Türkei: Durchsuchungen, Einschüchterung und Beschlagnahmungen wegen Ergenekon-Buch

Türkei. Karte: The Emirr Lizenz: Creative Commons Quelle: Wikimedia Commons

28. März 2011
Ulrike Duffner
Von Ulrike Dufner, Leiterin des Türkeibüros der Heinrich-Böll-Stiftung

Am Donnerstag, den 24. März, setzte die türkische Justiz im Fall des verhafteten Journalisten Ahmet Sik noch einen drauf: die Ehefrau von Sik, seine Anwälte und einige Freunde, bei denen eine Kopie des Besuches vermutet wurde, wurden von der Polizei aufgesucht. Ahmet Sik ist einer der preisgekrönten Journalisten, die durch ihre Berichterstattung über Putschpläne des Militärs überhaupt erst dazu beigetragen haben, dass das Ergenekon-Verfahren eingeleitet wurde.


Hausduchsuchungen, Einschüchterung, Beschlagnahme

Durchsucht wurde auch die Tageszeitung „Radikal“, da dort Ertugrul Mavioglu beschäftigt ist. Dieser hatte mit Ahmet Sik zusammen das zweibändige Werk zu Ergenekon herausgegeben und öffentlich bekundet, über eine Kopie des Buches zu verfügen. Per richterlichem Beschluss wurden sie aufgefordert, jegliche noch vorhandene Kopie des Buches von Ahmet Sik zu übergeben. Wer sich weigere, mache sich der Unterstützung einer terroristischen Organisation strafbar.

Ebenso wurde der Verlag Ithaki gleich zweimal von der Polizei aufgesucht. Eine dort befindliche Kopie des Buches wurde beschlagnahmt. Beim zweiten Besuch wurde sogar die Festplatte des Verlages, auf der sich weitere Bücher befinden, mitgenommen. Außerdem wurde nun auch noch die gemeinsam mit Nedim Sener und D. Yurdakul geteilte Gefängniszelle von Ahmet Sik durchsucht. Auch diese mussten unterschreiben, jegliche Kopien oder Bruchstücke, Entwürfe etc. des Buches zu übergeben. Ansonsten machen sie sich der Unterstützung einer terroristischen Organisation strafbar.


Sicherheitskräfte: Buch über Ergenekon sei Propaganda für das Geheimnetzwerk

Offizielle Begründung der ganzen Aktion: Ein von Sicherheitskräften vorbereiteter 49-seitiger Bericht, den weder Anwälte noch Angeklagte kennen, belege angeblich, dass das Buch Propaganda für Ergenekon betreibe. Zudem seien die bei der Verhaftung von Ahmet Sik beschlagnahmten Kopien um rund 100 Seiten länger als diejenige, die sich auf dem Computer von Soner Yalcin bei dessen Verhaftung befunden habe.

Der Tageszeitung Zaman scheint sowohl diese 49-seitige Schrift als auch eine Kopie des Buches vorzuliegen. Jedenfalls zitiert die Zeitung in ihrer Ausgabe vom 26. März 2011 aus dem Buch. Ob es sich dabei um die Kopie handelt, welche die Sicherheitskräfte bei der Verhaftung von Yalcin beschlagnahmt haben oder bei der Verhaftung von Sik, ist unklar. Vielleicht sind die Zitate ja auch keine Zitate. Dies wird erst feststellbar sein, wenn das Buch veröffentlicht wird.

Auch Ahmet Sik und seine Anwälte haben erst dann wieder eine Chance, die in den Medien verbreiteten Gerüchte und Behauptungen richtigzustellen bzw. sich vor Gericht zu verteidigen, wenn das Buch veröffentlicht wird. Ihnen wurden die Exemplare des Buches aus den Händen gerissen. Solange dieses Buch nicht zum Druck frei gegeben wird, kann jeder behaupten, was er will - es wird kaum mehr möglich, das Gegenteil zu beweisen.


Solidarität und Sorge

Zahlreiche Tageszeitungen wie Milliyet, Radikal, Taraf, Verleger, Journalisten und Intellektuelle sind über dieses Vorgehen der Justiz entsetzt. Selbst der Parlamentspräsident Bülent Arinc bringt seine Sorge zum Ausdruck. Ministerpräsident Erdogan hingegen beteuert weiter die Unabhängigkeit der Justiz, die aufgrund von neuen Erkenntnissen aktiv werden müsste. Die Zeitung Zaman hingegen ist stark bemüht, der Anklage unter die Arme zu greifen.

Aktionen des zivilen Ungehorsams werden nun überlegt. Schon gibt es die ersten Unterschriften von Intellektuellen, Journalisten und Menschenrechtlern, die in einem kurz und knapp gehaltenen Appell „Ich habe das Buch“ sich der Unterstützung der terroristischen Organisation schuldig machen, wenn sie dieses Buch nicht der Polizei übergeben.

In seiner Stellungnahme zu den Beschlagnahmungen ruft Ministerpräsident Erdogan die Bürger/innen des Landes dazu auf, sich die Frage zu stellen: Was geht nur vor in diesem Land?

Die Antwort von Erdogan dürfte sicher anders ausfallen als die von vielen Intellektuellen in der Türkei und im Ausland.

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