Bilder und die Erinnerung zwischen 1949 und heute
Das Jahr 2009 ist zum Erinnerungsjahr ausgerufen worden. Die Ausstellung von Ernst Vollands Bildern ist der Anlass, um über den Zusammenhang von Erinnerung und Bildern nachzudenken. Bilder sind - nicht erst in der Moderne, aber durch die Fotografie auf ganz neue Weise - konstitutionell für das individuelle und das kollektive Gedächtnis. In Feudalgesellschaften waren und sind Gemälde und Gemäldesammlungen ein Mittel für die politischen Herrscher, auch die Erinnerung zu beherrschen und Gedächtnis zu formen. Für Diktaturen gilt das bis heute. Die Fotografie demokratisierte die Bedeutung der Bilder für die Erinnerung. Damit war die Frage der Herrschaft nicht gelöst. „Benütze Foto als Waffe!“ habe ich gestern in der Ausstellung von John Heartfield als Anweisung in der AIZ gesehen. Diese Kampfparole, gleichsam eine Maxime zur Gegenherrschaft der zwanziger Jahre hielt sich bis in die siebziger Jahre und Vollands Bilder, Montagen und Happenings folgten ihr. Davon hat er sich, davon zeugt die Ausstellung, weit entfernt. Auf welche Weise unscharfe Bilder dennoch auf das politische Gedächtnis wirken, will ich nun kurz behandeln.
Der Zusammenhang der Malerei mit der Zeitgeschichte ist nicht leicht herzustellen, wie die Ausstellung von Gemälden und hoher Kunst der letzten 60 Jahre im Gropiusbau demonstriert. Um diesen Zusammenhang bemühen sich die Ausstellungsmacher mit unterschiedlichem Erfolg in den Räumen und im Katalog. Viele Fragen bleiben offen, denke ich, und sind wahrscheinlich gar nicht zu beantworten. Da hat es die Fotografie einfacher, sollte man annehmen. Sie ist näher an den Ereignissen, hat den Auftrag und das Selbstverständnis zu dokumentieren und kann gar nicht anders als abzubilden, das Geschehen in Politik, Gesellschaft und Alltagsleben im Bild einzufangen und die Funktion eines kollektiven Gedächtnisses zu erfüllen. Kommt man mit dieser naheliegenden Erwartung in die Ausstellung der Heinrich-Böll-Stiftung, ist Enttäuschung nicht zu vermeiden. Um uns zu erinnern, erwarten wir Bilder, auf denen sich Bekanntes wiedererkennen lässt und möglichst eindeutige Zuordnungen von Bild und repräsentiertem Ereignis machen lassen. Wir erwarten den Aha-Effekt des deutlichen und klaren Bildes: Ja, so war das damals. Diese Erwartung wird von den unscharfen Bildern dieser Ausstellung frustriert. Ich will versuchen, zu erklären, warum diese Frustration produktiv ist und auf welche Weise die Unschärfe mit Erinnerung verknüpft ist.
Aus gegebenem Anlass wurden in den vergangenen Tagen Bilder vom Prozess gegen den Polizisten Karl-Heinz Kurras gleich nach dem Todesschuss im November 1967 in den Zeitungen wieder veröffentlicht. Auf ihnen kann, wer alt genug ist, alles wiedererkennen: das bubiartige und zugleich pfiffige Gesicht, den Gerichtsraum, die Kleidung und Körpersprache der Jahre. Wir sehen ein Bild, das wir einmal gesehen und dann im Gedächtnis gespeichert hatten, und das uns nun wieder vor Augen gestellt wird und die Erinnerung wachruft: so war das damals. Aber so ganz trifft diese Beschreibung des Wiedererkennens nicht zu. Fotos, die wir wiedererkennen, sind uns auch fremd geworden. Es gibt eine Differenz zwischen dem Bild damals und demselben Bild heute. Es stimmt nicht mit sich überein. Der zeitliche Abstand hat es verändert und hat unseren Blick verändert. Wir sehen das Bild von Karl-Heinz Kurras, das wir vor 30 Jahren einmal gesehen haben, und zugleich sehen wir ein anderes Bild, das wir bisher nicht kannten und das einen Abstand zur Erinnerung schafft.
