, da nicht bekannt ist, welche Rolle Parteien in einer Demokratie spielen. Im afghanischen Parlament sitzen viele Abgeordnete, die vormaligen Fraktionen im Bürgerkrieg angehören und von diesen unterstützt werden. In der Hoffnung, internationale Fördergelder zu ergattern, sind inzwischen über 80 „Parteien“ entstanden, viele als kleine Familienunternehmen.
Die eine demokratische Partei gibt es auch deshalb nicht, weil diejenigen, die für Demokratie eintreten, befürchten, dass Demokratisierung ein nur vorübergehendes Interesse des Westens sein könnte. Entsprechend haben sie Angst, auf halber Strecke allein gelassen zu werden – eine Erfahrung, die sie in den vergangenen Jahrzehnten immer machen mussten. Ohne internationale Hilfe aber hätten sie keine Chance, gegen die Drogen- und Waffengelder der vormaligen Bürgerkriegsfraktionen anzukommen.
Internationale Organisationen, auf der anderen Seite, bemängeln die Zersplitterung und Unfähigkeit der Parteien. Jedoch, wie hätten diese in fast 30 Jahren Krieg entsprechende Erfahrungen sammeln sollen? Die internationale Gemeinschaft hat hier eine große Chance ausgelassen: Schon auf dem Petersberg waren neben der Fraktion des afghanischen Königs nur Bürgerkriegsparteien (mit Ausnahme der Taliban) vertreten. Deutschland wäre gut aufgestellt, eine demokratische Partei stärker zu fördern, da viele afghanische Demokraten hier Asyl gefunden und ihre Verbindungen nach Afghanistan aufrechterhalten haben.
Zweite Herausforderung: Brücken zwischen modernen Geberorganisationen und traditioneller Zivilgesellschaft
Die zweite Frage zur Strategie der Förderung ist: Wer sind die afghanischen Ansprechpartner und Multiplikatoren? Hierzu gibt es mindestens zwei Sichtweisen. Der Sondergesandte der EU für Afghanistan, Francesc Vendrell, formulierte es kürzlich so: Wir wollen die Zivilgesellschaft fördern, aber wir kommen nicht richtig an sie heran. Wir erreichen nicht die richtigen Multiplikatoren. Damit hat er sicher Recht.
Auf der anderen Seite gibt es afghanische Aktivisten, die es in sechs Jahren noch nicht geschafft haben, die Geldgeber zu erreichen. Hier stellt sich die Frage: Brauchen wir Förderrichtlinien für die Dorfgemeinschaft oder afghanische Sozialkunde für die Manager in der Entwicklungszusammenarbeit? Viele Aktivisten fragen sich auch, ob Frieden und der Aufbau einer demokratischen Zivilgesellschaft tatsächlich ein gemeinsames afghanisch-internationales Ziel ist. Sie zweifeln an der nachhaltigen Unterstützung.
Es gibt es eine kleine Gruppe so genannter Multiplikatoren und Dachorganisationen, die in der Lage ist, mit internationalen Organisationen zu kommunizieren oder gar für diese zu arbeiten. Sie sprechen Englisch, können in Projektzyklen (Antrag, Implementierung, Abrechnung) vorgehen und ermöglichen den Gebern ihre administrativen Hausaufgaben zu machen. Sie verfügen über das notwendige Know-how – fraglich jedoch ist, wie repräsentativ sie für die afghanische Gesellschaft sind.
Und es gibt die anderen, diejenigen, die in ihrer Gemeinschaft eine wichtige Rolle spielen, die Weisbärtigen und Mullahs. Auf sie hört die Dorfgemeinschaft. Auch viele Intellektuelle und demokratische Aktivisten gehören zu den Multiplikatoren in einer traditionellen Gesellschaft, sind aber nicht in der Lage, an die entsprechenden Budgets zu kommen. Sie können kein Englisch, finden keinen Zugang zu internationalen Organisationen und Gebern.
Hier stoßen Welten aufeinander. Der entwicklungspolitische Projektmanager muss in die Heimat korrekte Berichte abliefern. Die Jugendlichen, die Fraueninitiative oder die Ratsversammlung, die in ihrem Gemeinwesen aktiv sind, kennen diese Vorschriften nicht. Sie haben nur selten Strom und keine Computer. Aber sie verfolgen ein gemeinsames Ziel, nämlich Frieden in ihre Dorfgemeinschaft, in ihr Viertel zu bringen. Für dieses Anliegen bekommen sie ohne „westliche“ Kenntnisse und Netzwerke keine Hilfe. Wie könnten Fördergelder die traditionellen zivilgesellschaftlichen Multiplikatoren in den Provinzen erreichen?
Benötigt werden hier Vermittler, die Brücken bauen zwischen den modernen Organisationen der Geberländer mit ihren Richtlinien und Metaplänen und den traditionellen Strukturen in Afghanistan, in denen es an modernem Know-how mangelt. Fachkräfte unter den Exilafghanen – in Deutschland fast 100.000 – könnten gute Vermittler sein. Bis jetzt werden sie aber nicht systematisch in den Aufbau mit einbezogen.
