Lesung und Podiumsdiskussion
19. Oktober 2009, Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin
Im Anschluss an die Veranstaltungen der Heinrich-Böll-Stiftung auf der Frankfurter Buchmesse wurde der Essayband „Wie China debattiert“ am 19. Oktober auch in Berlin im Rahmen einer Lesung mit anschließender Podiumsdiskussion der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Heinrich-Böll-Stiftung will damit einen Beitrag leisten, so Barbara Unmüßig, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung und Moderatorin an diesem Abend, in ihren Einführungsworten, die „Debatte um den bösen Staat und die guten Dissidenten“ um ein differenzierteres Bild zu erweitern. Es diskutierten Qin Hui, Wirtschaftshistoriker und Osteuropa-Experte an der renommierten Qinghua-Universität und Zhan Jiang, Professor für Medienwissenschaft an der Beijing Universität für Fremdsprachen, beide Mit-Autoren des Sammelbandes, sowie Katrin Altmeyer, Leiterin des China-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung und Karsten Giese, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am GIGA Institut für Asienstudien Hamburg.
Die Interaktion zweier Spannerraupen
Auf Barbara Unmüßigs Frage nach den Fortschritten der Reformprozesse in China, antwortet Qin Hui in Form der Metapher einer Spannerraupe. Die westlichen Vorstellungen von „rechter“ und „linker“ Politik, so Qin Hui, ließen sich nicht auf die Chinesische Wirklichkeit anwenden. In Europäischer Theorie entspricht „linke“ Politik dem Ideal von big government, d.h. einem hohen Standard an Sozialleistungen in Verbindung mit einer Einschränkung der persönlichen Freiheiten des Einzelnen. „Rechte“ Politik hingegen entspricht geläufig einer Vorstellung von weniger Sozialleistungen durch den Staat und einem eingeschränkten Machtanspruch der Regierung. Das Volk entscheidet zwischen „rechts“ und „links“. Laut Qin Hui hat das chinesische Volk jedoch keine Wahl zwischen „small“ und „big“ government. Egal, so der Autor, was das Volk wünsche, eine Entwicklung in die politisch „linke“ Richtung stehe nicht für mehr Sozialleistungen, während die „Rechte“ nicht die Macht der Behörden reguliere. Westliche Konzepte dieser beiden Politikströmungen könnten also nicht auf China angewendet werden. Der Vergleich zur Raupe liege, so der Professor, auf der Hand: Eine Raupe zieht sich zusammen oder streckt sich, aber letztendlich bewegt sie sich in eine Richtung. Mit dem chinesischen Staat verhalte es sich ähnlich. Egal, ob die Regierung eine „rechtere“ oder eine „linkere“ Politik verfolge, das Land bewege sich immer in eine Richtung: eine Reduktion des Sozialstaates und eine Vergrößerung der Macht der Regierung.
Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise
Seit der Einführung der Marktwirtschaft komme es zunehmend zur Selbstbereicherung einzelner Beamter, so Qin Hui weiter. Erwirtschaftetes Geld werde nicht an die Bevölkerung weitergegeben. Positive Entwicklungen seien derzeit weder von rechts noch von links zu erwarten. Die chinesische Regierung biete weder ausreichend soziale Leistung noch gebe sie genügend Kontrolle an die Bevölkerung. Während der Wirtschaftskrise trete dieses „doppelte Negativ“ gravierend zu Tage. Der Anteil des Konsums am BIP schrumpft zunehmend und dies führe zu einer Überproduktion, da das Land weiterhin viel produziere, aber Importnationen wie die USA ebenfalls weniger konsumieren. Den Chinesen, fasst Qin Hui zusammen, fehlten die Möglichkeiten zu konsumieren, da sie weder über die nötige Freiheit, noch über die notwendige soziale Absicherung verfügen. Der Staat müsse daher dafür sorgen, die einheimische Nachfrage zu stärken.
Karsten Giese bezweifelt, ob eine Stabilisierung des Inlandsmarktes in naher Zukunft möglich ist. Dies habe, so Giese, trotz früherer Bemühungen bisher nicht umgesetzt werden können.
Reformen des Sozialstaates
Barbara Unmüßig fragt nach, ob und inwieweit Reformen des Sozialstaates in China geplant seien. Qin Hui erläutert, dass das chinesische Konzept von Sozialstaat nicht mit europäischen oder US-amerikanischen vergleichbar sei. Beispielsweise bevorzugt das chinesische Gesundheitssystem vor allem staatliche Angestellte der Stadtbevölkerung – je höher das staatliche Amt, desto höher die Leistungen. Angestellte des privaten Sektors oder Bauern sind deutlich schlechter gestellt.
Der Sozialstaat in China stehe somit nicht für einen Ausgleich, sondern für eine Verstärkung sozialer Unterschiede. Daher seien dringend Reformen nötig, um schwächere Gesellschaftsmitglieder profitieren zu lassen. Eine Diskussion um den chinesischen Sozialstaat müsse sich daher nicht auf die Frage nach der Höhe, sondern nach den Empfängern von Leistungen konzentrieren.
Laut Karsten Giese hat die Wirtschaftskrise bisher einen weniger gravierenden Einfluss auf die soziale Stabilität Chinas als befürchtet, da in den Jahren zuvor ein Arbeitskräftemangel herrschte. Besonders die Landbevölkerung sei jedoch aus allen sozialen Sicherungssystemen ausgeschlossen. Diese Spannungen böten weiteres Konfliktpotential bei zukünftigen wirtschaftlichen Krisensituationen und müssten daher dringend gelöst werden.