Den Effekt des Wiedersehens, wenn auch mit einer gewissen Verfremdung, gibt es in der Ausstellung mit Bildern von Ernst Volland nicht. Ganz im Gegenteil, schon der erste Rundgang und flüchtige Blick zeigt: hier ist gar nichts wieder zu erkennen. Es ist ganz offensichtlich die Absicht der Bilder – sollten Bilder Absichten und einen Willen haben – das Erkennen zu erschweren. Die Differenz, die sich beim Betrachten der Fotos von Kurras ungewollt aber zwangsläufig ergab, wird hier offensichtlich geplant zum Bildprinzip erhoben. Es macht die Bilder unvertraut. Wir sehen Foto, bei denen wir oft kaum sagen können, was wir sehen und nie sicher sind, dass wir (er-)kennen, was wir vage ahnen. Das Fremde in diesen Bildern verbreitet Unsicherheit und löst Fragen aus, auf die ein schemenhaftes Erahnen nur unklar reagiert. Das ist für eine Ausstellung mit historischen Bildgegenständen im Erinnerungsjahr 2009 zumindest ungewöhnlich und zeugt vom Mut der Ausstellungsmacher. Sie haben etwas gewagt, und der Mut ist an sich schon lobenswert. Es gibt zu viele Routine-Ausstellungen, und da tut ein wenig Wagnis gut. Aber damit ist das Staunen nicht beruhigt und die Frage nicht beantwortet, was diese verwischten und obskuren Bilder eigentlich sollen oder wollen. Was haben aufgelöste Konturen und wolkige Formen mit dem Bedürfnis nach Erinnerung zu tun?
Unscharfe Fotos galten lange Zeit und gelten für viele Betrachter bis heute als mangelhaft. Sie werden am scharfen Bild gemessen und es fehlt ihnen etwas. Etwas ist bei ihnen daneben gegangen, eine Art Fehlgeburt. Wenn Unschärfe einen Verlust an Bildqualität bedeutet, wodurch wird dieser Verlust kompensiert? Oder ist es ein Irrtum, überhaupt von einem Mangel zu sprechen? Sollten wir verlernen, das scharfe Bild als Maßstab zu sehen? Hat die Unschärfe womöglich ihre eigene Ästhetik und ist das unscharfe Bild womöglich das Bild, das wir brauchen, wie Wittgenstein in einer Reflexion über Bilder einmal vermutet? Wie könnte diese Bildästhetik aussehen und zu welchem Zweck könnten wir die Unschärfe brauchen?
Die dokumentarische Fotografie in der Krise
Die Fotografie galt von Anfang an als das Medium der Evidenz, der Beglaubigung von Wirklichkeit durch genaue und zuverlässige Dokumentation. Die Fotografie konnte als das Urmedium des wissenschaftlichen Zeitalters verstanden werden, da sich die Realität ohne das Dazwischentreten eines Bewusstseins selbst abbildete. Als das Medium einer Epoche, die nach Objektivität strebt und konsequent auch in Bildern das Subjektive abwertet, schien die Fotografie das ideale Feld für Erinnerung, die sich den Prinzipien des Dokumentarischen angleichen sollte. Das Gedächtnis braucht Bilder, und Fotos schienen diesem Bedürfnis ideal entgegenzukommen.
Die Pressefotografie und der Dokumentarfilm haben, daran gibt es keinen Zweifel, die Welt verändert. Wir können uns nicht vorstellen, wie der Vietnamkrieg in unserer Erinnerung aussähe – und wie er zu Ende gegangen wäre – wenn es die schockierenden Fotos nicht gegeben hätte. Das lässt sich ebenso über den 11. September 2001 sagen: versuchen Sie einmal, sich vorzustellen, was das Ereignis ohne die Bilder der brennenden Twin Towers, die Sie und Hunderte von Millionen anderer Betrachter auf der Welt gesehen haben und noch immer sehen, für das Gedächtnis Einzelner, die sich für Augenzeugen halten, auch wenn sie Tausende Kilometer entfernt waren, und verschiedener Kulturen und Nationen wäre? Und was wäre der 2. Irakkrieg ohne die dokumentierenden Fotos aus Abu Graib? An der Bedeutung und tiefen Wirkung der dokumentarischen Fotografie kann es keinen Zweifel geben.
