Türkei und die "Armenische Frage"

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Die Türkei und die „armenische Frage“ Welche Rolle spielt die historische Aufarbeitung für die europäische politische Kultur?

19. März 2008
„Die Gegenwart der Vergangenheit" - Zum 90. Jahrestag der Vertreibung und Vernichtung der Armenier und seiner aktuellen politischen Bedeutung
 
von Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich Böll Stiftung 

Geschichte ist ein Politikum: mit Geschichte wird Politik gemacht, und die Interpretation der Geschichte hat weitreichende Bedeutung für das politische Selbstverständnis einer Gesellschaft. Für kaum einen geschichtspolitischen Konflikt gilt das heute so sehr wie für  die Auseinandersetzung um die Vertreibung und Ausrottung eines Großteils der armenischen Bevölkerung im osmanischen Reich im Schatten des ersten Weltkriegs. 
In der internationalen historischen Forschung ist weitgehend anerkannt, daß in den Jahren 1915 bis 1917 zwischen einer und 1,5 Millionen Armenier in der Türkei bei der planmässigen Austreibung und Vernichtung durch nationaltürkische Kräfte ums Leben kamen. In historischer Perspektive war das kein isoliertes Ereignis. Die armenische Tragödie war Teil der nationalistischen Exzesse im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Errichtung von Nationalstaaten war in vielen Fällen von einer gewaltsamen ethnischen Homogenisierung ihrer Bevölkerung und vom Terror gegen Minderheiten begleitet.
Wir haben gestern als Auftakt dieser Tagung Ralph Giordanos bahnbrechenden  Film "Die armenische Frage existiert nicht mehr" gezeigt, der im April 1986 von der ARD gesendet wurde. Der Filmtitel ist ein Zitat des damaligen Innenministers und Drahtziehers Talaat Pascha, der nach dem Krieg von einem osmanischen Sondergericht wegen seiner Rolle bei der "Ausrottung eines ganzen Volkes", wie es in der Anklageschrift hieß, zum Tode verurteilt wurde. Er konnte mit Hilfe des deutschen Militärs nach Deutschland fliehen und wurde 1921 in Berlin von einem armenischen Studenten erschossen, dessen Familie in den Säuberungen umgekommen war. Wer diesen Film gesehen hat, bekommt eine Ahnung von den Ausmaßen und der Brutalität dieser Ereignisse, die das Vorspiel für die folgenden "ethnischen Säuberungen" und Genozide im Europa des 20. Jahrhunderts waren.
Seit Jahrzehnten fordern die Armenier in aller Welt, daß diese Gewalttat international  als Völkermord anerkannt wird. 1987 trat das Europäische Parlament für diese Anerkennung ein, und die UN-Menschenrechtskommission hat sich dieser Beurteilung  angeschlossen.
In der türkischen Öffentlichkeit ist in den letzten Jahren die Bereitschaft gewachsen, sich mit diesem Kapitel der Geschichte auseinanderzusetzen. Es werden Aufsätze und Bücher veröffentlicht, die sich der historischen Wahrheit annähern. Gleichzeitig verweigert sich die Türkei als Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reiches bis heute einer angemessenen Aufarbeitung.
Wer in der Türkei die offiziellen Sprachregelungen durchbricht, muß mit einer Anklage wg. Verunglimpfung der Republik rechnen, wie dies erst kürzlich dem bekannten türkischen Schriftsteller Orhan Pamuk geschehen ist. Leider findet sich die Strafbarkeit der Bezeichnung der Gewalttaten gegen die Armenier als Genozid auch im Entwurf des neuen Strafgesetzbuches wieder, das die türkische Regierung unlängst dem Parlament vorgelegt hat.
Ministerpräsident Erdogan erklärte am 13.4. im türkischen Parlament, es gebe "in der Geschichte der Türkei kein Kapitel, dessen wir uns schämen, das wir verdrängen oder vertuschen müssten". Das wirft Fragen auf. Wann beginnt die Geschichte der Türkei? Wenn man das Gründungsdatum der türkischen Republik zugrunde legt, fällt der Genozid an den Armeniern in die Vorgeschichte des modernen türkischen Staates - das wäre erst recht ein Grund, sich damit offen und unverkrampft auseinanderzusetzen. Verdrängung und Vertuschung sind ohnehin schlechte Methoden im Umgang mit der Geschichte, aber genau das wird ja in dieser Frage seit Jahrzehnten praktiziert, als wäre es Teil der türkischen Staatsraison. Eine Geste des Bedauerns für historisches Unrecht, das den Armeniern angetan wurde, wäre etwas ganz anderes als Verdrängung und Vertuschung. Sie würde der Türkei großen Respekt und neue Sympathien in Europa eintragen.

