Was Deutschland und die deutsche Europapolitik betrifft, hat die tschechische Politik keine einheitliche Linie. Einerseits ist man sich weitgehend einig darüber, dass Deutschland für Tschechien sehr wichtig ist – 31,5 Prozent der Exporte gehen ins Nachbarland, 25,6 Prozent der Importe kommen von dort, womit Deutschland Tschechiens wichtigster Handelspartner ist. Hinzu kommt, dass man spätestens seit der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft in Deutschland das wichtigste und zugleich entgegenkommenste EU-Mitglied sieht. Aus diesen Gründen wird im außenpolitischen Konzeptpapier der Tschechischen Republik von 2011 Deutschland erstmals als „strategischer Partner“ aufgeführt und herausgestellt, wie bedeutend die deutsche Rolle hinsichtlich der Europapolitik, der europäischen Sicherheitspolitik und im weltwirtschaftlichen Zusammenhang ist.
Andererseits sind Tschechiens Beziehungen zu Deutschland und die verkündete „strategische Partnerschaft“ europapolitisch nicht verankert, da in Tschechien derzeit ein einheitlicher Ansatz in der Europapolitik fehlt. Entsprechend zwiespältig gestaltet sich Tschechiens Beziehung zu Deutschland und zur deutschen Europapolitik.
Was das politische Personal anbetrifft, ist die Frage nach der Rolle Deutschlands innerhalb der EU recht unproblematisch. Die Bundeskanzlerin hat zu tschechischen Politiker/innen konstruktive Beziehungen aufgebaut und wird von der tschechischen Öffentlichkeit überwiegend positiv gesehen (nach Barack Obama ist sie die ausländische politische Figur, der man in Tschechien das größte Vertrauen entgegenbringt).
Diese zwiespältige Lage hat also vor allem konzeptionelle und ideologische Gründe. Was die Frage des Nationalstaats und der teilweisen Aufgabe nationaler Souveränität angeht, ist die politische Landschaft Tschechiens schon lange gespalten. Der politischen Strömung, die in erster Linie auf den Nationalstaat setzt, geht es in erster Linie um zwischenstaatliche Zusammenarbeit, und die radikaleren Stimmen aus diesem Lager lehnen es grundsätzlich ab, Elemente nationaler Souveränität abzutreten. Solche Stimmen finden sich vor allem in der programmatisch überwiegend neoliberalen Demokratischen Bürgerpartei (ODS) von Premierminister Nečas. Der Gründer dieser Partei, Tschechiens aktueller Präsident Václav Klaus, gilt innerhalb der EU als Abweichler, da er dafür eintritt, die EU auf den Stand vor dem Vertrag von Maastricht zurückzuschrauben.
Gleichfalls dieser Strömung zuzurechnen sind die Regierungspartei „Öffentliche Angelegenheiten“ (VV) sowie ganz besonders die oppositionelle Kommunistische Partei (KSČM), deren konservative Kräfte in der EU einen von Deutschland beherrschten Kapitalistenclub sehen. Das „national-föderative“ Lager betont gleichfalls die Bedeutung des Nationalstaats, ist aber in unterschiedlichem Maße dazu bereit, die überstaaatlich geteilte Souveränität innerhalb der EU auszubauen sowie sich in Richtung hin zu einer politischen Union zu bewegen. Dieser Strömung zuzurechnen sind die Regierungspartei TOP09, die oppositionellen Sozialdemokraten (ČSSD) sowie die im Parlament nicht vertretenen Grünen und Christdemokraten (KDU-ČSL).
In praktischer Hinsicht schlagen sich diese Unterschiede auf die Haltung zum Euro und zur Zukunft der EU nieder. Da Tschechien den Euro nicht eingeführt hat und dies in naher Zukunft auch nicht tun wird (die ODS verlangt ein Referendum zum Euro), muss die Regierung sich auch nicht am Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) beteiligen. Andererseits führt dies jedoch zunehmend zu der Sorge, dass in dem Maße, in dem Entscheidungen innerhalb der Eurozone an Bedeutung gewinnen, diejenigen EU-Staaten, die keine Mitglieder sind, an Einfluss verlieren – ein Punkt, auf den auch die „national-föderativen“ Kräfte verweisen.
