Zur Kontroverse um Grundsicherung und Grundeinkommen
Von Ralf FücksEine alte Idee erlebt ihre Wiedergeburt: das (bedingungslose) Grundeinkommen. Zwar sind seine Varianten zahlreich und unterscheiden sich in wesentlichen Merkmalen, aber die Grundbotschaft ist ihnen gemeinsam. Es geht um ein Bürgerrecht auf das soziokulturelle Minimum, das (fast) allen Mitgliedern der Gesellschaft ohne weitere Prüfungen und Auflagen zustehen soll. Die Begründungen dafür sind mannigfaltig. Für die einen öffnet das Grundeinkommen das Tor zum Reich der Freiheit, in dem das gute Leben nicht mehr an den Zwang gebunden ist, einer entfremdeten Arbeit nachzugehen. Für Andere steht eher die Anpassung des sozialen Sicherungssystems an die neue Realität unterbrochener Erwerbsbiographien im Vordergrund. Wirtschaftsliberale Befürworter des Grundeinkommens heben hervor, dass damit das weitverzweigte und kostenträchtige System der Sozialbürokratie weitgehend überflüssig werde. Nicht zuletzt geht das Grundeinkommen auch mit dem Versprechen einher, dass damit entwürdigende Bedarfsprüfungen und Sozialkontrollen außer Kurs gesetzt werden. Wer wollte einem solchen Mix guter Gründe widerstehen? Tatsächlich findet die Idee des Grundeinkommens auch Anhänger in allen politischen Lagern und sozialen Milieus, von Arbeitslosen¬initiativen bis zu idealistischen Unternehmern. Am stärksten aber ist seine Resonanz im Umkreis der Grünen.
Dafür gibt es ideelle Gründe: das Grundeinkommen entspricht grünen Grund¬vorstellungen von Mündigkeit, Selbstbestimmung und Verteilungsgerechtigkeit. Es gibt allerdings auch soziale Gründe, weshalb diese Idee gerade im grünen Einzugsgebiet so populär ist: Was wie ein Passepartout aussieht (ein Modell, das für alle Bürgerinnen und Bürger passt), passt vor allem für Lebenslagen und Bedürfnisse des wachsenden akademischen Prekariats, also für all die Sozialwissenschaftler, Journalistinnen, Künstler, Kulturwissenschaftlerinnen, die sich von Projekt zu Projekt, von Honorarvertrag zu Honorarvertrag hangeln. Für sie wäre ein bedingungsloses Grundeinkommen, aus dem das Lebensnotwendige bestritten werden kann, die perfekte materielle Absicherung ihres Lebensstils. Auch deshalb ist die Idee des Grundeinkommens gerade im grünen Spektrum so attraktiv.
Dazu kommen hartnäckige Missverständnisse im Hinblick auf die immer noch hohe Arbeitslosigkeit in einigen (nicht allen) westeuropäischen Ländern. Aus ihr wird geschlossen, dass der Arbeitsgesellschaft aufgrund des Produktivitäts¬fortschritts und einer vermeintlichen Sättigung der Märkte „die Arbeit ausgeht“, dass wir es also aus strukturellen Gründen mit einer tendenziell sinkenden Nachfrage nach bezahlter Erwerbsarbeit zu tun hätten. Tatsächlich hat die überdurchschnittliche Arbeitslosen¬rate in Deutschland sehr viel mehr mit hausgemachten Ursachen zu tun, insbesondere mit der Finanzierung des Sozialsystems über „Lohnnebenkosten“, dem hohen Anteil von gering qualifizierten Migranten und der jahrzehntelangen Unterinvestition in Bildung und Weiterbildung. Schließlich kann auch angesichts des bevorstehenden demographischen Wandels keine Rede davon sein, dass wir es mit einem chronischen Überangebot an Arbeitskraft zu tun hätten: in etlichen Regionen und Branchen ist schon heute das Gegenteil der Fall.
