Die Wohnungsfrage hat Moskau verdorben

31. August 2010
Von Fallon Tiffany Cabral
Bald muss sie wieder in den Flieger steigen. Alle sechs Monate. Es gab eine Zeit, da lebte sie dort. Damals war sie neun Jahre alt. Fünf Jahre später verließ sie Hamburg, um wieder bei ihrem Vater in Moskau zu leben. Seitdem pendelt Diana zwei Mal im Jahr zwischen den Welten. Nur, um ihren unbefristeten Aufenthaltsstatus in Deutschland zu sichern. Und um sich ein zweites Zuhause zu bewahren. Obwohl sie noch nicht einmal eins in Russland hat.

Haltestelle Park Kultury in Moskau. Es ist ein heißer Nachmittag im Juni. Diana, 18, und ihre Mitbewohnerin Katia, 20, treffen sich auf dem Vorplatz des Gorkipark. Die Schlangen vor den Kassenhäuschen sind lang. Erwachsene, Kinder und Alte warten auf den Einlass. Das Tor im Eingangsbereich, das in den Freizeitpark führt, erinnert an das Brandenburger Tor in Berlin. Wer sich hier in Moskau vergnügen will, muss 80 Rubel bezahlen. Umgerechnet sind das zwei Euro. Aber das wollen die beiden jungen Frauen nicht. Sie gehen ein paar hundert Schritte weiter zu ihrem Lieblingscafé.

Als Diana neun Jahre alt war, wanderte ihre Mutter mir ihr aus, nach Deutschland. Nach fünf Jahren wollte Diana wieder zurück. An die Schulzeit in Hamburg kann sie sich kaum noch erinnern. „Ich war zu klein. Ich weiß nur noch, dass wir in der achten Klasse in Deutschland in Mathe auf dem gleichen Stand waren wie die Kinder in der dritten Klasse in Russland“.

Ihr Vater lebt mit seiner Freundin in Moskau. Diana kann nicht bei ihnen leben. Deshalb wohnt sie in der Wohnung ihrer Freundin Katia. Wohnen in Moskau ist teuer. Ein 12 Quadratmeter großes WG-Zimmer im Zentrum kostet rund 19.500 Rubel (500 Euro) im Monat. Ein größeres, 25 Minuten entfernt vom Zentrum ist genauso teuer. Die meisten Familien, deren Einkommen meist weit unter 23.000 Rubel (600 Euro) monatlich liegt, wohnen in den Vororten von Moskau. So wie Katias Eltern. Sie haben ihre Wohnung im Zentrum den Töchtern überlassen.

Diana und Katia sind die einzigen Gäste im Café. Die Fenster sind verdunkelt und der Raum wird nur durch schwach leuchtende Wandlampen und Kerzenlicht erhellt. Im Hintergrund läuft leise „Roxette“. Russisch ist hier nur der Kellner, der die Bestellung entgegennimmt und die kyrillische Speisekarte.

„Jeder träumt davon, Moskau zu verlassen“, sagt Diana. „Moskau ist hart. Und teuer. Du musst entweder stehlen oder lügen, um erfolgreich zu sein.“ Auch sie will weg. Am liebsten nach Europa, um kreatives Schreiben zu studieren. Aber dafür müssten ihre russischen Abschlüsse anerkannt werden. Das ist in Deutschland ein Problem. „Aber dort ist es sicher viel besser als in Russland“, meint Katia. Hier brauche man Geld und „connections“, um an einer guten Universität studieren zu können. Mit 19 wird Diana ihren ersten Abschluss in der Tasche haben. Sie studiert Linguistik und befindet sich gerade mitten im Prüfungsstress. Wie jedes Jahr im Juni.

Wie Studentinnen sehen die beiden nicht aus. In Russland erhält man schon mit 16 oder 17 Jahren die Hochschulreife. Diana und Katia wirken eher wie verkleidete Schülerinnen. Diana ist knapp 1,50 m groß. Sie trägt braune Stoffsandalen mit einem hohen Keilabsatz. Ihr ärmelloses Wickelkleid ist knielang und besteht aus weißen Leinen. Eine Kette mit weißen klumpenartigen Perlen ziert ihren Hals. Und aus ihren Ohrläppchen baumeln schmale schwarze Stoffbänder, die sie mit einem Knoten in ihren Ohrlöchern befestigt hat. Erst ihr Kopf mit ihren frech und fransig abstehenden kurzen dunkelblonden Haaren, verrät ihr Alter.

Katia hat schon zwei Studiengänge abgebrochen: Sie hat es bereits mit Politik und Soziologie versucht. Und wartet im Moment auf einen Studienplatz für Poesie. Um sich ein wenig Geld dazu zu verdienen, arbeitet Katia seit drei Monaten in einer „Sportsbar“. Der Lohn ist niedrig. Zwischen 80 und 200 Rubel pro Stunde sind üblich. Doch Katia hat bisher noch keine einzige Kopeke gesehen. Sie wartet immer noch auf ihre Bezahlung. Ohne Vertrag kann sie auch niemandem Druck machen. Sie kann nur hoffen. So wie Katia geht es vielen illegal Beschäftigten in Moskau.

Sie solle doch mit Diana mitkommen. Weg von hier. Aber das will sie nicht. Katia versinkt immer tiefer im Sofa. Sie macht sich Sorgen, weil sie sich die Situation für Immigranten im Ausland schwierig vorstellt: „Fremde Länder klingen gruselig.“ Doch, „wenn jemand sagen würde: Komm mit und mach Dir keine Sorgen ums Geld. Ich werde mich um Deine Ausbildung kümmern. Dann würde ich Ja sagen“, fügt Katia hinzu. Diana sagt: „Ich mag Moskau. Aber in anderen Ländern kann man leichter leben. Man hat einen Job. Und man hat Geld.“ Hier könne man nur an der Kasse sitzen oder kellnern. Jobs, in denen man kreativ sein kann, gibt es nicht.

Auch Katia war schon einmal im Ausland. In Italien. Dort hat sie sich ihre Converse Chucks gekauft. Kultige, schwarze Leinenschuhe mit Gummisohle und bestickt mit bunten Blumen. Katia sieht aus wie eine zerbrechliche Schneeflocke. Hellblonde, dünne, lockige Haare, blasser Teint, zierliche Gestalt. Müde sieht sie aus, mit tiefen Augenringen. Sie hat gestern wieder lange gearbeitet.

„Wir haben damals, in unserer Jugend, viel zu viel getrunken. Heute trinken wir nicht mehr. Und die Partyzeit ist auch vorbei.“ Wenn sie abends in Moskau unterwegs sind, geben sie kaum Geld aus. „Man kann sich auch ohne Geld amüsieren.“ Ihre Freunde, Musiker die ein, zwei Jahre älter sind als sie, schleusen sie manchmal in die Clubs rein. Dort rauchen sie Bidis, Arme-Leute-Zigaretten aus Indien.

„Die Wohnungsfrage hat Moskau verdorben. Am besten, man wohnt in einer Eigentumswohnung und vermietet eine Mietwohnung. Dann braucht man noch nicht einmal arbeiten zu gehen.“ Aber das können die wenigsten. Die meisten Menschen in Moskau müssen hart arbeiten. Deshalb sind die Leute in Moskau auch so unfreundlich, sagt Diana.
Katia steht auf. Sie muss jetzt gehen, sie will sich mit ihrem Freund treffen. Vielleicht wird er sie eines Tages von hier weg begleiten. Oder sie schafft es allein. Und trifft dann irgendwo, in Italien oder in Deutschland, auf ihre Freundin Diana.

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