Entsprechend vielfältig fielen in Tschechien auch die Reaktionen auf die von Deutschland nach und nach entwickelten Pläne zur Rettung der Eurozone aus. Selbst an der Spitze des Staats gibt es hier zwischen Premier Nečas (ODS), Außenminister Schwarzenberg (TOP09), Finanzminister Miroslav Kalousek (TOP09) und Präsident Václav Klaus (ODS) grundlegende Unterschiede – und die Opposition ist gleichermaßen gespalten. Die Lage wird dadurch noch weiter kompliziert, dass auch die deutsche Seite nicht immer mit einer Stimme spricht. Die schritt- und oft auch nur stückweise Art, in der die Bundesregierung auf die Krise reagiert, wird von den linken deutschen Oppositionsparteien vielfach kritisiert.
Wirtschaftskulturen und die Rettung der Eurozone
Die Regierungen der beiden Länder verbindet die Ähnlichkeit der jeweiligen Wirtschaftskultur, das heißt der Versuch, einen ausgeglichenen Haushalt zu schaffen (die Staatsverschuldung Tschechiens belief sich 2011 auf 42 Prozent), niedrige Inflationsraten zu erzielen (1,9 Prozent im Jahre 2011) sowie die auf den Export ausgerichtete Wirtschaft zu stärken und eine positive Handelsbilanz zu erreichen. Entsprechend unterstützt die Tschechische Republik Deutschlands Anstrengungen, innerhalb der EU für Haushaltsdisziplin zu sorgen, wozu auch eine rechtlich verbindliche Schuldenbremse innerhalb der Eurozone gehört – und das selbst um den Preis, im eigenen Haushalt erhebliche Einschnitte vornehmen zu müssen.
Seit 2010 hat die ODS (die 2009 aus der Europäischen Volkspartei, EVP, austrat und Mitglied der Europäischen Konservativen und Reformisten, ECR, wurde) den Ansatz verfolgt, Tschechien von der Eurozone fernzuhalten und sich allen Versuchen widersetzt, die hier für größere Integration sorgen könnten, das heißt, dem Euro-Plus-Pakt, dem Europäischen Stabilitätsmechanismus, dem Europäischen Fiskalpakt, der gemeinsamen Bankenaufsicht und der im Entstehen begriffenen Bankenunion. Anlässlich eines Staatsbesuchs von Angela Merkel versuchte der tschechische Premier diese Widersprüche dadurch zu überdecken, dass er erklärte, Tschechien sei gewissermaßen ein „stiller Unterzeichner“ des Fiskalpakts, da es versuchen werde, freiwillig alle darin enthaltenen Forderungen zu erfüllen.
Die Partei TOP09 (die, im Gegensatz zur ODS, im Februar 2012 der Europäischen Volkspartei, EVP, beitrat) steht der deutschen Politik grundsätzlich offen gegenüber, wenn auch die Partei in dieser Frage nicht ganz geschlossen ist. Sie unterstützt einen zukünftigen Beitritt zum Fiskalpakt und kritisiert Premier Nečas, da, ihrer Meinung nach, die Tschechische Republik ernsten Schaden leiden könnte, sollte das Land hier außen vor bleiben. Außenminister Schwarzenberg ist der Meinung, man dürfe den Euro nicht als Fetisch betrachten, und die EU könne auch ohne ihn überleben; er tritt aber dennoch für die Rettung des Euros ein.
Sein Parteikollege, Finanzminister Miroslav Kalousek, steht hingegen wie die ODS den deutschen Versuchen, eine auf europäischer Ebene zentralisierte Kontrolle nationaler Haushalte einzuführen, weitgehend skeptisch gegenüber. Er sieht die zunehmende Rolle der Europäischen Kommission kritisch, da hierdurchhaushälterische Befugnisse zunehmend auf die europäische Ebene verlagert und für die nationalen Regierungen verbindliche wirtschaftliche Richtlinien eingeführt werden. Wie die ODS, die Tschechische Nationalbank und Präsident Klaus hat auch Kalousek Bedenken in Bezug auf die im Entstehen begriffene Bankenunion und die neue Rolle der EZB.
Das Augenmerk auf strenge haushälterische Richtlinien und der Versuch, Europas Wirtschaft durch mehr Export zu stärken, stößt gleichfalls auf Widerstand. Die ČSSD lehnt die Vorstellung ab, man könne die europäische Krise schlicht durch Kürzungen und Rettungspakete beenden. Zwar unterstützt sie den Fiskalpakt, sieht in ihm aber nur Stückwerk, dem es an einem „zweiten Standbein“ mangele, nämlich einer aktiven Arbeitsmarkt- und Wachstumspolitik. Ähnliche Kritik an den Rettungsmaßnahmen ist auch vom pragmatischen Flügel der KSČM und von einer Minderheit kommunistischer „Euro-Aktivisten“ zu hören.
