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Außenpolitische Jahrestagung 2008 – Werte und Interessen in der Außenpolitik

17. Oktober 2008
Von Cameron Abadi
Von Cameron Abadi

Weitere Informationen zur Konferenz finden Sie im Kalender, im Programm (PDF) und in den Vitas der ReferentInnen.

This report is also available in English.

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Ralf Fücks. Foto: Joachim Loch

Begrüßung und Einleitung

Ralf Fücks, Vorstand, Heinrich-Böll-Stiftung

Ralf Fücks eröffnete die Tagung mit einer Beschreibung der aktuellen Lage in der internationalen Politik. Die Konflikte der neunziger Jahre, die Terroranschläge vom 11. September und der fortwährende „War on Terror“ hätten die Theorie vom „Ende der Geschichte“, die Francis Fukuyama nach dem Ende des Kalten Kriegs postuliert hatte, eindeutig widerlegt. Gleichzeitig sei die globale Vorherrschaft der Vereinigten Staaten durch den Aufstieg neuer Mächte wie China und Indien sowie das Wiedererstarken Russlands in Frage gestellt worden. Politik auf globaler Ebene berge immer ein Potential für Missverständnisse und Konflikte. „Von wenigen Ausnahmen abgesehen, hat das System der freien Marktwirtschaft sich durchgesetzt“, so Fücks, „doch Demokratie und Menschenrechte sind weiterhin umstritten.“

Im Anschluss umriss Fücks drei mögliche Szenarien für die Entwicklung der internationalen Ordnung in den kommenden Jahren. Demnach seien sowohl eine „multipolare Ordnung“ (in der eine Anzahl großer Mächte um Einfluss ringen), ein „effektiver Multilateralismus“ (auf der Basis multilateraler Institutionen, die gegenseitige Abhängigkeit schaffen und Konflikte deeskalieren können) als auch eine sich vertiefende Rivalität zwischen einer „Allianz von Demokratien“ und Gruppierungen autoritärer Staaten denkbar. „Es ist kein Geheimnis“, so Fücks weiter, „dass wir als Politiker der Grünen einen multilateralen und integrativen Ansatz bevorzugen.“

Eines sei jedoch allen beschriebenen Szenarien gemeinsam: Deutschland werde auf europäischer und internationaler Ebene größere Verantwortung übernehmen müssen als bisher. Unglücklicherweise sei die außenpolitische Kultur der Bundesrepublik für diese neuen Aufgaben noch nicht ausreichend entwickelt. Führende deutsche Politiker betrachteten „Werte“ und „Interessen“ häufig als einander ausschließende Konzepte. Deutschland sollte sich jedoch zum Ziel setzen, Werte und Interessen miteinander in Einklang zu bringen. „Ohne Klarheit über unsere Grundwerte können wir auch über unsere Interessen keine Klarheit gewinnen“, so Fücks. „Und nur wenn unsere Werte integraler Bestandteil unserer klar definierten Interessen sind, werden sie von anderen als mehr als leere Predigten angesehen werden.“

Ahmed Rashid. Foto: Joachim Loch

Keynote

Ahmed Rashid, Journalist und Autor, Lahore

In seiner programmatischen Rede nutzte Ahmed Rashid die Krisen in Afghanistan und Pakistan als Anschauungsmaterial dafür, wie die deutsche Außenpolitik Werte und Interessen besser miteinander vereinbaren könnte.

Seine Einschätzung der Lage in Afghanistan war schonungslos. „Die NATO befindet sich nicht auf dem Weg zum Sieg“, sagte er dem Publikum. Die Taliban seien zu einem regionalen Problem geworden und könnten immense Erfolge bei der Anwerbung neuer Kämpfer verzeichnen. Gleichzeitig sei das Nation-Building zum Erliegen gekommen. „Die Entwickler können die Städte nicht mehr verlassen“, erläuterte Rashid. Warlords hätten das stillschweigende Einverständnis der Regierung, und Drogenprobleme nähmen überhand. Auch Pakistan stecke in großen Schwierigkeiten. Die Inflation sei außer Kontrolle. „Die Wirtschaft bricht auf allen Ebenen zusammen“, so Rashid. Darüber hinaus hätten die Taliban sich im Norden des Landes ein sicheres Rückzugsgebiet geschaffen und begännen nun damit, die Städte zu infiltrieren.

