"Mein Sechs-Tage-Krieg"

Lesedauer: 8 Minuten

19. März 2008
Ralf Fücks, Vorstand Heinrich-Böll-Stiftung

*Vortrag auf der Konferenz „Das Israelbild in Deutschland – der 6-Tage-Krieg als Wendepunkt?“, veranstaltet von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem Zentralrat der Juden in Deutschland am 19. Juni 2007 in Berlin

Die Macht der Vergangenheit über die Gegenwart - Eine Annäherung an den israelisch-arabischen Krieg von 1967 und seine Folgen

Meine Erinnerungen an den israelisch-arabischen Krieg von 1967 sind begrenzt, was die Fakten betrifft – die musste ich nacharbeiten. Umso intensiver ist die emotionale Erinnerung an diesen kurzen, aber dramatischen Waffengang. Offenbar handelte es sich nicht um ein Ereignis unter vielen im Leben eines Heranwachsenden, sondern um eine prägende Erfahrung.

Ich war noch 15, als der Krieg begann. Ich lebte in der pfälzischen Provinz, und mein politisches Interesse war gerade erwacht. Um zu verstehen, welchen Eindruck dieser Krieg auf  mich machte, muss man den politisch-persönlichen Boden ins Gedächtnis rufen, auf den er fiel:

Da war erstens die beginnende Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Shoa; eine Entdeckungsreise durch eine Vergangenheit, die mir noch nicht vergangen schien – ich begegnete ihr in der Generation meiner Eltern, obwohl oder gerade weil darüber nicht geredet wurde. 1967 hatte die öffentliche Auseinandersetzung mit der Nazizeit ja gerade erst begonnen. Umso mächtiger wirkten die Bilder und Berichte über die Deportation und Vernichtung der Judenheit auf mich.

Die zweite Erfahrung, die mich aufrüttelte, waren die Anfänge der Studentenrevolte, die zunächst vor allem vom Protest gegen eine Gesellschaft getrieben wurde, die in unseren Augen noch heftig mit faschistoiden Mentalitäten und Ideologien infiziert war.

Vor diesem Hintergrund wird klar, wie stark meine Wahrnehmung des 6-Tage-Krieges geprägt wurde von einem Mix an Schuldgefühlen und Empathie gegenüber dem jüdischen Staat. Ich wusste so gut wie nichts über die Vorgeschichte des Krieges und die komplexe politische Situation des Nahen Ostens, aber meine Parteinahme, mehr noch: meine Identifikation mit Israel war von Anfang an klar. Gespeist wurde sie vor allem durch einen starken emotionalen Impetus: Das jüdische Volk sollte nie wieder bedroht und attackiert werden. Es war die Identifikation mit den Opfern des Nationalsozialismus, die sich erneut einer existentiellen Gefahr gegenüber sahen – soviel hatte ich jedenfalls aus Nassers aggressiven Tiraden gegen Israel herausgehört.

Bei meiner erneuten Beschäftigung mit dem 6-Tage-Krieg stieß ich auf ein Dokument, das unmittelbar die Gefühlswelt von damals in mir wachrief: die Reportage des israelischen Rundfunks über den Vorstoß israelischer Truppen zur Klagemauer am Fuß des Tempelbergs. Wenn ich mich nicht sehr täusche, habe ich damals Ausschnitte dieser Reportage im Radio gehört, und ich bilde mir ein, dass ich immer noch den aufgeregten Klang der Schofar und das Singen der Soldaten im Ohr habe, als sie die Klagemauer erblickten. Ich empfand und empfinde das bis heute als Rückkehr des jüdischen Volkes zum Ausgangspunkt seiner Geschichte.