Der Gewerkschaftsverband lehnt eine Senkung der Haushaltsdefizite innerhalb der EU ab, da sich so das Problem der Verschuldung nicht lösen lasse und dies „unausweichlich dazu führen wird, dass die europäischen Volkswirtschaften an Dynamik verlieren und sich die Krise entsprechend nur weiter verschärft“.
Pavel Rychetský (ČSSD), oberster Richter am Tschechischen Verfassungsgericht, lehnt den Versuch, die Finanz- und Wirtschaftskrise der EU durch „nackten Neoliberalismus“ zu bekämpfen, ab, da dies eine Reihe europäischer Staaten – inklusive Tschechiens – dazu zwingen werde, den Sozialstaat abzubauen und sich von staatlichen öffentlichen Aufgaben zu verabschieden, was wiederum die Verunsicherung wachsen und „gesellschaftliche Klüfte“ aufbrechen ließe. Auch die Gewerkschaften lehnen die von „bestimmten Politikern (besonders in Deutschland)“ vertretene Vorstellung ab, alle Länder könnten durch Exporte eine positive Handelsbilanz und Wirtschaftswachstum erreichen. Diese Position findet im linken Parteienspektrum starken Widerhall, geht man dort doch davon aus, Länder innerhalb der Eurozone, denen eine Deutschland vergleichbare Produktivstruktur fehle, könnten das deutsche Modell nicht übernehmen – und schon allein die Logik gebiete, dass nicht jedes Land eine positive Handelsbilanz aufweisen könne.
Institutionelle Fragen
In Bezug auf eine Stärkung der EU-Institutionen und die Bildung einer politischen Gemeinschaft geht die ODS nicht nur auf Abstand zur deutschen Politik, sondern auch zum Koalitionspartner TOP09 und besonders zur „national-föderativen“ Opposition. Premier Nečas hat zwar die geplante Stabilisierung des Euros als Schwerpunkt tschechischer Politik bezeichnet, den Euro-Plus-Pakt und den Fiskalpakt lehnt er jedoch ab. Er setzt stattdessen auf das zwischenstaatliche Prinzip der EU, das allerdings auch beim deutschen Rettungsplan eine wichtige Rolle spielt. Im Unterschied zu Deutschland setzt er jedoch auf wechselnde Konstellationen innerhalb der EU, das heißt, die entsprechenden Abläufe sollen abhängig vom konkreten Thema der Zusammenarbeit angepasst werden – eine Art „Europa à la carte“. Vertretern der ODS ist klar, dass die EU zusammenrücken muss, wenn sie Erfolg haben und der globalen Konkurrenz die Stirn bieten möchte. Dies jedoch soll nicht auf Kosten der diszipliniert wirtschaftenden Nordstaaten der EU geschehen.
Die liberal-konservative Regierung Tschechiens hat, wie wir gesehen haben, keine einheitliche Position und hält das Land dadurch abseits der europäischen „Hauptströmung“ – genau dort, wo der Premierminister Tschechien eben sehen möchte. Präsident Klaus sieht in allen Versuchen, die Eurozone zu retten und sich in Richtung einer politischen Union zu bewegen, einen Schritt in Richtung Sozialismus. Hierdurch hat sich, erstmals seit 2004, das Verhältnis von Tschechien zu Deutschland zumindest teilweise von seinem europäischen Kern entfernt – eine teilweise De-Europäisierung ist im Gange.
Dennoch ist die tschechische Regierung eine Art minimalistischer Partner der politisch ähnlich gestrickten deutschen Regierungskoalition. Das Hauptinteresse der deutschen Regierung gilt einer umfassenden Wirtschaftspolitik sowie einer Kultur des haushälterischen Maßhaltens – und hierzu benötigt die deutsche Regierung die Unterstützung möglichst vieler EU-Staaten, um das Übergewicht der südlichen EU-Mitglieder ausgleichen zu können. Wie wichtig eine derartige Zusammenarbeit ist, zeigte sich, als der Kandidat der Linken in Frankreich die Präsidentschaftswahl gewann.
Die ČSSD, deren Chancen, 2014 die Parlamentswahlen zu gewinnen, recht gut stehen, hat ein Europaprogramm, das der deutschen Position, in EU-Fragen auf einen lockeren Konsens zu setzen, ziemlich nahe kommt. Die geschwächten tschechischen Grünen und die KDU-ČSL, die eine Rückkehr in die Politik auf gesamtstaatlicher Ebene anstreben, vertreten ähnliche Positionen. So ist im Programm der KDU-ČSL beispielsweise von einer starken, solidarischen EU die Rede, und die Partei sieht in Deutschland den fraglos wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Partner Tschechiens.