Nun wollen wir uns aber nicht naiver stellen, als wir sind. Vom Misstrauen gegenüber den Bildern ist seit langem die Rede. Es gibt wohl niemanden, der nicht von der Krise des dokumentarischen Bildes gehört hätte, und sie betrifft insbesondere die Fotos. Zweifel an der dokumentarischen Zuverlässigkeit der Fotografie gibt es seit der Erfindung der Digitalfotografie. Sie hat auch zu einer Enttäuschung geführt. Das hängt mit der besonderen Erwartung an die Fotografie, die ich gerade skizziert habe, zusammen. Diese Erwartung ist seit der Erfindung der Digitalfotografie erschüttert. Die Manipulation mit Fotos ist leicht geworden und hinterlässt keine sichtbaren Spuren im Bild. Das Vertrauen ins fotografische Bild ist verloren. Beim Betrachten eines Fotos können wir nicht mehr sicher sein, dass die Bestimmungen des Fotos durch den späten Roland Barthes zutreffen: etwas müsse zu einem vergangenen Zeitpunkt an einem räumlichen Ort anwesend gewesen sein. Diese Elementarformel gilt nicht mehr. Dem digitalen Bild muss keineswegs ein Referent entsprechen. Aber die Digitalisierung treibt lediglich auf die Spitze, was die Fototheorie und Fotokritik seit langen behauptet: Fotos sind ein modernes Mittel der Täuschung. Die fotografische Technik ist eine Verbrämung von Subjektivität und Täuschung, aber nicht das Wesen des Fotografischen. Die Digitalisierung macht den Verdacht absolut. Dem digitalen Bild kann man grundsätzlich nicht vertrauen, und so kann man keinem Foto mehr trauen.
Wie passt Unschärfe in die Krise?
In dieser Krise des Vertrauens ins Bild taucht plötzlich eine Fotografie der Unschärfe auf. Wie passt die Unzuverlässigkeit und Unsicherheit, die vom unscharfen Bild ausgehen, in die skizzierte Krise der Bilder? Die neue Unschärfe ist etwas anderes als die Unschärfe in früheren Fotos, etwa im Foto des fallenden Milizionärs im Spanischen Bürgerkrieg. Diese Unschärfe entstand unwillentlich. Capa wollte eine Bewegung festhalten, und die Apparatur war nicht geeignet, sie scharf abzubilden. Für diese unwillentliche oder rein zufällige Unschärfe gibt es zahlreiche Beispiele in der Fotogeschichte, etwa die Serie, auch von Capa, der Landung der amerikanischen Truppen in der Normandie 1945. Oder denken Sie an die Bilder vom Krematorium in Auschwitz, die Didi-Huberman vor einigen Jahren publiziert hat. Nicht ein einziges scharfes Foto. Der Effekt dieser Fotos ist bemerkenswert: ihre Unschärfe schafft den Nimbus des Authentischen. Die Umstände waren so, sagt sich der Betrachter, dass gute, also scharfe Bilder nicht zu machen waren. Daher ist diese Unschärfe ein Beleg der Echtheit. Ihr Mangel gibt Zeugnis von der Wahrheit der Abbildung und hat daher einen verstärkenden Effekt auf die Authentizitätserwartung an das dokumentierende Foto.
Von dieser Art der Unschärfe kann in der Ausstellung nicht die Rede sein. Sie ist weder ein Fehler, noch zufällig entstanden, und es geht ihr nicht um Beglaubigung. Eher geht es um das Gegenteil. Unter dem unausgesprochenen Motto: Los von der Schärfe der Abbildung oder, mit Anspielung auf Cartier-Bressons Formel: Los vom Einfangen des entscheidenden Augenblicks, ist das Ziel, das Foto aus dem Diktat des kurzen Moments zu befreien und ihm den Anspruch des Authentischen zu entziehen, eine Ent-Autorisierung der Bilder. Darin lässt sich eine Antwort auf die Krise des Authentischen im Zeitalter der Digitalisierung verstehen. Diese Unschärfe zieht die radikale Konsequenz aus der Krise und nimmt dem Foto demonstrativ den Charakter des Dokuments und öffnet es zur Imagination. Diese Unschärfe ist keine milde Ästhetisierung, sondern geradezu eine Kampfansage an das Prinzip Dokumentation als Beglaubigung von Wirklichkeit durch Fotografie. Ist der zu einem vagen Schemen transformierte springende Soldat noch der springende Soldat? Oder sehen wir in diesem Schemen etwas anderes als den Körper dieses einen, bestimmten Soldaten? Nämlich etwas Generelles wie Teilung, Mauer und Todesfurcht? Und was sieht ein Betrachter aus der früheren DDR, der diese Fotoikone des Westens nicht gesehen hat, in dem unscharfen Bild?
Außer der ethischen Frage nach Verlässlichkeit und deren Aufkündigung lässt sich an den unscharfen Fotos auch eine ästhetische Motivation vermuten, die Reaktion auf den Überdruss an der unglaublichen Fülle an scharfen Abbildern, die ununterbrochen auf uns einstürmen. Häufige Wiederholung verursacht Ekel, wusste schon Kant, selbst bei lustbetonten Handlungen wie denen der Liebe. Nicht erstaunlich also, dass unsere zweifellos libidinöse Beziehung zu Bildern durch ihre fortwährenden Ansprüche an unsere Aufmerksamkeit leidet.