Auch für Deutschland gibt es Anlass, sich einer Aufarbeitung zu stellen. Neuere Veröffentlichungen haben herausgearbeitet, daß die Deportation und Vernichtung der Armenier unter den Augen und sogar mit Beteiligung deutscher Offiziere stattgefunden hat; daß die politische und militärische Führung des Deutschen Reiches von Anfang an über die Verfolgung der Armenier genauestens informiert war und sie aus strategischem Kalkül gedeckt hat. Es mangelte nicht an Zeugnissen über die Todesmärsche, die Gewaltakte und Grausamkeiten, sie kamen von deutschen Offizieren und Diplomaten und von engagierten Humanisten wie dem Theologen Johann Lepsius oder dem Fotografen und Schriftsteller Armin T. Wegner. Sie wurden bewußt ignoriert, um das Kriegsbündnis mit dem osmanischen Reich nicht zu gefährden.
Ein im Februar dieses Jahres eingebrachter Antrag der CDU/CSU-Fraktion, der in dieser Woche im Deutschen Bundestag diskutiert werden wird, löste eine heftige offizielle Reaktion der Türkei aus. Der türkische Botschafter in Berlin erklärte, die Fraktion mache sich zur Sprecherin eines fanatischen armenischen Nationalismus, der sich gegen die territoriale Integrität der Türkei richte. Der Zusammenhang zur aktuellen Auseinandersetzung um die Anerkennung ethnischer und kultureller Minderheiten in der Türkei ist offenkundig. Solange diese Anerkennung mit dem Totschlagsargument des "Separatismus" abgewehrt wird, wird sich die Türkei schwer tun mit dem Weg in die demokratische Moderne.
Seit dem Beginn der Verhandlungen um den Türkei-Beitritt zur EU hat die Debatte eine neue Aktualität erfahren. Die politisch motivierte Leugnung historischer Tatsachen und die Verweigerung einer offenen Auseinandersetzung um dieses dunkle Kapitel der türkischen und europäischen Geschichte widersprechen unseren Vorstellungen von einer demokratischen politischen Kultur.
Es geht uns ausdrücklich nicht darum, die armenische Frage zum Hebel gegen den Beitritt der Türkei zur EU zu machen, schon gar nicht um eine antitürkische Kampagne. Das wäre eine absurde Unterstellung. Wie die Grünen hat sich die Heinrich-Böll-Stiftung seit vielen Jahren für die europäische Integration der Türkei eingesetzt. Aber umgekehrt kommt es für uns als Stiftung in der Tradition Heinrich Bölls auch nicht in Frage, unbequeme historische Tatsachen unter den Teppich zu kehren aus Rücksicht auf geschichtspolitische Tabus des türkischen Staates. Die offene Auseinandersetzung mit den dunklen Seiten der eigenen Geschichte stellt die Legitimation und territoriale Integrität der heutigen Türkei nicht in Frage. Vielmehr sind wir überzeugt, daß der Weg zur Versöhnung der Völker in einem gemeinsamen Europa nur über die offene Aufarbeitung der Geschichte führt, die diese Völker heute noch trennt. Dazu wollen wir mit dieser Tagung einen bescheidenen Beitrag leisten.

Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Er publiziert in großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen, in internationalen politischen Zeitschriften sowie im Internet zum Themenkreis Ökologie-Ökonomie, Politische Strategie, Europa und Internationale Politik.