Pavel Rychetský, oberster Richter am tschechischen Verfassungsgerichtshof, verweist auf die innergesellschaftliche Bedeutung einer weiteren EU-Integration. Er kritisiert Maßnahmen, die dazu führen, dass „sich unser Land nach und nach isoliert und die es von den gemeinsamen Anstrengungen, mehr Integration zu schaffen, abrücken lassen“. Seiner Ansicht nach reichen bloß nationale Mittel nicht aus, um den in Tschechien notwendigen gesellschaftlichen Wandel voranzubringen (namentlich den Kampf gegen Vetternwirtschaft und für die Erneuerung gemeinsamer Werte).
Eine deutsche Führungsrolle in der EU?
Die nationale Strömung in der Politik Tschechiens betrachtet eine Führungsrolle Deutschlands innerhalb der EU schon immer als problematisch bis inakzeptabel. Schon vor der Eurokrise warf eine Minderheit dieser Strömung Deutschland vor, nach Vorherrschaft zu streben und Maßnahmen zu diktieren. Václav Klaus etwa sagte 2010, „Deutschland [hat] auf friedlichem Wege eine eindeutige Vorherrschaft in Europa erreicht, etwas, das ihm in zwei Weltkriegen nicht gelang“. Petr Hájek, der stellvertretende Bürochef von Präsident Klaus, sagte, die Tschechische Republik sei heute ein „Deutsches Protektorat“ und die Europäische Union der Versuch, ein „Viertes Reich“ zu errichten. Diese Sicht teilt zu einem gewissen Grad die KSČM, die in dem Konsens zwischen tschechischer und deutscher Regierung in Sachen Haushaltskürzungen einen weiteren Beweis dafür sieht, dass Tschechien zu einer Art Kolonie des deutschen Kapitals geworden ist.
Wesentlich stärker ist jedoch die Position, die von der Mehrheit in der ODS vertreten wird, und die das Prinzip der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit hochhält, jedoch bemängelt, dass die wichtigen europäischen Maßnahmen vor allem zwischen Deutschland und Frankreich sowie zwischen anderen aus wenigen Staaten bestehenden Konstellationen ausgehandelt werden.
Im Unterschied dazu hat die „national-föderative“ Strömung mit einer deutschen Führungsrolle kein Problem, obgleich Minister Schwarzenberg (TOP09) zufolge die Deutschen besser darauf verzichten sollten, sich als leuchtendes Beispiel und Retter aufzuführen. Für die ČSSD und die Grünen ist Deutschlands Rolle entscheidend und sie betonen, die Reformansätze müssten grundsätzlich besser ausgearbeitet werden und es bedürfe größerer Solidarität innerhalb der EU.
Die Aufgaben, vor denen Deutschland – und damit Kanzlerin Merkel – steht, werden in der tschechischen Presse erörtert, und der Verlauf dieser Debatte (in welcher der neoliberale Diskurs weiterhin die Oberhand hat) in den Qualitätszeitungen deutet darauf hin, dass es für Deutschlands Lage großes Verständnis gibt. Innenpolitisch steht Angela Merkel vor der Aufgabe, eine überzeugende Strategie für die Rettung des Euros zu finden, die deutschen Wähler zu überzeugen, Kritiker zu beschwichtigen, mit der Schwächung des Koalitionspartners FDP umzugehen, und gleichzeitig das gespannte Verhältnis zur CSU in den Griff zu bekommen. Weit verbreitet ist die Ansicht, es sei nicht möglich, den Euro ohne eine politische Lösung (Fiskalunion, Kauf von Staatsanleihen durch die EZB) langfristig zu stabilisieren. Was das angeht, so nimmt man Deutschland als umsichtigen, zögerlichen Akteur wahr, der sich nur allmählich in Richtung einer derartigen Lösung bewegt.
Herausgestellt wird dabei, dass Deutschlands Gewicht innerhalb der Eurozone selbstverständlich zugenommen und dass Deutschland seine eigene Sicht auf die Krise habe, derzufolge die wesentliche Ursache in einer überhöhten Staatsverschuldung liege (etwas, das in Tschechien oft als grob vereinfachend kritisiert wird). Dennoch wird darauf hingewiesen, dass Europa nicht nach deutschem Diktat spare, und dass Deutschland während der vergangenen drei Jahre Abstriche an seinem Modell gemacht habe, die vor Kurzem noch undenkbar gewesen seien.