Fast überflüssig, an eine andere tief in unserer Kultur verwurzelte Metapher zu erinnern, die 1967 mein Bild des israelisch-arabischen Krieges bestimmte: den Triumph Davids über Goliath – und damals steckte in diesem Bild ja mehr als nur ein Körnchen Wahrheit. Das winzige Israel gegen eine Übermacht von Feinden; ein Kampf, der nur mit einer Mischung aus Klugheit und Kühnheit gewonnen werden kann. Pazifist war ich schon damals nicht; für mich gab es keinen Zweifel, dass Israel einen gerechten Krieg führte, um seine bloße Existenz zu verteidigen. Das war, soweit ich erinnere, trotz der offiziellen Neutralität der Bundesrepublik in diesem Konflikt die vorherrschende Einstellung in der deutschen Öffentlichkeit, nicht nur in der Springer-Presse, die sich vehement auf Israels Seite schlug. Allerdings war diese pro-israelische Haltung mancher Medien mit zwielichtigen Motiven getränkt: Wenn etwa der SPIEGEL mit der Titelzeile „Blitzkrieg“ aufmachte oder Parallelen zu Feldmarschall Rommel gezogen wurden, schimmerte in der Anerkennung israelischer Militärkunst etwas ganz anderes durch. Bei vielen linken Studenten hatte die Parteinahme der Springer-Presse für Israel gerade den umgekehrten Effekt: Wenn BILD sich auf die Seite Israels schlug, war das erst recht ein Grund, dagegen zu sein.

Bei mir überwog damals jenes Gefühl einer elementaren Solidarität mit Israel, das sich trotz alledem bis heute gehalten hat: trotz aller Ernüchterung über Israels Besatzungspolitik, über die weit verbreitete Ignoranz gegenüber dem Schicksal der Palästinenser und trotz aller Kritik an der Verwechslung militärischer Überlegenheit mit Sicherheit. Es überlebte sogar meine kommunistischen Jahre in den 70ern. Das war nicht gerade selbstverständlich in einer Zeit, in der sich die radikale Linke dem „Anti-Imperialismus“ verschrieb. In diesem ideologischen Kontext wurde Israel zum Vorposten des US-Imperialismus (dem „Hauptfeind der Menschheit“) im Nahen Osten. Wenn aber Israel in der anti-imperialistischen Perspektive zu einem neokolonialen Projekt mutierte, zu einer militärischen und politischen Basis für die Vorherrschaft der USA über die arabische Welt, wurde damit auch die politisch-moralische Legitimation des jüdischen Staates von Grund auf in Frage gestellt. An die Stelle der Solidarität mit Israel als einem progressiven und demokratischen Staat trat die Solidarität mit den radikalen „Befreiungsbewegungen“ der Palästinenser, die den „zionistischen Staat“ attackierten. Wenn es überhaupt eine Legitimität für eine jüdische Präsenz im Nahen Osten gab, dann allenfalls im Rahmen eines bi-nationalen Staates Palästina. Soweit ich es rekonstruieren kann, überlebte meine Sympathie für Israel diese Periode wie meine Mitgliedschaft in der Kirche: als ein mehr oder weniger verborgenes Relikt meines früheren Lebens. Ich hatte meine kleinbürgerliche Vergangenheit eben doch nicht gründlich überwunden.

Im Rückspiegel besehen wurde 1967 zum Wendepunkt im Verhältnis der Linken zu Israel. Die Haltung, dass der jüdische Staat „zu uns“ gehörte, ging weitgehend verloren. „Uns“ hat hier verschiedene, sich überlagernde Bedeutungen:

  • Israel ist Teil der europäischen Geschichte und Kultur, die von den europäischen Juden mit ins „gelobte Land“ genommen wurde, sei es als zionistische Pioniere oder als Flüchtlinge
  • Gleichzeitig repräsentiert Israel bis auf den heutigen Tag etwas von dem, was „wir“, die Deutschen, verloren haben, als unsere Eltern und Großeltern Hitler auf dem Weg der Ausrottung der Juden folgten
  • Und schließlich gehört Israel zu „uns“ auch hinsichtlich der politischen Werte, die es trotz aller Schattenseiten verkörpert: Israel ist eine lebendige und streitbare Demokratie mit allem, was dazugehört, und darin unterscheidet es sich fundamental von seinen Nachbarstaaten