Was sich tatsächlich verändert hat und weiter verändert, sind die Erwerbsarbeits-Muster. Die traditionelle „Normalarbeit“ mit lebenslanger Festanstellung ist auf dem Rückzug; befristete Arbeitsverhältnisse, Teilzeitjobs, Berufswechsel, Phasen von Selbstunternehmertum etc. nehmen zu. Das entspricht schon lange der Berufswirklichkeit von Frauen – neu ist die Prekarisierung der Arbeitswelt vor allem für Männer. Gleichzeitig lockert sich die Familiensolidarität weiter auf und damit die Basis gesellschaftlicher Subsidiarität. Auf diesen Wandel der Arbeitswelt, der Demographie und der sozialen Wirklichkeit ist unser jetziges Sozialsystem nicht eingestellt. Daraus entsteht eine Zunahme an gefühlter und tatsächlicher Unsicherheit und eine sektorale Zunahme von Armut. Sie bedroht in erster Linie die Langzeit¬arbeitslosen, gering Qualifizierten, Alleinerziehenden und kinderreichen Familien. Dazu kommt eine wachsende „Gerechtigkeitslücke“ aufgrund der weiteren Spreizung von Einkommen und Vermögen, die auch die Frage der Verteilungs¬gerechtigkeit wieder verstärkt auf die Tagesordnung setzt. Es spricht viel dafür, diesen Herausforderungen nicht mit immer neuen „Reparaturen im System“ zu begegnen, sondern die Grundlagen unseres Sozialsystems zu überdenken. Soziale Sicherheit und Teilhabe sind unverzichtbare Werte einer demokratischen Gesellschaft. Sie müssen in der globalisierten Wissensgesellschaft anders definiert werden als in der Industriegesellschaft alten Typs, in der unsere Sozialsysteme geschaffen wurden.
Aus dieser veränderten sozialen Gemengelage bezieht die Idee des Grundein¬kommens ihre Attraktivität als eine ebenso einfache wie radikale Alternative zum bürokratischen Sozialstaat. Sie verbindet libertär-individualistische Vorstellungen mit einem starken Impuls der Gleichheit, ist also anschlussfähig für moderne Linke wie für moderne Liberale. Dass auch diese Idee mit Problemen und Widersprüchen behaftet ist, zeigt sich erst bei näherem Hinsehen:
- Das Grundeinkommen ersetzt bedarfsbezogene Sozialleistungen nur partiell. Selbst bei einem „Bürgergeld“ in einer Höhe, die das sozio-kulturelle Minimum abdeckt, bleibt die Notwendigkeit spezifischer Hilfs- und Betreuungsangebote etwa im Bereich der Jugendhilfe, der Berufsförderung, besonderer Behinderungen etc. Das gilt auch für Arbeitslosengeld, Krankenversicherung und Alterssicherung, außer man ersetzt das heutige Rentensystem komplett durch eine steuerfinanzierte Grundsicherung. Es bleibt deshalb die Frage, ob es nicht effektiver ist, Grundsicherungs-Elemente innerhalb der bestehenden Sicherungssysteme auszubauen, statt ein Parallelsystem daneben zu setzen.
- Die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen kollidiert mit den Gerechtigkeitsvorstellungen weiter Teile der Bevölkerung: weshalb sollte ein steuerfinanziertes Grundeinkommen ohne Rücksicht auf Einkommen und Vermögen und ohne jede Erwartung einer Gegenleistung gezahlt werden? Solidarität ist auf Gegenseitigkeit gegründet: geholfen wird dem, der sich nicht selbst helfen kann – und der bereit ist, dafür zurückzugeben, was in seinen Möglichkeiten steht. Es ist nachvollziehbar, dass vor allem die Teile der Gesellschaft auf dem Prinzip der Wechselseitigkeit bestehen, die hart arbeiten und wenig verdienen. Wer gesellschaftliche Mehrheiten zumindest für einen Einstieg in ein Grundeinkommen gewinnen will, sollte deshalb an der Verknüpfung von sozialen Rechten und Pflichten festhalten.
- Die Verbindung eines Grundeinkommens mit gesellschaftlicher Tätigkeit ist auch aus anderen Gründen richtig: soziale Teilhabe stellt sich nicht nur über finanzielle Grundausstattung her. Für Menschen mit geringer Qualifikation, mangelnden Sprachkenntnissen oder gesundheitlichen Problemen kann ein bedingungsloses Grundeinkommen zur „Stilllegungsprämie“ werden, die ihre soziale Deprivation noch verfestigt. Was spricht im ernst dagegen, die Zahlung eines Grundeinkommens, das über das bloße Existenzminimum hinausgeht, an die Bereitschaft zu knüpfen, sich weiterzubilden oder eine gemeinnützige Tätigkeit aufzunehmen? Darin läge sogar die Chance, die heutige Zuweisung von Tätigkeiten im Rahmen von „Hartz IV“ durch selbst gewählte Tätigkeiten im Non-Profit-Sektor zu ersetzen.