Deutschlands Versagen bestehe darin, die eigene Bevölkerung nicht darüber aufgeklärt zu haben, was in der Region auf dem Spiel stehe. Die Deutschen „kennen weder die Fakten oder die tatsächliche Lage, noch die Bedrohung, die Deutschland daraus erwächst“, so Rashid. Die Bundesrepublik sollte die Gründe für ihre Mission in Afghanistan gedanklich vom Thema Amerika trennen. Die Deutschen sollten wissen, dass sie sich aufgrund eigener Interessen in Afghanistan engagierten und nicht um der Vereinigten Staaten willen.

Nachhaltige Verbesserungen in Afghanistan und Pakistan erforderten wesentliche Änderungen in Taktik und Strategie. So müsse Deutschland zwar nicht in die Kämpfe im Süden Afghanistans eingreifen, aber sich im Norden stärker engagieren. Schwerpunkt der deutschen Bestrebungen sollten die Unterbindung der Drogenwirtschaft und die Stärkung der örtlichen Polizei sein. Rashid sprach sich auch für eine größere Truppenpräsenz aus, um ein Erstarken der Taliban in Nordafghanistan zu verhindern. Dazu müssten die Deutschen jedoch auch ihre Vorbehalte gegen Kampfhandlungen aufgeben. „Sonst hat es keinen Sinn“.

Rashid ermutigte Deutschland zudem, eine übernationale Lösung der Krisen in der Region anzustreben. Gegenwärtig gebe Afghanistan Pakistan die Schuld für seine Probleme, während Pakistan in Indien den Verursacher sähe, und Indien wiederum Afghanistan und Pakistan für verantwortlich hielte. Iran, Pakistan, Afghanistan, Indien und die zentralasiatischen Staaten müssten an einen Tisch und dazu gebracht werden, die Verantwortung für ihre Handlungen zu übernehmen. Die Bundesrepublik könne die diplomatische und wirtschaftliche Initiative ergreifen, um diese Verhandlungen in Gang zu setzen. Es sei jedenfalls zwingend erforderlich, vom Ansatz der Bush-Regierung – der unablässigen militärischen Konfrontation – wegzukommen. Mit Blick auf die vergangenen sieben Jahre des Konflikts traf Rashid ein klares, wenn auch harsches Urteil: „Wir haben versagt.“

Joscha Schmierer, John Hulsman, Lotte Leicht, Ahmed Rashid. Foto: Joachim Loch

Panel 1: Werte und Interessen: Konflikt oder Konvergenz?

Joscha Schmierer, Publizist, Berlin
John Hulsman, Alfred-von-Oppenheim-Scholar, Alfred-von-Oppenheim-Zentrum für Europäische Zukunftsfragen (AOZ), Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e. V. (DGAP), Berlin
Lotte Leicht, Direktorin, Human Rights Watch, Brüssel
Ahmed Rashid, Journalist und Autor, Lahore

 

 


In ihren Einleitungen legten die Teilnehmer der Podiumsdiskussion ihre Ansichten zu den Unterschieden zwischen Werten und Interessen in der Außenpolitik dar.

Joscha Schmierer schilderte die Perspektive der außenpolitischen Praktiker, für die sich die Erfolgskriterien nicht nur aus moralischen Absichten oder eng gefassten Interessen ableiteten, sondern vor allen an pragmatischen Gesichtspunkten orientierten. Sie müssten eine konkrete Situation analysieren und Fakten, Werte, nationale und allgemeine Interessen, Möglichkeiten und Fähigkeiten in ihre Entscheidungen einfließen lassen. Politiker seien sich ihrer Entscheidungen niemals 100-prozentig sicher, sondern hofften auf zumindest 51-prozentige Sicherheit. Daher versuchten sie zu gewährleisten, dass ihre Entscheidungen korrigiert werden könnten, falls sie sich als falsch erwiesen. Eines sei ihnen dabei klar – die Qualität dieser Entscheidungen werde letztlich an deren Auswirkungen gemessen werden.

