Zur wirtschaftlichen Entwicklung in Afghanistan

8. August 2008
Von Wagma Mohmand Karokhail

Von  Wagma Mohmand Karokhail
SYNERGY, Business and Project Support Services and Development, Kabul

Die vergangenen von Krieg und Bürgerkrieg geprägten drei Jahrzehnte haben der afghanischen Wirtschaft schweren Schaden zugefügt. Die verschiedenen Konflikte brachten eine immer weiter gehende Zerstörung der Infrastruktur und Fluchtwellen von qualifizierten Arbeitskräften mit sich, worunter insbesondere die Produktionskapazität des Landes auch heute noch leidet. Durch die drohende Gefahr von Zerstörung wurden beschädigte Produktionsanlagen nur selten repariert und neue Produktionsanlagen noch seltener gebaut.

Die Folge war, dass traditionelle Industrien, wie z.B. die Teppichindustrie, in benachbarte Staaten zogen, wo sie auch heute noch zu finden sind. Dadurch wurde und wird leider immer noch im Land selbst nur wenig produziert und stattdessen importiert. War Afghanistan vor mehr als zwanzig Jahren noch Exporteur von Obst,  wird nun, von Obst und Gemüse über Salz bis hin zu Streichhölzern, fast alles importiert. Dies führte im Finanzjahr 2005/2006 (März 2005 bis März 2006) bei Importen in Höhe von 4,4 Milliarden und Exporten in Höhe von 1,9 Milliarden zu einem Handelsdefizit von 2,5 Milliarden Dollar. Dabei muss berücksichtigt werden, dass in den Exportzahlen auch Re-Exporte nach Pakistan mit eingerechnet sind.

Ein erfolgreicher Exporteur ist Afghanistan traurigerweise nur in der Opiumwirtschaft. Obwohl 2005 erstmals seit dem Fall des Taliban-Regimes der Opiumanbau um 2,4% zurückging, betrug der Exportwert mit 2,7 Milliarden Dollar dennoch rund 38 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 7,2 Milliarden Dollar. Mit einem Wachstum des realen BIPs im Finanzjahr 2003/2004 um 14 Prozent und nach dem geringeren Wachstum von 8 Prozent des realen BIPs im Finanzjahr 2004/2005 bedingt durch ungünstige Witterungsverhältnisse, stieg das reale BIP im Finanzjahr 2005/2006 wieder auf 14 Prozent an. Mit einem Pro-Kopf-Einkommen von rund 300 Dollar zählt Afghanistan zu den ärmsten Ländern der Welt.

Während die internationale Gemeinschaft und die afghanische Regierung in den ersten Jahren nach dem Fall des Taliban-Regimes der Entwicklung der Privatwirtschaft verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben, haben beide seit Beginn 2004 begriffen, dass die Förderung privaten Wirtschaftens in Afghanistan essentiell ist für den Wiederaufbau und die Entwicklung des Landes. So versprach Präsident Hamid Karsai im März 2004 in Berlin bei der Konferenz „Afghanistan and the International Community“, ein „„enabling environment“ zu schaffen, das sowohl der lokale Privatwirtschaft unter Einbeziehung der Diaspora hilft zu florieren, als auch die internationale Privatwirtschaft ins Land zieht.“ Er verkündete „Afghanistan is open for business“.

Die wirtschaftliche Entwicklung wurde nunmehr als Motor für Wachstum angesehen. Die Nationale Entwicklungsstrategie für Afghanistan (ANDS) von 2005 bestätigte diese Auffassung erneut. In dem Papier wird neben Investitionen in die Infrastruktur und in Good Governance die Entwicklung der Privatwirtschaft als Schlüsselaktivität identifiziert. Ein Umfeld, das privates Wirtschaften fördert, führt zu Wachstum, schafft Arbeitsplätze und Wohlstand für die Menschen. Neben dieser logischen Folgerung führt nun auch der Druck der internationalen Gemeinschaft auf die afghanische Regierung dazu, dem wirtschaftlichen Aufbau mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

Obwohl die Staatseinnahmen für das Finanzjahr 2005/2006 mit 377 Millionen Dollar ein Wachstum von geschätzten 40 Prozent aufweisen, decken sie nur 34 Prozent der Kosten – Gelder für den Entwicklungshaushalt sind dabei noch gar nicht mit eingerechnet. Diese Finanzierungslücke muss extern durch Gebergelder finanziert werden. Die Geberländer drängen entsprechend auf einen schnellen Aufbau der Privatwirtschaft, damit der afghanische Staat durch Steuern ein ausreichendes Einkommen generieren kann. Da die Staatseinnahmen etwa 5 Prozent des BIP ausmachen, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen noch immer mangelhaft sind und nach Schätzung des Internationalen Währungsfonds (IWF) 80 bis 90 Prozent der Privatwirtschaft informell erfolgt, wird es noch einige Zeit dauern, bis die afghanische Regierung genügend Einnahmen erzielen kann.  