Die vom Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) geförderten „community center“ der Mediothek Afghanistan in fünf Provinzen basieren auf diesem Konzept des Brückenbaus. Die Mediothek ist eine deutsch-afghanische NRO, die seit dem Jahr 1993 in Afghanistan aktiv ist. Die Gemeinschaftsforen in Kunduz, Jalalabad, Khost, Wardak und Kabul werden von Persönlichkeiten aus den jeweiligen Gemeinwesen geleitet. Diese sprechen nicht alle Englisch und haben auch erst in den letzten Jahren durch Fortbildungen in Organisationsentwicklung gelernt, wie ihre Foren transparent und partizipativ im Bereich der Friedensentwicklung arbeiten können. Traditionelle Ideen aus den Regionen werden mit modernen Konzepten verbunden.
Die Foren bieten eine Plattform für die gesamte Zivilgesellschaft in den Provinzen: Die Mediothek als deutsch-afghanische Organisation versteht sich als Übersetzerin zwischen den beiden Welten. Ähnliche geschützte und offene Räume für die Zivilgesellschaft – von der Bevölkerung vielerorts angefragt und erwünscht – sollten in möglichst vielen Provinzen errichtet werden.
Die junge Generation: Friedenskapazitäten der Zukunft
Auf dem Lande spielen die Lehrerinnen und Lehrer eine zentrale Rolle. Sie sind des Lesens und Schreibens kundig, was nur bei 20 Prozent der Bevölkerung der Fall ist. In den Gemeinwesen spielen sie eine aktive Rolle. Vor allem bilden sie die junge Generation aus. Es ist von zentraler Bedeutung, was sie den Kindern beibringen: Ist Frieden und Demokratisierung für Afghanistan gut, oder wird der Widerstand gegen ausländische Besatzer verherrlicht – und der aktuelle Friedensprozess wiederum als Besatzung beschrieben? Es ist wichtig, die Lehrer gut auszubilden, sie angemessen zu entlohnen, ihnen zu gesellschaftlichem Ansehen zu verhelfen und sie als Multiplikatoren im Friedensprozess zu nutzen. Diese Aufgabe sollte man in der aktuellen, angespannten Situation nicht dem Staat allein überlassen, da für ihn Bildung keine Priorität hat, und er kaum über entsprechende Kompetenz verfügt. Internationale Organisationen könnten mit der Ausbildung und Förderung von Lehrern eine wichtige Lücke schließen.
Bildung ist auch deshalb besonders wichtig, da infolge der Kriege und der geringen Lebenserwartung Afghanistan von sehr jungen Menschen geführt werden wird. Um an die internationale Gemeinschaft Anschluss zu finden, bedarf es grundlegender Fähigkeiten im Management, im Umgang mit modernen Medien und Englischkenntnissen, über die nur die in der letzten Jahren oder die im Exil ausgebildeten Afghanen verfügen. In den Kabuler Ministerien besteht die zweite Riege der Berater und Manager schon jetzt zum größten Teil aus jungen Leuten, die unter 30 Jahre alt sind. Sie sind diejenigen, die die politischen Geschicke Afghanistans bestimmen werden – in der Regierung und in zivilgesellschaftlichen Organisationen. Sie werden bestimmen, ob Afghanistan sich wieder Brutstätte des Terrorismus’ oder ein relativ stabiles Land sein wird, das in internationalen politischen und wirtschaftlichen Organisationen konstruktiv mitarbeitet.
Zivilgesellschaft in den Provinzen
Die Provincial Reconstruction Teams (PRTs) kümmern sich um den Aufbau der Infrastruktur in den Provinzen und das mit jeweils unterschiedlichen Ansätzen, da sie von verschiedenen NATO-Staaten geführt werden. Im Vordergrund steht das Ziel, die einfachen Afghanen auf die Seite der internationalen Gemeinschaft und der Zentralregierung zu bringen. Ihre Arbeit ist nicht in ein allgemeines Konzept zum Aufbau des Landes eingebettet, Nachhaltigkeit nicht ihre Priorität. Brunnen werden gebohrt – wer aber mittelfristig in der Dorfgemeinschaft für diese verantwortlich ist, wird nur am Rande diskutiert.
Zudem ist ihre Aufbauarbeit sehr kostspielig, da der größte Teil der Mittel in die militärische Infrastruktur fließt. Nur ungefähr einer von zehn Soldaten – so die Angaben der deutschen ISAF – verlässt überhaupt die PRTs. Die Zusammenarbeit zwischen Zivilisten und Militärs wird häufig gefordert, die Umsetzung aber funktioniert erst in Ansätzen. Die PRTs stehen für einen neuen, noch nicht erprobten Ansatz in der internationalen Friedenspolitik. Dabei müssen Denk- und Arbeitsweisen von Militärs und zivilen Organisationen zuerst einmal kompatibel gemacht werden. Der grundlegende Unterschied ist kulturell: Im Militär werden Befehle gegeben und ausgeführt; die Politik arbeitet im Dialog und mit Abstimmungen.