John Hulsman zufolge repräsentierten die Lösungen zu außenpolitischen Problemen immer eine Konvergenz zwischen Interessen und Werten, wenn die Interessen auch Vorrang hätten. Wenn demokratische Führer Ressourcen für einen langen Zeitraum binden wollten, hätten sie gar keine andere Wahl, als ihre Entscheidungen mit der Verteidigung nationaler Interessen zu begründen. Politische Entscheider sollten sich darauf konzentrieren, in grundlegenden Fragen Fortschritte zu erzielen, da ihre Geltendmachung höherer Werte andernfalls bloße Scheinheiligkeit sei. „Es geht nicht darum, sich gut zu fühlen“, so Hulsman. „Es geht darum, Gutes zu erreichen.“

Lotte Leicht argumentierte hingegen, dass Werte durch internationale Abkommen, Standards und Verpflichtungen eine direkte Rolle im politischen Gestaltungsprozess spielten. „Dabei handelt es sich um objektive Instrumente, mit denen sich Richtig und Falsch messen lässt“, sagte sie. Amerika habe seine Glaubwürdigkeit und damit seine Fähigkeit, für diese Rechte einzutreten, verloren. Europa erwirke zwar weiterhin einen Unterschied, bliebe jedoch weit hinter seinen Möglichkeiten zurück. Die Europäische Union müsse ihre Glaubwürdigkeit stärken, indem sie die Menschenrechtsprobleme von Mächten wie den Vereinigten Staaten, Russland und China offen anspricht. Die EU sollte zudem ihre Reaktion auf im Entstehen begriffene Krisen überdenken: die europäischen Sanktionen gegen den Sudan hätten sich als wenig wirksam erwiesen, und auch auf die Menschenrechtsverletzungen in Georgien sei nicht umfassend reagiert worden. Nicht zuletzt sollte Europa auch innerhalb der eigenen Grenzen den Worten Taten folgen lassen – die europäische Asylgesetzgebung müsse verbessert und die Verstrickung europäischer Länder in die Unterhaltung von Geheimgefängnissen im Rahmen der von den Amerikanern geführten Aktionen zur Terrorismusbekämpfung offengelegt werden.

Nach Ansicht von Ahmed Rashid stellt das Nation-Building die wahre Synthese von westlichen Werten und Interessen dar. Unglücklicherweise hätten Europa und Amerika es jedoch versäumt, geeignete Instrumente dafür zu entwickeln. Die Vereinigten Staaten hätten sogar die Unabhängigkeit der einst zur Förderung der internationalen Entwicklung gegründeten Entwicklungsbehörde USAID beendet und sie dem U.S. State Department unterstellt. Gleichzeitig tue sich Deutschland aufgrund seiner mangelnden föderalen Polizeistruktur äußerst schwer damit, der afghanischen Polizei eine kompetente Ausbildung zu geben. Amerika unternehme stattdessen Nation-Building auf die billige Art, indem es afghanische Warlords mit Geld, Waffen und Training versorge, was die Anstrengungen der afghanischen Zentralregierung zur Schaffung eines Rechtsstaats erschwere. „Es darf nicht auf eine Entscheidung zwischen Sicherheit und Gerechtigkeit hinauslaufen“, sagte Rashid über das Ringen um die Zukunft Afghanistans. „Ohne Gerechtigkeit kann es letztendlich auch keine Sicherheit geben.“

In der nächsten Gesprächsphase antworteten die einzelnen Diskussionsteilnehmer auf die Beiträge der anderen. Joscha Schmierer unterstrich erneut den Bedarf für pragmatische Lösungen. Unsere Bewertungen, so sagte er, dürften nicht Ausdruck abstrakter Glaubenssätze sein, sondern müssten das realistisch Machbare reflektieren. John Hulsman warnte davor, die neokonservative Ideologie durch eine Ideologie im Zeichen des Wilsonschen Idealismus zu ersetzen. „Ich glaube, dass weder die Linke noch die Rechte den Zugang zur universalen Wahrheit gepachtet hat“, sagte er. Er wies zudem darauf hin, dass viele Schwellenländer „nicht dieselben Werte“ hätten wie der Westen. Internationaler Fortschritt in einer multipolaren Welt würde durch ein Beharren des Westens darauf, universell gültige Werte zu vertreten, nur erschwert.

Lotte Leicht widersprach. „Abkommen und Standards sind wichtig“, sagte sie. Die Bestrebungen anderer Länder änderten sich mit der Zeit, doch wenn der Westen mit zweierlei Maß messe, würden andere Staaten unserem schlechten Beispiel folgen. Ahmed Rashid betonte noch einmal, dass die NATO sich unwiderruflich dazu bekennen müsse, in Afghanistan zu bleiben und zu kämpfen. Er appellierte an den Westen, seiner Verantwortung für diese Region der Erde gerecht zu werden. „Wir sind alle Teil derselben Welt“, so Rashid.