Was die Gefahren und Kosten einer politischen Union oder eines möglichen Endes der Eurozone betrifft, gehen die Meinungen auseinander. Allgemein wird davon ausgegangen, dass Deutschland in beiden Fällen auf der Gewinnerseite stünde – entweder als Vormacht innerhalb der EU (zumindest in Sachen Haushalts- und Finanzpolitik) oder als eine Nation, die das „Joch der Solidarität“ abgeschüttelt haben wird. Die deutsche Politik wird im allgemeinen weniger ob Deutschlands Führungsrolle kritisiert, sondern eher, weil zu oft dem Druck der südlichen EU-Staaten (speziell Frankreichs, Italiens und Spaniens) nachgegeben werde, die „Schulden zu kollektivieren“ – und man nicht bereit sei, dies den eigenen Wählern gegenüber einzugestehen. Man begreift, dass es Angela Merkel „zumindest gelungen ist, eine gemeinsame Bankenaufsicht einzuführen“. Auch was die Transferleistungen angeht, herrscht Verständnis vor, räumt man doch ein, Berlin könne nur dann eine Haushaltsunion einführen und verstärkt Transferleistungen an den Süden leisten, „wenn die Mitgliedsstaaten auch dazu bereit wären, ihre fiskale Selbstständigkeit aufzugeben“.
Vorsichtig wird auch versucht, die Folgen des Ausgangs der Bundestagswahlen 2013 vorherzusagen. Sollte Angela Merkel gewinnen, geht man davon aus, dass es beim aktuellen Kurs bleiben wird; sollte hingegen die SPD gewinnen, scheint ein Kurswechsel wahrscheinlich, und man vermutet, die Eurobonds könnten kommen und der Druck auf Griechenland und andere Staaten des Südens könnte gemindert werden, um ihnen „Raum zum Atmen“ zu verschaffen.
Resümee: „Ein europäischer Staat ohne Europäer“ – Perspektiven des tschechischen Europaskeptizismus
Während der Euro-Krise ist in Tschechien die Öffentlichkeit nicht nur dem Euro, sondern auch allgemein der EU gegenüber skeptischer geworden – und erstmals teilt die Mehrheit derartige Einstellungen. Verstärkt wird dieser Trend noch durch die europaskeptische Haltung der politischen Eliten und das zwiespältige Vorgehen der meisten Regierungsvertreter. Wie man die Weimarer Republik eine „Demokratie ohne Demokraten“ nannte, könnte man die Tschechische Republik einen „europäischen Staat ohne Europäer“ nennen. Diese Entleerung des politischen Raums könnte von grundlegender Bedeutung sein.
Im politischen Leben Tschechiens hat der Nationalismus nie Wurzeln geschlagen; nie gelang es einer nationalistischen Partei, sich dauerhaft als politische Kraft zu etablieren. Nicht einmal Populisten wie beispielsweise in Italien Beppe Grillo spielen in der Tschechischen Republik eine Rolle, und rechte wie linke populistische Gruppierungen sind marginal geblieben.
Sollte jedoch Tschechien sich erheblich an der Rettung der südeuropäischen Länder beteiligen, kann man davon ausgehen, dass die Öffentlichkeit ähnlich reagieren wird, wie in Deutschland geschehen: Sie wird nicht gewillt sein, die „verschwenderischen“ Staaten zu finanzieren, Staaten, im Gegensatz zu denen die tschechische Öffentlichkeit und teilweise auch die tschechische Politik sich zunehmend definiert.
Eine gefährliche Lage könnte sich dann ergeben, wenn die durch eine Wahlniederlage unlängst geschwächte ODS (die Regional- und Senatswahlen im Oktober 2012 haben de facto die Kommunist/innen gewonnen ) sich von ihrem Anti-Kommunismus verabschiedet, sich neu ausrichtet – und zwar gegen die EU und den Europaskeptizimus zu ihrer Ideologie und ihrem Programm macht. Käme es zu einer derartigen Entwicklung, und das zu einer Zeit, zu der die EU sowieso schon reichlich unbeliebt ist, könnte dies grundlegende Folgen für das Verhalten der tschechischen Öffentlichkeit und Politik gegenüber der EU haben – und Tschechien würde im Prozess der europäischen Integration noch weiter an den Rand rücken.
Dr. Vladimír Handl, CSc. (geb. 1957) forscht am Institut für Internationale Beziehungen in Prag und lehrt an der Abteilung für Deutschland- und Österreichstudien der Fakultät für Sozialwissenschaften an der Prager Karls-Universität. Seine Forschungsschwerpunkte sind die deutsche und tschechische Außenpolitik sowie die Transformation der Nachfolgeorganisationen der kommunistischen Parteien in Mitteleuropa.
Aus dem Englischen übersetzt von Bernd Herrmann.