In diesen beiden Zurückweisungen, der ethischen und der ästhetischen Negativität, erschöpft sich das neue und sorgfältig geplante unscharfe Bild nicht. Sonst wären diese Bilder nicht so populär. Nicht nur Ernst Volland hat die Unschärfe als Bildprinzip entdeckt: von Gerhard Richter über Barbara Ess und Jorma Puranen zu Sugimoto und Kyungwoo Chun zieht sich die Unschärfe als fotografisches Prinzip durch die gegenwärtige Bildwelt. Was macht unscharfe Fotos für Produzenten und Konsumenten reizvoll? Was haben sie anzubieten, was scharfe Bilder nicht zeigen?
Was leistet die Unschärfe für die Vorstellung?
Geplant eingesetzte Unschärfe gibt es seit dem späten 19. Jahrhundert. Sie diente traditionell einem Zweck: der Selbstverteidigung der Fotografen und der Abwehr eines verbreiteten Vorwurfs: die Fotografie sei keine Kunst, sondern bloße Technik. Zu den frühesten und bekanntesten Verurteilungen gehören Baudelaires Ausfälle gegen die Fotografie des Krimkriegs, deren seelenlosen Dokumentarismus er die Malerei gegenüberstellt. Um den künstlerischen Charakter der Fotografie zu belegen, wurden wenig später zahlreiche Techniken der Unschärfe entwickelt: Schleier vor dem Objektiv, Verwackelungen, Defokussierung, der Gummidruck und andere Techniken der Dunkelkammer und vieles andere mehr. Die Ästhetisierung des Fotos ist bis in unsere Gegenwart ein Ziel von Fotografen, die mit Unschärfe arbeiten.
Dieses Ziel teilen die Fotos von Ernst Volland nicht. Aus dieser Tradition (des Piktorialismus) sind seine Fotos nicht zu verstehen. Er gehört zu den wenigen – auch Richter gehört hierhin – die Unschärfe als Mittel zum politischen Bild einsetzen.
Ernst Volland hat in den 60er und 70er Jahren politische Kunst gemacht. Seine Bilder und Aktionen dieser Jahre richteten sich direkt auf die Politik und nahmen auch zu tagespolitischen Fragen Stellung. Im Katalog finden Sie Beispiele dieser rabiaten Politkunst, die er mit anderen teilte. Das Politische wird inzwischen anders definiert als in den 60er Jahren, und das Verhältnis der Kunst zur Politik hat sich grundlegend verändert. Volland hat diese Veränderungen wahrgenommen und sie in seine Produktion einbezogen. Die Kunst richtet sich nicht mehr direkt auf das Zentrum des Politischen, sondern fragt nach seinen Konstitutionsbedingungen, nähert sich von den Rändern und entwickelt Strategien des Indirekten, Skeptischen und Fragenden im Umgang mit dem politischen Inhalt. Diesen Veränderungen trägt die Unschärfe, wie Volland sie als bildliches Mittel einsetzt, Rechnung.
Vier Wirkungsweisen sollen im Folgenden skizziert werden:
1.) Herrschaft
„Der Grundvorgang der Neuzeit ist die Eroberung der Welt als Bild.“ Dieser apodiktische Satz Heideggers ist einzuschränken. Aber seine Grundvorstellung: das objektivierende wissenschaftliche Bild (das es erst in der Neuzeit gibt) sei ein Mittel zur Herrschaft, ist nicht zu bezweifeln. Unschärfe gibt den Herrschaftsanspruch auf. Ihre Unsicherheit und Vagheit macht weder die Welt zu einer Summe von Objekten noch den Menschen zu einem Herrscher über sie. Sie hüllt vielmehr beide in eine Wolke aus Möglichkeiten ein, die auch den Bildern ihr Eigenleben lässt und ihnen ein Begehren zugesteht.
2.) Raum für das Imaginäre
Unschärfe öffnet im Bild einen Raum des Unbestimmten, in dem sich die Freiheit der Einbildungskraft entfalten kann. L’imagination au pouvoir! – war ein Schlagwort der politischen Opposition der sechziger Jahre. Auf seine Weise nimmt das unscharfe Bild diese Forderung auf.