Thomas Risse, Christoph Heusgen, Bastian Hermisson, Dorothée Schmid, Cem Özdemir. Foto: Joachim Loch

Panel 2: Werte und Interessen in der deutschen und der europäischen Außenpolitik

Thomas Risse, Professor für internationale Politik und Direktor der Arbeitsstelle Transnationale Beziehungen, Außen- und Sicherheitspolitik am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft, Freie Universität Berlin
Christoph Heusgen, Außen- und Sicherheitspolitischer Berater der Bundeskanzlerin Angela Merkel, Berlin
Dorothée Schmid, Institut Français des Relations Internationales (Ifri), Paris
Cem Özdemir, Mitglied des Europäischen Parlaments, außenpolitischer Sprecher, Bündnis90/Die Grünen, Brüssel

Thomas Risse begann seine Ausführungen damit, das Publikum daran zu erinnern, dass zwischen Werten und Interessen in der Außenpolitik kein Widerspruch bestehe. Die Sicherheit Deutschlands und Europas werde durch die Verbreitung gut regierter Demokratien zweifelsohne erhöht. Anschließend schilderte Risse mehrere akute Probleme der europäischen Außenpolitik. So stünden deren Ziele gelegentlich nicht im Einklang mit den vorhandenen Instrumenten. Pläne bezögen häufig Akteure der bürgerlichen Gesellschaft vor Ort nicht mit ein. Zudem wiesen außenpolitische Ziele oft einen längeren Zeithorizont auf, als dies in der Innenpolitik der Fall sei. Gelegentlich stünden die Ziele der Außenpolitik und der nationalen Sicherheit im Widerspruch zueinander – so habe etwa die Durchsetzung freier Wahlen im Nahen Osten in einigen Fällen Fundamentalisten an die Macht gebracht. Regierungen versäumten es regelmäßig, die ausreichend Bevölkerung über außenpolitische Einsätze aufzuklären, was zu Legitimitätskrisen und der Wahl von Populisten führen könne.

Im Anschluss erklärte Christoph Heusgen, dass die Austarierung außenpolitischer Ziele eine täglich neu zu lösende Aufgabe sei, Deutschlands jüngere Außenpolitik in dieser Hinsicht jedoch Erfolge aufweisen könne. So sei es Angela Merkel gelungen, die Beziehung zu den Vereinigten Staaten zu stärken, während sie sie gleichzeitig für die Offenhaltung von Guantanamo Bay kritisierte. Auch Russland und China hätten sich öffentlicher Kritik aus Deutschland gegenüber als empfänglich erwiesen, auch wenn diese nicht mit Drohungen oder der Auferlegung von Sanktionen einherging. Diese Länder, so Heusgen, wollten international die gleiche moralische Statur erlangen, wie die USA sie hätten, und seien daher auf ihr öffentliches Image bedacht. Insgesamt gesehen bewege sich die Außenpolitik vom puren Pragmatismus hin zum Idealismus, sagte Heusgen. Als Beleg dafür nannte er die zunehmende Aktivität des Internationalen Strafgerichtshofs. Er zeigte sich auch sicher, dass die Beziehung der Bundesrepublik zu Russland angespannt bleiben würde, solange die russischen Führer offenes Bedauern über den Zusammenbruch der Sowjetunion zeigten.

Dorothée Schmid betonte, dass die Europäische Union ihre gemeinsamen Interessen stärker entwickeln müsse. „Andernfalls kann Europa nie für seine Werte einstehen“, sagte sie. Die Schwierigkeiten der EU, politische Richtlinien zu formulieren, erklärten sich aus einer übermäßigen Fokussierung auf die Schaffung von Institutionen. Insbesondere Deutschland sei bisher zu sehr auf Verfahren und zu wenig auf die eigentliche Politik konzentriert gewesen. So könne Nicolas Sarkozys Rede an die Botschafter Frankreichs als Leitfaden dafür dienen, wie die zukünftige europäische Politik gestaltet werden könnte. Dieser habe die Bedeutung von Werten nachdrücklich betont, sich uneingeschränkt nationalistisch gegeben, aber die EU als wichtigstes Vehikel für die Errichtung einer für Frankreich akzeptablen Weltordnung identifiziert.