Selbstverständlich ist damit die komplexe, widersprüchliche Realität Israels nicht hinreichend beschrieben. Es könnte sein, dass ich Israel öfter sehe, wie ich es mir wünsche, statt wie es tatsächlich ist. Aber es ist just aufgrund meines Respekts vor Israel als einer Demokratie, die sich seit ihrer Gründung bewaffneten Angriffen gegenübersah, dass ich heute mit gemischten Gefühlen auf den 6-Tage-Krieg zurückblicke. Es ist in den letzten Wochen schon vieles zum ambivalenten Charakter dieses Sieges gesagt worden. Tatsächlich trug der überwältigende Sieg der israelischen Streitkräfte den Keim der Selbstgefährdung in sich: nicht nur wegen des andauernden Besatzungsregimes in der Westbank und auf dem Golan, sondern noch mehr aufgrund der militärischen Selbstgewissheit, die aus diesem Sieg herrührte. Um es mit einem der Sieger von damals, Oberst Bar-On, zu sagen: Der militärische Triumph von 1967 verführte Israel dazu, sich bis heute zu sehr auf seine militärische Macht zu verlassen. Spätestens der letzte Libanon-Krieg hat aber gezeigt, dass diese militärische Macht brüchig geworden ist – und dass sie auf Dauer Israels Sicherheit nicht garantieren kann. Shimon Peres, der jetzt am Abend seiner langen Laufbahn noch zum Präsidenten gewählt wurde, brachte die Erfahrungen mit der Okkupation auf die Formel: „Als wir die Westbank eroberten, eroberte sie uns.“ – Jawohl, das Besatzungsregime korrumpiert Israel politisch und moralisch; die fortwährende Herrschaft über die Palästinenser in der Westbank unterspült sowohl seinen Charakter als Demokratie wie als jüdischer Staat. Es ist deshalb im Interesse der Selbstverteidigung Israels, die Besatzung so schnell und so weitgehend wie möglich zu beenden. Weil die „Methode Scharon“, der einseitige Rückzug aus dem Gaza-Streifen (wie aus dem Südlibanon) nicht zu mehr Sicherheit für Israel geführt hat, bleibt kein anderer Weg als der von Verhandlungen über einen Kompromissfrieden. Es könnte sein, dass die neue Regierung, die von Präsident Abbas nach dem gewaltsamen Zusammenstoß mit der Hamas gebildet wurde, auf längere Zeit die letzte Chance ist, doch noch ein Gegenüber für einen Verhandlungsfrieden zu finden.

Ich fürchte, 40 Jahre und fünf oder sechs Kriege nach dem historischen Sieg von 1967 (die beiden palästinensischen Aufstände der letzten Jahre eingeschlossen), arbeitet die Zeit nicht für Israel. Wer einigermaßen regelmäßig Israel besucht, spürt die wachsenden Selbstzweifel hinter der Fassade wirtschaftlicher und militärischer Stärke. Es beunruhigt, wenn israelische Gesprächspartner laut darüber nachdenken, ob es noch eine Zukunft für sie und ihre Kinder im Nahen Osten gibt. Dabei spielt die Radikalisierung des Islam eine Rolle, die iranische Atombombe, die anschwellenden anti-israelischen Stimmungen rund um den Globus. Vielleicht ist angesichts dieses schleichenden Fatalismus die Erinnerung an 1967 für eines gut: Die Erfahrung des 6-Tage-Kriegs lehrt, dass es möglich ist, eine tödliche Gefahr durch kühne Entscheidungen und Manöver abzuwenden. Man muss diese Lektion nur vom Schlachtfeld auf das Feld der Politik übertragen. Europa sollte alles in seiner Macht stehende tun, um Israelis wie Araber dabei zu unterstützen, den Frieden zu wagen.

Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Er publiziert in großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen, in internationalen politischen Zeitschriften sowie im Internet zum Themenkreis Ökologie-Ökonomie, Politische Strategie, Europa und Internationale Politik.

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