Trotz vieler Hindernisse sind seit dem Fall der Taliban einige wichtige Meilensteine gelegt worden: Demokratische Präsidentschafts- und Parlamentswahlen wurden abgehalten und eine Verfassung wurde verabschiedet. Die Währungsreform von 2003 sorgt immer noch für eine stabile Währung mit niedriger Inflation. Weitere erfolgreiche Reformen im Finanzsektor und die Verabschiedung eines Bankengesetzes führten dazu, dass eine Reihe privater Banken eine Lizenz erhielten, staatliche Banken gestärkt wurden und die „Da Afghanistan Bank“, die Zentralbank Afghanistans, an Bedeutung gewann. Das Steuersystem wurde 2004 umstrukturiert und vereinfacht. Ein neues Investitionsgesetz mit 20 Prozent Pauschalsteuer auf Unternehmen, Verlustvortrag und vorzeitiger Fälligkeit von Rückstellung wurde verabschiedet.

Bestehende Handelsabkommen wurden erneuert und neue abgeschlossen, beispielsweise mit den USA, der Europäischen Union, Japan, Indien und Iran. Es bestehen Transitabkommen mit Usbekistan, der Türkei, Pakistan, Indien und dem Iran. 2004 hat Afghanistan die Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation (WTO) beantragt. Im Handelsministerium arbeitet in Vorbereitung des Beitritts eine Arbeitsgruppe daran, dieses Jahr das „Memorandum on the Foreign Trade Regime“ fertig zu stellen.

Als einer der wenigen Geberstaaten hat Deutschland die Bedeutung der Privatwirtschaft früh erkannt. Seit Ende 2002 leistet das GTZ Projekt WIRAM „Wirtschaftsreformen und Aufbau der Marktwirtschaft“ Politikberatung für das Handelsministerium. Die Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) hat Institutionen aufgebaut, z.B. die AISA (Afghan Investment Support Agency), die seit 2003 Investoren verhältnismäßig unbürokratisch fördert. Auch die vor einigen Monaten gegründete EPAA (Export Promotion Agentur) ist ein Projekt der GTZ. Weiter bemüht sich die GTZ um die Reform der staatlichen Industrie- und Handelskammer, die im Moment noch mit privaten Kammern konkurrieren muss, unterstützt kleine und mittelständische Unternehmen in der Region Kundus sowie afghanische Unternehmerinnen. Mittlerweile bemühen sich auch die USA um die private Wirtschaft, aber gerade in den ersten Jahren war Deutschlands für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes Schrittmacher. Umso erfreulicher ist es, dass heute mehrere Geberstaaten und verschiedene Organisationen der Vereinten Nationen in diesem Bereich aktiv sind.

Trotz aller Bemühungen aber gibt es noch zahlreiche Probleme. In Umfragen bei Unternehmern (z.B. durch die Weltbank, Dezember 2005, durch AICC National Business Agenda, 2006) zeichnen sich die folgenden Schwierigkeiten für Unternehmer in Afghanistan ab:

  1. Zugang zu Land: Die Konflikte der letzten Jahrzehnte haben das Grundbuchwesen komplett zerstört. Grundstücke wurden mehrfach verkauft, viele sind nicht registriert oder die Grundbücher sind zerstört worden. Bedingt durch die verschiedenen Rechtssysteme in den vergangenen 30 Jahren existieren zum Teil widersprüchliche Titel, die es schwer machen, Klagen zu führen. Für Unternehmer ist es schwierig, Land zu erwerben, und diejenigen, die Land besitzen, klagen oft über lang anhaltende Konflikte über Eigentumsrechte. Diese Unsicherheiten verhindern Investitionen aus dem In- wie Ausland.