Cem Özdemir stimmte der Einschätzung zu, dass die Europäische Union in den Weltkrisen zu wenig sichtbar und aktiv sei. Die Stärkung der EU müsse daher neben der Konsolidierung vorhandener multilateraler Verbindungen und der Schaffung neuer multilateraler Organisationen eines der vorrangigen Ziele der deutschen Außenpolitik sein. Eine Voraussetzung sei die Festigung der Glaubwürdigkeit Europas, sowohl im Inneren der Union als auch auf internationaler Ebene. Europa müsse die Menschenrechtsverletzungen anderer, auch die unserer Verbündeten, rückhaltlos kritisieren, wenn es sich nicht dem Vorwurf der Scheinheiligkeit aussetzen wolle.

In der Diskussionsrunde warf Reinhard Bütikofer, Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, die Frage auf, warum die deutsche Regierung es versäume, die Bevölkerung über außenpolitische Einsätze ausreichend aufzuklären. Lotte Leicht, Direktorin der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, wollte Ansichten zur fehlenden Transparenz und Verantwortlichkeit der EU auf dem Gebiet der außenpolitischen Entscheidungsfindung einholen.

Als Antwort auf Bütikofers Frage erläuterte Christoph Heusgen, dass die Regierung erhebliche Ressourcen in die Öffentlichkeitsarbeit investiere (insbesondere, was den Vertrag von Lissabon beträfe), dies jedoch nur geringe Wirkung zeige. Die Öffentlichkeit, so Heusgen, reagiere nur auf konkrete Situationen – beispielsweise auf die Lage in Afghanistan Anfang der neunziger Jahre und erneut nach dem 11. September. An Leicht gerichtet äußerte Heusgen, dass die Debatten auf EU-Ebene sich schlicht als zu langweilig erwiesen hätten, um die öffentliche Aufmerksamkeit zu fesseln; außerdem sei die Anonymität dabei förderlich, Konsens zu erreichen.

Özdemir widersprach. Seines Erachtens sei es unakzeptabel, dass al-Quaida und die Taliban in der internationalen Öffentlichkeitsarbeit erfolgreicher seien als der Westen. Özdemir schloss sich auch Lotte Leichts Forderung nach öffentlichem Zugang zu den Sitzungen des Europarats an – Öffentlichkeit sei ein wichtiges Element jedes erfolgversprechenden Plans zur Verminderung des demokratischen Defizits der EU.

Petr Lebeda, Heinrich Kreft, Rainder Steenblock. Foto: Joachim Loch

Workshop 1: Ökonomische Interessen und politische Werte

Petr Lebeda, Direktor, Prague Global Policy Institute – Glopolis, Prag
Heinrich Kreft, Außenpolitischer Berater der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Berlin
Rainder Steenblock, Mitglied des Deutschen Bundestags, Europapolitischer Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen, Berlin

 

 



Alle Diskussionsteilnehmer stimmten mit Petr Lebedas Darstellung der Möglichkeiten, mittels derer der Handel politische Integration fördern und zur Verbreitung eigener Werte beitragen könne, überein. Es gab jedoch Uneinigkeit darüber, in welchem Maße die Europäische Union ihre politischen Ziele mit wirtschaftlichen Mitteln durchsetzen sollte. Heinrich Kreft bezeichnete die EU als „Reich der Werte“, das einen demokratisierenden Einfluss von Osteuropa bis nach Zentralasien ausgeübt habe und weiter ausüben sollte. Rainder Steenblock war in seiner Einschätzung dessen, was Handelspolitik erreichen könne, zurückhaltender. Er führte an, dass die Regierungen benachbarter Staaten sich zwar vom materiellen Wohlstand der EU angezogen fühlten, der Handlungsspielraum der EU jedoch begrenzt sei, bis die Menschen in diesen Staaten demokratische Reformen forderten und sich für sie einsetzten. Europa sollte daher seine Verbündeten in diesen Ländern fördern, aber in seinen Erwartungen realistisch bleiben. Die Vereinigten Staaten hätten bewiesen, welch schwieriges Exportgut die Demokratie darstelle.