- Generell sollte es darum gehen, die Brücken in den ersten Arbeitsmarkt zu erweitern und den Anreiz zu beruflicher Qualifizierung und Erwerbstätigkeit zu erhöhen, statt Prämien für Nicht-Arbeit zu zahlen. Besonders interessant ist unter diesem Aspekt das Konzept der negativen Einkommensteuer, bei dem ein steuerfinanzierter Zuschlag gezahlt wird, wenn das Arbeits¬einkommen unter bestimmten Grenzen bleibt (die für Familien höher liegen als für Alleinstehende).
- Schließlich verfehlt die Fixierung auf ein Grundeinkommen für alle die nicht-monetären Ursachen und Mechanismen sozialer Exklusion. Bildungsarmut und Chancenarmut ist nicht allein und nicht in erster Linie mit höheren Einkommenstransfers zu begegnen. Wer die Vererbung von Armut über die Generationen hinweg bekämpfen will, muss vor allem in Bildung und Erziehung investieren, vom Kindergarten bis zur beruflichen Qualifizierung. Das gilt erst recht für die Wissensgesellschaft, in der Bildung zum entscheidenden Schlüssel für berufliche Chancen und soziale Teilhabe wird. Hier entscheidet sich weitgehend, ob Menschen in die Lage versetzt werden, ihr Leben aus eigener Kraft zu meistern. Der Sozialstaat von morgen muss deshalb vor allem ein investiver Sozialstaat sein.
- Grundeinkommen und Investitionen in die soziale Infrastruktur sind kein Widerspruch per se. Aber sie kollidieren doch miteinander, sobald es um die Verteilung knapper Finanzmittel geht, also um finanzielle Prioritäten: ein Grundeinkommen, das deutlich über dem heutigen Niveau von Hartz-IV liegt, konkurriert unweigerlich mit Mehrausgaben für Bildung, Kultur und andere „öffentliche Güter“. So oder so müssen die Steuereinnahmen erhöht werden. Dafür gibt es vielleicht sogar politische Mehrheiten – aber wer glaubt, die Besteuerung der höheren Einkommen könnten beliebig nach oben getrieben werden, lebt nicht in dieser Welt. Auch die Akzeptanz für Öko-Steuern wird rasch sinken, wenn sie lediglich additiv zu den bestehenden Abgaben erhöht werden sollen. Im Zweifel muss es vorrangig sein, mehr Geld in die Qualität von Kindergärten, Schulen, Hochschulen zu stecken, Jugendarbeit und Sportvereine zu fördern und in die Gesundheitsvorsorge zu investieren. Ergo: der Primat sozialer Investitionen begrenzt den Spielraum für höhere Individualtransfers.
- Fraglich ist auch, wie weit ein „bedingungsloses Grundeinkommen“ im nationalen Maßstab realisiert werden kann. Was bedeutet die europäische Integration mit ihren offenen Grenzen zwischen den Mitgliedsstaaten für ein solches Modell? Bleibt das Grundeinkommen auf die Bundesrepublik beschränkt, führt das zu einer scharfen Selektion zwischen Anspruchs¬berechtigten und Nicht-Berechtigten. Wo soll genau die Grenze gezogen werden: wird die Staatsbürgerschaft zum Kriterium oder kommt jeder in den Genuss des Grundeinkommens, der hier seinen Wohnsitz hat?
Fazit: Wenn man um politische Mehrheiten für den Einstieg in ein gesellschaftliches Grundeinkommen werben möchte, sollte man sich vor allem für drei Modelle stark machen: Für die „negative Einkommensteuer“, für die Kombination von Bürgerarbeit und Bürgereinkommen und für ein „Bildungsgrundeinkommen“. Die negative Einkommensteuer fördert Übergänge in die Erwerbsarbeit und ergänzt die Forderung nach regional- und branchenspezifischen Mindestlöhnen. Das Konzept Bürgerarbeit / Bürgereinkommen bietet eine Alternative im gemeinnützigen Bereich: Jeder Arbeitslose sollte die Möglichkeit erhalten, sich für eine befristete Zeit eine Tätigkeit bei gemeinnützigen Unternehmen, Vereinen und Projekten zu suchen, die seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen entgegenkommt, und dafür ein „Bürgereinkommen“ deutlich über dem Hartz-IV-Niveau erhalten. Und das Konzept eines Bildungsgrundeinkommens bietet allen eine steuerfinanzierte Sicherung ihres Lebensunterhalts, die an einer allgemeinbildenden oder berufsqualifizierenden Ausbildung teilnehmen. In Verbindung mit einer massiven Erweiterung der Investitionen in Bildung und andere öffentliche Dienstleistungen wäre das eine zeitgemäße Strategie sozialer Teilhabe.