Berlin im Covid-19-Modus: Lockdown

Kolumne

Clementine Burnley fährt seit dem Lockdown nicht mehr mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Sie ist nur noch fußläufig in ihrem Berliner Kiez unterwegs.

Planet Berlin - Clementine Ewokolo Burnley

Im Winter verschwindet Fahrrad Nummer drei draußen vor unserer Wohnung. Also muss ich von da an mit der U8 bis zum Kotti fahren, um dem hübschen Weg entlang der Reichenberger Straße bis zu der Stelle zu folgen, wo die Spree auf den Landwehrkanal trifft. Von der dortigen Brücke aus wandern zahlreiche Lichtpunkte auf dem Wasser.

Seit dem Lockdown fahre ich nicht mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Meine Lieblingsorte in Berlin sind jetzt diejenigen, die ich zu Fuß erreichen kann, und im Schritttempo wird mir alles vertraut.

Leben in Friedenau

Friedenau kommt auf mehrere berühmte tote weiße Schriftsteller. In einem mit prächtigem Stuck verzierten Haus am Breslauer Platz tippte Erich Kästners Sekretärin all seine Bücher. Günter Grass’ Villa aus rotem Backstein liegt in einer Seitenstraße der Bundesallee. Friedenau ist keine angesagte Gegend, was angenehm ist. Wir ziehen einmal um, ganze fünfhundert Meter weiter. Wir bleiben in der Nähe des Gymnasiums, wo Schüler*innen lautstark die Bürgersteige beleben. Wir bleiben in der Nähe des Spielplatzes mit der Holzeisenbahn. Das Gebäude gegenüber dem Spielplatz wurde in den achtziger Jahren besetzt und gehört heute der Bewohnergenossenschaft. Im Erdgeschoss gibt es einen Kindergarten und ein gut besuchtes griechisches Restaurant, wo wilder Wein die Terrasse umrankt. Vor einem Fenster des Kindergartens ist eine Rutsche angebracht, und an gewöhnlichen Tagen kreischen hier Kinder, wenn sie im Sand unter der großen Kastanie landen. Auf dem Weg zu ihrem viel kleineren Kinderladen wurde meine Tochter jedes Mal langsamer und zeigte darauf. „Lustig!“, sagte sie immer. Während des Lockdowns sind im Kindergarten keine Kinder, auf die sie zeigen könnte. Die Gymnasiast*innen sind weg. An einem sonnigen Tag Anfang März bleibe ich im Volkspark am Rathaus Schöneberg stehen, um einer Tai-Chi-Gruppe zuzusehen. In der Nähe des Brunnens spielen ein paar ältere Männer Boule. Die Weidenbäume spiegeln sich im künstlich angelegten See. Im Vergleich zu anderen Städten ist Berlin so grün. Ich liebe die Natur, und ich lebe in einer Stadt, weil auch ich eine Fremde bin, die aus einem kleinen Dorf fortgelaufen ist.

Die Geburtsurkunden der Kinder sind bei jedem Ausgang wichtig

Wenn ich das Haus verlasse, muss ich eine Geburtsurkunde mitnehmen, um beweisen zu können, dass die Mädchen, die ich großziehe, meine Töchter sind. Vergesse ich sie, gerate ich in Panik. Wir haben unterschiedliche Nachnamen, daher gehören wir in den Augen der Justiz nicht zusammen. Während der Pandemie müssen in Berlin manche Frauen mit ihren Kindern in Polizeiwagen oder auf dem Revier warten, bis ihre verwandtschaftliche Beziehung geklärt ist.

Die meisten meiner guten Bekannten bleiben zu Hause und sind in den sozialen Medien unterwegs. Ich hoffe, es geht ihnen gut. Schon aus Gewohnheit verlasse ich das Haus nicht oft. Theoretisch bin ich gern für mich. In Wirklichkeit fühle ich mich isoliert. Ich stelle mir vor, wie es sein wird, wenn es vorbei ist: die One World Poetry Night in der Oranienstraße, Open Mike im Fiction Canteen, eine Suppe mit zerstoßener Yamswurzel und Okro im Ebe Ano in Wilmersdorf und erholsamer Schlaf.

Kleine vertraute Läden

Die Rheinstraße verläuft in ost-westlicher Richtung zwischen dem Akazien-Kiez und Rathaus Steglitz. In den letzten zehn Jahren ist mir die exzentrische Mischung aus Siebziger-Jahre-Cafés, Kunstläden, pan-asiatischen und pan-afrikanischen Lebensmittelgeschäften, Gebrauchtmöbelhändlern, Kampfsportvereinen, Geschäften, in denen lose in Papiertüten abgepackte Heilkräuter, Rock ’n’ Roll-Schallplatten oder gusseiserne Modellbahnen verkauft werden, Nagel- und Massage-Studios, Teppichläden und Shisha-Bars ans Herz gewachsen. Nach zehn Jahren kenne ich ein paar Gesichter: die Frau hinter dem Tresen in der Apotheke, den Kellner im spanischen Restaurant, eine der Damen an der Kasse im Nah und Gut, eine Migrantin, der ein winziger Laden mit wenigen, ausgesuchten Dingen gehört, und den Inhaber der Buchhandlung Zauberberg, ein älterer Herr. Wir sitzen nicht mehr gemeinsam draußen vor dem italienischen Feinkostladen, wo es den guten Kaffee gibt. Alle Läden sind jetzt verriegelt. Zwar vermisse ich weder die auf Busspuren parkenden Autos noch das Kribbeln der verdreckten Luft in meinem Hals, doch hoffe ich, dass selbst die merkwürdigen kleinen, scheinbar nie geöffneten Secondhand-Geschäfte den Lockdown überleben.   