Workshop 2: Globale Gerechtigkeit und Außenpolitik

Barbara Unmüßig, Vorstand, Heinrich-Böll-Stiftung
Dirk Messner, Direktor, Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE), Bonn
Uschi Eid, Mitglied des Deutschen Bundestags, Mitglied des Auswärtigen Ausschusses, Bündnis 90/Die Grünen, Berlin
Wolfgang Schmitt, Geschäftsführer, Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ)

Alle Diskussionsteilnehmer waren sich darin einig, dass der Westen beim Entwurf von Entwicklungsstrategien die Entwicklungsländer stärker einbeziehen müsse. Dirk Messner legte dar, dass, da die Marktwirtschaft keine selbstregulierende globale Ordnung geschaffen habe, der Westen der Konkurrenz der aufstrebenden Mächte unterliegen werde, so er in den kommenden Jahren keine alternative, auf Zusammenarbeit basierende Ordnung entwickele. Uschi Eid zufolge stellen die UN-Milleniumsziele keine Entwicklungsstrategie, sondern allenfalls den kleinsten gemeinsamen Nenner dar, auf den sich die Generalversammlung der Vereinten Nationen einigen konnte. Den Zielen fehle es an politischen Kriterien – sie erlegten den Entwicklungsländern keinerlei Anforderungen hinsichtlich Freiheit, Einhaltung der Menschenrechte oder gute Regierungsführung auf. Die aufstrebenden Mittelklassen in den Entwicklungsländern sehnten sich nach Freiheit und Rahmenbedingungen, die den wirtschaftlichen Aktivitäten förderlich seien. Infolge ihres Nichtvorhandenseins bliebe z. B. in Afrika verdientes Geld nicht in der Region. Afrika sei der Kontinent mit der weltweit höchsten Kapitalfluchtquote. Dies zu ändern müsse eine Priorität darstellen. Barbara Unmüßig betonte mit Nachdruck, dass die Unterstützung von Entwicklungsländern im Interesse des Westens liege, vertrat jedoch die Ansicht, dass die jetzigen Entwicklungsstrategien ineffizient und reformbedürftig seien. „Entwicklungshilfe beseitigt die Armut nicht“, sagte sie. Stattdessen müsse der Westen grundlegendere und integriertere Entwicklungsstrategien schaffen. So müssten beispielsweise deutsche Ministerien gemeinsame Problemlösungen erarbeiten, statt die Entwicklungshilfe in kleinteilige Aufgaben und Projekte aufzuspalten.

Citha D. Maass, Ivan Doherty, Marieluise Beck. Foto: Joachim Loch

Workshop 3: Menschenrechte, Demokratie und sicherheitspolitische Interessen

Citha D. Maass, Forschungsgruppe Asien, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin
Ivan Doherty, Senior Advisor und Direktor, Abteilung Parteiprogramme, National Democratic Institute, Washington D.C.
Marieluise Beck, Mitglied des Deutschen Bundestags, Bündnis 90/Die Grünen, Berlin

 

 


Nach Ansicht von Citha Maass ist Afghanistan ein Paradebeispiel dafür, wie Demokratieförderung spektakulär scheitern kann. Die westlichen Streitkräfte hätten sich den örtlichen Werten und dem einheimischen Verständnis rechtlicher Normen gegenüber unempfänglich gezeigt und den Konflikt daher noch verstärkt, statt ihn abzuschwächen. Ivan Doherty erinnerte das Publikum daran, dass die Demokratieförderung schon immer zentraler Bestandteil der amerikanischen Außenpolitik gewesen sei und auch in den kommenden Jahren eine gemeinsame Basis der amerikanischen Parteien bilden werde. Marieluise Beck argumentierte, dass der Westen sich vor dem Missbrauch der Menschenrechtsstandards und -gesetze hüten müsse. So werde Russlands Behauptung eines Völkermords in Südossetien weder durch die Fakten vor Ort, noch durch Russlands Verweigerung der Zusammenarbeit im Weltsicherheitsrat gestützt. Vergleiche zwischen dem jüngsten Konflikt in Georgien und den Interventionen im Kosovo und in Bosnien seien nicht legitim, so Beck, und der Westen sollte für seine Leistungen stärker einstehen.

Renate Künast. Foto: Joachim Loch

Keynote: Klimawechsel und Welternährungskrise – Neue Herausforderungen für die Sicherheits- und Außenpolitik

Renate Künast, Fraktionsvorsitzende Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag, Berlin

In ihrem Grundsatzreferat kritisierte Renate Künast die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik für ihr Versäumnis, Antworten auf den Klimawechsel und die globale Nahrungsmittelkrise zu erarbeiten.