  2. Mangel an qualifizierten Arbeitskräften: Der Krieg und damit die Flucht von qualifizierten Arbeitskräften, eine hohe Analphabetenrate und schlechte Ausbildung führen zu einem erheblichen Engpass auf dem Arbeitsmarkt. Techniker, Manager und andere ausgebildete Fachleute sind schwer zu finden. Investoren sind deshalb häufig nicht in der Lage zu expandieren und die Produktivität in Afghanistan bleibt niedrig. Aktuell bilden nur knapp 5% aller Unternehmer aus. Einen guten Ruf haben die deutschen Technischen Schulen, die in der Vergangenheit erfolgreich ausgebildet haben.

  3. Zugang zu Kapital: Wie bereits erwähnt befindet sich der Finanzsektor Afghanistans im Wiederaufbau. Allerdings dienen die mehr als 13 lizenzierten Banken primär internationalen Gebern, ausländischen NROs, Botschaften u.a. Zwar gibt es einige Mikrofinanzinstitutionen, viele Kleinunternehmer sind damit aber nicht vertraut, und mittelständischen Unternehmern reichen die vergebenen Kreditsummen meist nicht aus. Darüber hinaus gibt es noch kein funktionierendes System, das die Haftung bei der Rückzahlung von Krediten regelt und nur unzureichende Möglichkeiten, die Kreditwürdigkeit zu überprüfen.

  4. Mangelnde Unterstützung im Handel: Lange beschwerten sich Fabrikanten über eine Tarifstruktur, die durch hohe Zölle auf Rohstoffe und niedrige auf Fertigprodukte, den Import von Fertigprodukten begünstigte. Darüber hinaus werden Exporte durch Bürokratie und Korruption an den Grenzen behindert – nicht selten benötigt ein Unternehmer bis zu zehn Tage, um seine Ware für den Export frei zu bekommen. Obwohl die Regierung in den letzten Monaten durch die Zollreform versucht hat, diese Schwierigkeiten aus der Welt schaffen sollen, sieht die Realität an den Grenzen leider nach wie vor anders aus. Die Zusammenarbeit zwischen Zentralregierung und lokalen Autoritäten ist so mangelhaft, dass Reformen aus Kabul nicht wirken. Erschwerend kommt hinzu, dass der Zustand vieler Straßen in Afghanistan mangelhaft ist, was den sicheren Transport schwierig macht.
    Viele Exporteure haben keine Lager, keine Verpackungsmaschinen. Ein weiteres Problem ist das Fehlen von Standards und Normen, die Afghanistan vor der Einfuhr von Produkten minderer Qualität aus Pakistan und China schützen und gleichzeitig hochwertige afghanische Produkte für den Export, beispielsweise in die Europäische Union, bereit machen. Die ANSA (Afghan National Standardisation Authority) befindet sich im Aufbau – allerdings hat sie nicht genügend Geld zur Verfügung. Zudem muss auch hier sicher gestellt werden, dass die Koordination zwischen Kabul und den Grenzstädten funktioniert.
    Die bereits erwähnte EPPA (Export Promotion Agency) ist eine Organisation, die zu einem Aufschwung des Handels beitragen kann.

  5. Korruption und Steuern: Die 20 Prozent Steuern auf Unternehmensgewinne sind zwar im Vergleich zu den Nachbarstaaten nicht hoch, allerdings kommt in Afghanistan das Problem der sogenannten informellen Steuern – Bestechungsgelder – hinzu. Viele Unternehmer berichten, dass formelle und informelle Steuern zusammen oft 40 Prozent ihres Gewinns ausmachen. Da man den informellen Steuern schwieriger entkommen kann als den formellen, führt dies dazu, dass mehr als 80% Unternehmen schwarz wirtschaften.

  6. Sicherheitslage: Die aktuell drohende Gefahr durch Kriegshandlungen ist sicherlich auch eine Hürde für Investoren in Afghanistan, aber sie ist eine größere Hürde für ausländische als für inländische Unternehmer. Inländische Unternehmer fühlen sich eher von den wachsenden mafiösen Strukturen im Lande bedroht. Entführungen durch Organisationen, die oft mit der Polizei, der Armee und dem Innenministerium gemeinsame Sache machen, sind fast an der Tagesordnung. So ergab eine für die GTZ im Mai dieses Jahres durchgeführte Umfrage, dass von den Befragten Unternehmern rund 20 Prozent bereits mit Entführungen in der Familie zu tun hatten und 35 Prozent Schutzgelder zahlen.