Wachsende Medienvielfalt in China
Ein weiterer Themenschwerpunkt war die Rolle chinesischer Medien bei der Herstellung von Öffentlichkeit für Debatten um die weitere Entwicklung Chinas. Zhan Jiang führt aus, dass die Medien längst nicht mehr nur Propaganda-Instrumente der Regierung seien und eine größere Wirkung im Land haben, als durch westliche Medien wahrgenommen wird. Vor allem durch das Internet könne zunehmend Druck ausgeübt werden. Dies berge allerdings auch die Gefahr der Beeinflussung z.B. von Gerichten. Er führt einige Beispiele an, die belegen, wie einzelne Gerichtsurteile durch den Druck der öffentlichen Meinung, vor allem im Internet, revidiert wurden.
Anschließend geht Zhan Jiang auf die Vielfalt der Medien im heutigen China ein. Er unterscheidet hierbei drei Formen: traditionelle Medien (die Sprachrohre der KP), Metropolen-Medien (die sich durchaus kritisch äußern) und dem Internet, das wesentlich einflussreicher sei als in westlichen Ländern. 300 Millionen Chinesen partizipieren mittlerweile durch dieses Medium und viele Auseinandersetzungen werden durch investigativen Bürgerjournalismus beeinflusst. Die Risiken von Chaos und Unruhen wachsen aber gleichzeitig, wie er an verschiedenen Beispielen verdeutlichte.
Katrin Altmeyer betont die zunehmende Vielfalt des chinesischen Medienmarktes und hebt hervor, wie differenziert die Medien heute berichten können. Sie spricht jedoch auch davon, dass sich die Medien heute in einem Zustand der „doppelten Feudalisierung“ befinden: Einerseits unterliegen sie staatlichen Kontrollmechanismen und andererseits marktwirtschaftlichen Bedingungen. Dies führe zu einem immer weiter steigenden Druck auf die Medien und damit der Gefahr von Korruption, aber auch Populismus, insbesondere im Internet, welches sich ihrer Meinung nach jedoch „nicht mehr einfangen“ lässt.
Katz- und Mausspiele
Zhan Jiang weist darauf hin, dass das Medium Internet in wirtschaftlicher Hand liege. Dennoch greife der Staat verstärkt ein, da die Partei das „Gefahrenpotential“ erkannt habe. Gerade „blogging“ werde zunehmend erfolgreich in China. Falls Blogs zensiert werden, werde nicht der Autor bestraft, sondern lediglich der Blog geschlossen und zumeist unter einem anderen Namen wieder eröffnet. Dies, so Zhan Jiang, führe zu einem Katz- und Mausspiel zwischen Zensoren und Usern, wobei seiner Meinung nach letztere mehr Professionalität an den Tag legen.
Karsten Giese warnt jedoch vor einem „Loblied“ auf das Internet. Dieses weise zunehmend eine Tendenz zur Skandalisierung auf („sex and crime“). Außerdem zeichne sich Internetkommunikation durch eine starke Fragmentierung aus. Strukturelle Debatten, so Giese, werden nur in Einzelbereichen geführt und münden selten in Konsens, sondern verstärken eine Polarisierung der Gesellschaft. Er fasst zusammen, dass Medienfreiheit gewollt werden muss und dass Bürgerjournalismus über das Internet keinen Ersatz für Reformen des Rechtsstaates bieten.
Zukunftsaussichten
Anschließend folgten Fragen aus dem Publikum. Hierbei kam zunächst die Frage nach den Möglichkeiten der Entwicklung chinesischer Gewerkschaften und deren internationale Vernetzung auf. Qin Hui bestätigte, dass dies eine wichtige und heikle Frage in China sei. Er betonte, dass in dieser Hinsicht noch viele Schritte zu tun seien, um Arbeitnehmerrechte zu stärken und durchzusetzen.
Auf die Frage nach der sozialen und politischen Stabilität Chinas hebt Qin Hui hervor, dass eine sozialistisch geprägte Staatsordnung nicht notwendigerweise Stabilität garantiere. China könne sich nur stärken, indem es soziale Konflikte entschärfe. Das Schlimmste, so Qin Hui, sei eine weitere schnelle wirtschaftliche Entwicklung mit einer weiteren wirtschaftlichen Krise, die soziale Ungleichheiten aufbrechen lässt und im Chaos mündet. Dann sei es vermutlich zu spät, Reformen durchzuführen. Daher müssten diese zügig in Angriff genommen werden.
Zhan Jiang erklärt, dass er demokratische Rechte wie freie Wahlen und freie Medien noch in ferner Zukunft sieht. Für die chinesische Gesellschaft sei Demokratie eine gute Sache, allerdings nur in Reformschritten erreichbar. Der Erwerb von Freiheiten müsse erkämpft werden.
Karsten Giese betont, dass die chinesische Debatte um Demokratie kaum mit der westlichen verglichen werden könne. Seit 1989 seien „Riesenfortschritte“ in der Demokratie-Debatte gemacht worden. Es gebe eine große Vielfalt an Meinungen in China, die auch in Deutschland wahrgenommen werden sollten. Dies wird auch von Katrin Altmeyer noch einmal hervorgehoben. Die Einforderung von Rechten und sozialer Gerechtigkeit durch die chinesische Bevölkerung solle in den Mittelpunkt der Debatte rücken, statt über „Demokratie um ihrer selbst Willen“ zu diskutieren. Eine Veränderung der westlichen Perspektive und eine Vervollständigung der Berichterstattung in Deutschland zu Demokratisierungsprozessen in China seien ein Schwerpunkt der China-Arbeit der Heinrich-Böll-Stiftung.
Antje Daut für die Heinrich-Böll-Stiftung
Berlin, November 2009