3.) Einbeziehung des Betrachters durch das Affektive am Bild
Unscharfe Bilder stellen Anforderungen an die Betrachter. Wenn wir Bildern einen Wunsch, ein Wollen zuschreiben, und ich denke das ist berechtigt, so ist das unscharfe Bild der Archetyp des verlangenden Bilds. Es fordert Wissen und Assoziationen. Ohne die aktive Beteiligung des Betrachters am Herstellen des Bilds im Kopf bleibt das unscharfe Bild stumm, ohne eine kreative Erinnerung an Bekanntes stellen sich keine Assoziationen ein. Mitchells Frage: “What do pictures want?” klingt bizarr, wie eine postmodernistische Provokation durch Verkehrung des Plausiblen: eine Subjektivierung von Bildern, die ja doch Dinge sind. Aber in diesem Programm steckt eine ernsthafte Herausforderung der Bildtheorie, und das unscharfe Bild stellt besondere auf besondere Weise eine Herausforderung an die affektive Beteiligung des Betrachters dar.
Diese Bilder brauchen die Kommunikation: über sie kann und muss man sprechen.
4.) Unschärfe als Öffnung des Bilds zum Generellen
Fotos können nicht generalisieren, hat Roland Barthes ihnen vorgeworfen. Sie seien dumm. Aber das hat er ohne die Kenntnis von Unschärfe gesagt. Sie ist ein Mittel der Generalisierung im Bild. Sie löst den Blick vom Konkreten und fordert auf, das Allgemeine zu sehen. Ist das unscharfe Gesicht der Anne Frank noch ein Portrait, also die Abbildung einer bestimmten Peron oder überführen die aufgelösten Konturen das Bild in die Vorstellung von etwas Generellem, das wir mit dem Gedanken des Opfers des Vernichtungsprogramms verbinden?
Aus individueller Erinnerung kann kein kollektives Gedächtnis werden, argumentiert Reinhard Koselleck. Die individuelle Erinnerung ist, wie ein Foto, an das Konkrete des Ereignisses gebunden. Diese Bindung löst die Unschärfe auf. Das unscharfe Foto überschreitet den subjektiven Blick und relativiert den einen Blick durch die Möglichkeiten anderer Blicke.
Uneindeutigkeit von Wirklichkeit
Vagheit ist polyvalent. Aus dem Obskuren kann das Verstörende ebenso wie das Befreiende entstehen. Es ist unheimlich im Sinn Freuds: fremd und zugleich angsterregend vertraut. Diese Gleichzeitigkeit kann beflügeln aber auch quälen. Die Schemen auf dem Bild können zu einer heiteren Leichtigkeit führen, aber ebenso zu einem vorgestellten Raum des Schreckens, zu einem Gefängnis bedrohlicher Phantasien werden. Das unscharfe Bild ist so offen für die Einbildungskraft, dass beides sich in ihm sehen lässt. Darin liegen die Größe und die Gefahr dieser Fotografie, die auch der negativen Erinnerung einen Bildraum eröffnet.
Gegenwart und Zukunft der politischen Kunst?
Wenn wir, wie ich eingangs argumentierte, Zeugen einer Krise des Bildes sind, so könnte im Prinzip Unschärfe eine Antwort liegen. Die unscharfen Bilder der Gegenwart erinnern nur entfernt an die frühen Zeiten der Fotografie. Ihre Techniken und ihre Ästhetik sind im Zusammenhang einer hoch entwickelten Fotografie der Digitalisierung entstanden. Nur aus der Opposition zu diesen Fotos lassen sie sich verstehen, nicht als Rückfall in ein Bildideal der vor-fotografischen Zeit. Wenn die Gegenwart von einer Krise der dokumentierenden Bilder bestimmt wird – könnte der Geist des Verwackelns in die Zukunft des Bilds weisen?
Die Ausstellung von unscharfen Bildern Ernst Vollands versucht eine Antwort. Die Zeit der politischen Kunst, die im revolutionären 19. Jahrhundert begann, scheint endgültig beendet zu sein. In der Zeit einer Finanz- und ökonomischen Krise ohne Vorbild hat die politische Kunst kein Comeback erfahren. Das ist, wenn ich eine Prognose wagen darf, auch nicht zu erwarten. Das Pathos des Widerstands und die Heroik des Aufbruchs in das Neue sind verflogen. Selbst John Heartfield ist museal geworden. Schön gerahmt im feinen Museum zeigen uns seine Kollagen, wie kämpferisch die Politkunst einmal war. Ein Kapitel in der Kunstgeschichte. Ob aus dem Geist der Unschärfe sich neue Bilder entwickeln lassen, die nach dem Ende des Wissenschafts- und Dokumentarbilds dem Bild eine Zukunft bereiten?