 


Sie argumentierte zudem, dass die gegenwärtige deutsche Landwirtschafts- und Energiepolitik mit Blick auf die Zunahme der Flüchtlingsströme, zusätzliche Kriege um natürliche Ressourcen und eine Verringerung des landwirtschaftlichen Nutzlands auch Konsequenzen für die nationale Sicherheit haben würde. Die Außenpolitik müsse ein umfassenderes Mandat erhalten und sich die Einbeziehung der Entwicklungsländer in die Welthandelsorganisation sowie die Nachfolgeabkommen des Kyoto-Protokolls zum Schwerpunkt setzen.

Künast regte an, das Scheitern der Doha-Runde als Chance zur Entwicklung besserer Handelsabkommen zu begreifen. Es seien ja die Entwicklungsländer gewesen, die sich für eine Suspendierung der Gespräche eingesetzt hätten, um so gegen die strukturellen Vorteile der Länder der Nordhalbkugel zu protestieren. Die Doha-Entwicklungsagenda sei lange vor dem akuten Auftreten der gegenwärtigen globalen Probleme – Klimawechsel, Nahrungsmittelkrise, schwindende Ressourcen – entwickelt worden, und die Bedingungen, unter denen die Gespräche nun stattfanden, hätten die Diskussion dieser Themen erschwert.

Künftige Gespräche müssten daher eine umfassendere Zielsetzung als die bloße Erörterung technischer Handelsfragen haben. Im Interesse der globalen Gerechtigkeit – und auch der nationalen deutschen Sicherheit – müsse es den Entwicklungsländern gestattet sein, ihre Interessen zu schützen. In früheren Welthandelsrunden sei die Einrichtung von „Verteidigungsklauseln“ leider keine Option gewesen, woraus letztlich globale Ungleichgewichte und Instabilität erwachsen seien.

Auch in der Energiepolitik müsse Deutschland eine breiter angelegte Perspektive entwickeln. Die Bundesrepublik sollte Entwicklungsländern dabei helfen, sich auf die Nachfolgeabkommen des Kyoto-Protokolls vorzubereiten, indem sie ihnen Zugang zu klimafreundlichen Energietechnologien gewährt. Natürlich hänge der Erfolg künftiger Klimaverhandlungen erheblich von der Beteiligung der Vereinigten Staaten ab.

Künast schloss mit einer Erinnerung an das Publikum, dass Deutschland derzeit nicht im Einklang mit den eigenen, oft bekräftigten Werten stehe. „Wir leben das genaue Gegenteil unserer Werte“, sagte sie. „Wir leben auf Kosten anderer.“ In den kommenden Jahren müsse sich die Bundesrepublik von den Interessen der rückwärtsgewandten Lobbyisten lösen und stattdessen an der Gestaltung der Zukunft arbeiten.

John Kornblum, Ulrich Schneckener, Reinhard Bütikofer, Constanze Stelzenmüller. Foto: Joachim Loch

Panel 3: Interessenpolitik und Werte in den internationalen Beziehungen

John Kornblum, Senior Counselor, Kanzlei Nörr Stiefenhofer Lutz, Berlin
Ulrich Schneckener, Forschungsgruppenleiter, Forschungsgruppe Globale Fragen, Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Berlin
Reinhard Bütikofer, Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, Berlin
Constanze Stelzenmüller, Direktorin, German Marshall Fund, Berlin

 

 


John Kornblum zufolge seien sich Europa und Amerika der Tatsache bewusst, dass sie vor denselben globalen Herausforderungen stehen, verfügten jedoch über keine gemeinsame Methode, um diese zu bewältigen, und ließen darüber hinaus das Selbstvertrauen vermissen, bei der Bildung neuer Formen der Zusammenarbeit die Vorreiterrolle zu übernehmen. Vielleicht könne eine neue politische Führung in Washington dazu beitragen, den toten Punkt zu überwinden, doch sei nicht klar, welcher der Präsidentschaftskandidaten dieser Aufgabe besser gewachsen wäre.

Ulrich Schneckener sieht weltweit zwei breite politische Tendenzen, die zu internationalen Spannungen beitrügen. Einerseits gebe es eine große Zahl von Verbindungen zwischen den Weltregionen und zunehmende, wenn auch asymmetrische, wechselseitige Abhängigkeiten. Auf politischer Ebene gebe es andererseits einen Prozess der Desintegration, eine Bewegung, die von den multilateralen Institutionen wegführe. Zwar könnten die einzelnen Staaten die bevorstehenden Probleme allein nicht lösen, doch hätten die multilateralen Institutionen in den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren an Glaubwürdigkeit verloren. Deutschland sollte diesem zweiten Trend größere Beachtung zollen, so Schneckener.