Die schlechte Infrastruktur im Lande zusammen mit den bereits erwähnten Schwierigkeiten führt zu erhöhten Kosten bei der Produktion, wodurch es fast unmöglich ist, mit den Nachbarstaaten zu konkurrieren. Hinzu kommt, dass Pakistan und Iran schon bei der Gefahr einer möglichen afghanischen Konkurrenz ihre Unternehmen so subventionieren, dass sie die afghanischen Produkte wieder preislich unterbieten können.

Um die wirtschaftliche Entwicklung des Landes positiv zu beeinflussen und in Zukunft höhere Staatseinnahmen zu erzielen, ist die Unterstützung von klein- und mittelständischen Unternehmen essentiell. In Anbetracht der Tatsache, dass 36 Prozent (ohne Opiumanbau) der Wirtschaftsaktivitäten in der Landwirtschaft und dort durch Kleinbauern stattfindet, ist eine Modernisierung der Agrarunternehmen von großer Bedeutung. Der Zugang zu Kapital sollte systematischer werden, so dass Bauern oder Bauernvereinigungen notwendige Maschinen, Lager etc. erwerben können. Bei kleinen und mittelständischen afghanischen Unternehmern besteht ein großer Bedarf an Ausbildung; besonders gewünscht sind Trainingsprogramme im Bereich von Marketing, Verpackung und Design.

Weiterhin sollte die afghanische Regierung in Zusammenarbeit mit der internationalen Gemeinschaft versuchen, traditionelle Gewerbe, wie z.B. die Teppichwirtschaft wieder ins Land zu holen. Mit der Fluchtwelle der letzten Jahrzehnte nach Pakistan wurde auch die Technik des Knüpfens, Waschens und Schneidens von Teppichen in das Nachbarland verlagert. Pakistan verdient viel Geld mit dem Export von afghanischen Teppichen. Von den Exporten in Höhe von etwa 250 Millionen Dollar jährlich entfallen 190 Millionen Dollar auf afghanische Teppiche, die in Pakistan geknüpft und gewaschen werden.

Während nun auch wieder in Afghanistan Teppiche geknüpft werden, ist es wegen der Schwierigkeit, Land zu erwerben, leider noch nicht möglich, Teppiche in Afghanistan zu waschen und zu schneiden. Die pakistanische Regierung ist sich der Bedeutung der afghanischen Teppichindustrie im eigenen Land bewusst und versucht, durch die Vergabe von Land und durch Einbürgerung die Teppichfabrikanten im Lande zu halten.
 
Wie bereits erwähnt sind zahlreiche Geberstaaten und die Vereinten Nationen in der Wirtschaftsförderung tätig. Leider ist die Koordination zwischen diesen Organisationen vor Ort untereinander und mit der afghanischen Regierung nicht immer optimal. Um gemeinsam effektiver für den Aufbau der Wirtschaft zu arbeiten und um Redundanzen zu vermeiden, muss in diesem Bereich stärker koordiniert werden.

Die private Wirtschaft kann nur dann effektiv gefördert werden, wenn die afghanische Regierung und die Geber beziehungsweise die durchführenden Organisationen in einen regelmäßigen Dialog mit der Privatwirtschaft treten. Für die Entwicklung des Landes ist es essentiell, dass Gesetze und Reformen für das ganze Land und für jeden gleichermaßen gültig sind. Eine starke Zentralregierung und starke Institutionen in den Provinzen sind dafür notwendig.

Die neue Verfassung sieht eine freie Marktwirtschaft vor. Viele Afghanen, die dieses Wirtschaftssystem zwar langfristig befürworten, fürchten, dass der Zeitpunkt dafür noch nicht gekommen ist. Sie wünschen, dass der Staat in den nächsten Jahren noch eine aktive Rolle spielt – im Rahmen einer Marktwirtschaft mit sozialer Verantwortung. In diesem Zusammenhang und im Hinblick auf den Einfluss der USA in Afghanistan, ist die Rolle Deutschlands für die wirtschaftliche Entwicklung, insbesondere was die Politikberatung im Handelsministerium anbetrifft, von großer Bedeutung für Afghanistan.

Dossier

Afghanistan - Ziviler Aufbau und militärische Friedenssicherung

Die Heinrich-Böll-Stiftung ist seit Anfang 2002 in Afghanistan aktiv und fördert die zivile und demokratische Entwicklung des Landes. Afghanistan ist auch ein Prüfstein dafür, ob der Prozess des „state building“ und des friedlichen Wiederaufbaus in einem zerrütteten Land gelingt.