Meine Nachbar*innen und ich bleiben hinter verschlossenen Türen oder gehen schnell aneinander vorbei. Öffne ich die Haustür, greife ich mit dem Ärmel nach der Klinke. Zweimal am Tag gehe ich zu Edeka und treibe wie ein Gespenst neben anderen Gespenstern her. Ein, zwei Wochen lang gibt es kein Mehl und nur vier Päckchen Lasagneblätter. Der Mann hinter der Fleischtheke reicht mir drei Paar Wiener Würstchen, wendet sich von mir ab und flüstert dabei seinem Kollegen zu: „Das ist nicht mehr normal.“ Eines Tages flattert mir ein Werbezettel für erntefrische Waren aus dem Berliner Umland in die Wohnung. Zu sehen ist ein grünes Feld, steriles Plastik auf der Erde. Die Reihen verlaufen in schnurgeraden Linien bis zum Horizont. Das Blatt zeigt sogar mehrere blasse, penisförmige Spargelspieße. Ein Saisonarbeiter ist zu sehen, aber ich weiß, dass 70.000 Menschen für die Ernte unserer Lebensmittel eingeflogen wurden, während wir zu unserem Schutz zuhause bleiben.

„Wir sind im selben Sturm, aber nicht im selben Boot.“

In einem Post in den sozialen Medien heißt es: „Wir sind im selben Sturm, aber nicht im selben Boot.“ Das fühlt sich für mich richtig an. Ich mache mir zwar Sorgen, aber mein Boot ist eine große, komfortable Wohnung mit WLAN. Ich muss nicht in irgendwelchen überfüllten Räumen arbeiten. Laut dem britischen Amt für Statistik sterben Menschen in den ärmsten Bezirken des Landes doppelt so häufig an der Krankheit wie Menschen in den reichsten Bezirken. In allen Ländern, die race-bezogene Daten erheben und für die Gesundheitsstatistiken analysieren, ist ersichtlich, dass Schwarze häufiger an Covid-19 sterben. Deutschland erhebt keine Daten dieser Art, weil „wir alle gleich sind“.

Während des Lockdowns stirbt meine Mutter. Danach liege ich manchmal morgens um drei Uhr wach und frage mich: Was, wenn es zu einem bewaffneten Machtwechsel kommt? Was, wenn die Pandemie, gefolgt von einer Rezession genau das ist, worauf Björn Höcke und der AfD-Flügel gewartet haben? Was machen wir, wenn die Polizei eines Nachts die Wohnungstür eintritt? Gegen Morgen verziehen sich diese Gedanken wie Nebel. Frau Merkel ist jetzt wieder beliebt. Eine Politikerin, die ich nie als intersektionale feministische Ikone angesehen habe, ist die einzige Regierungschefin in Europa, die bereit ist, eine grundsätzlich antifaschistische Haltung einzunehmen.

Ich möchte nach Hause. Vorerst ist Zuhause geschlossen. Sobald sich die Passagierbrücken öffnen, werde ich hinfliegen. Ich werde im dunklen Flur vor der Schlafzimmertür meiner Mutter warten, während die Neonröhre summend und knackend zum Leben erwacht. Ich werde den Türgriff drehen und nach etwas suchen, das mich an sie erinnert. Vorerst sitze ich manchmal im Schatten eines Ahornbaums. Vorerst laufe ich durch das Viertel.

Clementine Ewokolo Burnley ist gebürtigen Kamerunerin, Mutter, Autor*in, Aktivist*in und Medienwissenschaftler*in. Ihre mehrfach ausgezeichneten Kurzgeschichten, Essays und Gedichte setzen sich unter anderem mit Machtstrukturen auf verschiedenen Ebenen auseinander. Sie wurde für den Bristol Short Story Prize 2017, und Amsterdam Open Book Prize 2020, nominiert.

 


Über die Kolumne:

Berlin ist eine Arche. Menschen aus den verschiedensten Ländern sind in die Stadt gekommen, auf der Flucht vor unerträglichen Verhältnissen, homophoben Kleinstädten, Krieg und politischer Verfolgung oder weil sie hier einfach nur leben oder studieren wollen bzw. Arbeit gefunden haben. Berliner:innen sind so vielfältig wie ihre Herkünfte. So entstanden und entstehen in der Stadt die verschiedensten Communitys, manche abgeschottet, andere offen. Durch die Coronakrise kommt uns derzeit das laute, Tag und Nacht lebendige Berlin wie ein Ort aus ferner Zeit vor.

In der Kolumne, die in den nächsten Wochen immer donnerstags hier veröffentlicht wird, erzählen Frauen über ihr Berlin und wie sich ihr Verhältnis während des Lockdowns und der Zeit danach zur Stadt und speziell zu ihren Lieblingsorten verändert. Die Schriftstellerin Annett Gröschner kuratiert gemeinsam mit Annette Maennel die Reihe.