Dies führt nicht selten zu Frust bei den zivilen Organisationen, da sich die Zusammenarbeit mit den PRTs ausgesprochen schwierig gestaltet. Zwei Erfahrungen aus der Arbeit der Mediothek Afghanistan seien hier kurz skizziert. Die Mediothek erbaute mit Hilfe von Spenden aus Deutschland eine Schule in Qala-ye Murad Bek in der Shomali-Ebene nördlich von Kabul. Im Winter stellte sich heraus, dass deren Dach dem starken Regen- und Schneefall nicht gewachsen war. Nachdem die französische ISAF immer wieder die Dorfältesten besucht und ihre Hilfe versprochen hatten, baten diese um ein wasserfestes Dach für die Schule. Mehrere Sitzungen von Vertretern des Dorfes mit ISAF-Kommandeuren, moderiert von der Mediothek, folgten – und nichts geschah. Alle sechs Monate wechseln die ISAF-Kontingente und Kommandeure, Informationen wurden nicht weitergegeben. Schließlich, kurz vor Einbruch des Winters, sprang die GTZ mit einem Kleinprojekt ein und ermöglichte den Bau des Daches. Als dieser gefeiert wurde, war der neue ISAF-Kommandeur zur Stelle, hielt eine Rede, sprach viel von Aufbauhilfe und verteilte Kugelschreiber an die Schülerinnen und Schüler. Die Dorfältesten waren erzürnt.
Zweites Beispiel: Mit dem deutschen PRT in Kunduz wollte die Mediothek eine Zeitschrift herausgeben, in der Entwicklungen und Probleme in den Nordprovinzen zur Sprache kommen sollten. Die ISAF druckte und publizierte die Zeitung allein, obwohl die Mediothek für ausgebildete Redakteurinnen und Redakteure und die Räumlichkeiten sorgte. Nach einem Jahr sollte die Zeitschrift von der Zivilgesellschaft mit finanzieller Hilfe der ISAF fortgeführt werden. Eine weitere Förderung hat es nie gegeben – auch hier hatte das Kommando gewechselt.
Ein neues, nachhaltigeres Konzept für eine Zeitschrift wurde dann mit Unterstützung einer deutschen Journalistin entwickelt. Die Bevölkerung bekommt hierdurch selbst eine Stimme. Zum Glück sprangen der DED und deutsche politische Stiftungen ein, so dass die Zeitschrift Afghanestan Emruz (Afghanistan Heute) regelmäßig publiziert werden kann. Geblieben aber ist der Frust in Kunduz über das PRT, das sich nicht an die Abmachungen gehalten hat.
Aus der Perspektive der PRT liegt die Priorität darin, sich (potenzielle) Störenfriede und Angreifer vom Leib zu halten, bzw. Drogenbosse und Warlords ruhig zu stellen, um Anschläge auf die eigenen Soldaten zu vermeiden. Selbst wenn dies grundsätzlich verständlich ist, so schadet es doch mittel- und langfristig dem Friedensprozess. Die afghanische Bevölkerung hat eine ganze andere Perspektive: Sie will eine friedliche Zukunft für Generationen. Sie versteht nicht, dass die internationale Gemeinschaft Jahr für Jahr ihre Hilfe für Afghanistan in Frage stellt, denn sie weiß, Unterstützung wird mindestens eine Generation lang vonnöten sein.
Konkrete Vorschläge
Zusammenfassend möchte ich folgende Vorschläge für den nachhaltigen Aufbau einer aktiven und der demokratischen Zivilgesellschaft in Afghanistan machen:
- Evaluierung der bisherigen Unterstützung für die Zivilgesellschaft
- Ende der Appeasement-Politik gegenüber Warlords, Drogenbossen und anderen Friedensgegnern, unter der insbesondere die Zivilgesellschaft leidet
- Mehr Unterstützung für die Zivilgesellschaft als wichtigster Akteur im Friedensprozess. Betonung der zivilen gegenüber der militärischen Komponente des internationalen Engagements
- Erarbeitung einer internationalen Strategie zur Förderung der afghanischen Zivilgesellschaft auf Basis einer eingehenden Analyse und eines Dialogs
- Nachhaltige Förderung demokratischer Medien durch Aufbau einer Journalistenschule sowie Konzepte und Mittel für qualitativ anspruchsvolle Beiträge zu TV- und Radioprogrammen
- Finanzielle und ideelle Unterstützung für eine afghanische demokratische Partei
- Entwicklung eines Programms, das Afghanen im Exil und andere Fachkräfte als Brückenbauer zwischen internationalen Gebern und traditioneller Zivilgesellschaft engagiert
- Direkte Unterstützung durch internationale Organisationen für Lehrer
- „Community Center“ in ganz Afghanistan als Plattformen für die Zivilgesellschaft
- Intensiver Dialog zwischen Militär und zivilgesellschaftlichen Organisationen über die Effizienz des Aufbaus der Zivilgesellschaft in den Provinzen und über mögliche Synergieeffekte