Constanze Stelzenmüller vertrat die Auffassung, dass der Irakkrieg die Hybris sowohl der amerikanischen „Hard Power“ als auch der europäischen „Soft Power“ offengelegt habe. In ihrem Scheitern, den Friedensprozess im Nahen Osten, die internationalen Bemühungen um atomare Abrüstung und die politische Stabilität an den Ostgrenzen Europas positiv zu beeinflussen, sei den Europäern die Beschränkungen der „Soft Power“ erneut demonstriert worden. Glücklicherweise habe der Pragmatismus die EU und die USA in den letzten Jahren zur Zusammenarbeit gezwungen. Daher seien neue Institutionen wie die „Liga der Demokratien“ überflüssig und gefährlich. Europa und Amerika, so Stelzenmüller, würden weiterhin pragmatische und spontane Möglichkeiten der Zusammenarbeit innerhalb und außerhalb der vorhandenen Institutionen finden. Die kommenden Jahre erforderten Kreativität und Großzügigkeit in der gemeinsamen Außenpolitik.

Reinhard Bütikofer schloss sich Stelzenmüllers Vorbehalten gegen eine „Liga der Demokratien“ an. Der Westen müsse gerade die Staaten, die nicht „Mitglied im Klub“ sein, in die Lösungsfindung für Probleme wie den Klimawechsel und die atomare Aufrüstung einbeziehen. Bütikofer unterstrich jedoch auch, dass dies nicht bedeute, dass Europa und Amerika alle „Koalitionen der Willigen“ von vornherein ablehnen sollten, zumal die Krise der multilateralen Institutionen nicht zu bestreiten sei. Derartige informelle Koalitionen sollten zwar nicht, wie von Donald Rumsfeld im Vorfeld des Irakkriegs angeregt, die erste Wahl darstellen, müssten aber eine mögliche Option bleiben.

In Antwort auf seine Vorredner betonte John Kornblum das Primat der Diplomatie. Der institutionelle Multilateralismus der Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges sei eine historische Ausnahme gewesen. Im Normalfall bestünde Diplomatie hingegen aus der kreativen, teilweise improvisierten Suche nach Lösungen. Die spezielle Dynamik der letzten fünfzig Jahre habe ihr Ende erreicht; nun sei es an der Zeit, die Struktur unserer Institutionen zu lockern und neue Lösungen zu finden. Stelzenmüller stimmte zu: Die deutsche Außenpolitik müsse tatkräftiger und kreativer werden, sagte sie dem Publikum.

Bütikofer führte an, dass regionale Organisationen und aufstrebende Mächte künftig eine größere Rolle in der Weltordnungspolitik spielen würden. Aufstrebende Mächte müssten daher – durch Übertragung eines größeren Anteils an der Verantwortung – so oder so dazu gebracht werden, regelbasierte Systeme zu akzeptieren. Sollte der Westen dies nicht bald erreichen, könnte es zu spät sein. Bütikofer plädierte auch dafür, dass Europa die geopolitische Verantwortung annehmen sollte, der Türkei den Beitritt in die EU zu ermöglichen. Stelzenmüller erinnerte die Zuhörer daran, dass die Vereinigten Staaten, mit ihrer Fähigkeit zur Selbstkritik, ein wesentlich folgerichtigerer Partner für Europa seien als China oder Russland.

Bei den Lösungsansätzen für den aktuellen Konflikt waren die Teilnehmer der Podiumsdiskussion unterschiedlicher Meinung. Bütikofer vertrat die Ansicht, dass die Terrorismusbekämpfung in Afghanistan von örtlichen Kräften angeführt werden müsste und durch das Militär allenfalls unterstützt werden könnte. Stelzenmüller widersprach: Die Entwicklungsbestrebungen seien ohne militärische Untermauerung zum Scheitern verurteilt. Europa könne nicht weiterhin den „guten Polizisten“ zu Amerikas „bösem Bullen“ geben, sagte sie, und müsse auch der Bevölkerung diesbezüglich reinen Wein einschenken.