Ethnonationalismus und State Building

Lesedauer: 7 Minuten

7. April 2008
Von Thorsten Arndt

Von Thorsten Arndt

Fragile Staaten gelten seit dem 11. September 2001 als globales Sicherheitsrisiko. Angesichts dieser Erkenntnis ist es ernüchternd, dass humanitäre Interventionen und Hilfsprojekte in Krisenregionen wie dem Balkan oder im Südkaukasus auf der Stelle treten oder gar vor dem Scheitern stehen. Auf der Fachtagung „Ethnonationalismus und State Building”, zu der die Heinrich-Böll-Stiftung am 4. April 2008 im Berliner Abgeordnetenhaus geladen hatte, verglichen die Teilnehmer sieben aktuelle ethnonationalistische Konflikte, um Ursachen, Folgen und mögliche Lösungen dieser Entwicklung herauszuarbeiten.

Die Bedrohung durch zerfallende Staaten

Die von der Al-Qaida in Afghanistan organisierten Terroranschläge in New York und Washington haben die internationale Gemeinschaft davon überzeugt, dass sie den Zerfall eines Staates nicht nur aus humanitären Gründen, sondern auch wegen der Gefährdung der eigenen Sicherheit nicht mehr unbesorgt hinnehmen kann. Ist einem Staat die Kontrolle über das eigene Territorium entglitten, kann er auch nicht mehr seine Verantwortung im internationalen Staatensystem wahrnehmen. Neben der Stärkung transnationaler Terrornetzwerke drohen die regionale Ausbreitung gewaltsamer Konflikte, eine Zunahme von organisierter Kriminalität, Drogen- und Waffenhandel sowie die Ausweitung humanitärer Katastrophen.

Der Nationalstaat als Norm

Ein funktionierender Staat ist heute in aller Regel ein Nationalstaat. Für Ulrich Schneckener  ist das kein Zufall. Der Leiter der Forschungsgruppe "Globale Fragen" der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) legte zu Beginn der Tagung dar, warum die politische Legitimität staatlicher Macht immer noch am ehesten gewährleistet ist, wenn sich Regierende und Regierte als Mitglieder einer nationalen Gemeinschaft, also eines Volkes, empfinden. Ob sich dieses Volk über ethnische Grenzen definiert (Ethnos) oder über politische und rechtliche Institutionen (Demos), ist nach Ansicht Schneckeners vor allem bei der Analyse unterschiedlicher nationalstaatlicher Entwicklungspfade interessant. Eine grundsätzliche normative Abwertung ethnischer Grenzziehungen habe keine empirische Grundlage, da sich im historischen Rückblick bei den meisten Staaten beide Konzepte in spezifischer Reihenfolge und Ausprägung erkennen ließen. Nationalstaatliche Institutionen sind Schneckener zufolge nie wirklich neutral, sondern unterscheiden sich lediglich im Grad der Einbeziehung ethnischer Minderheiten.

Ethnonationalistische Konflikte

Eine dauerhafte Diskriminierung von Minderheiten kann allerdings zu ethnischen, kulturellen oder religiösen Konflikten innerhalb des Staates führen. Im Extremfall führt der Verlust der politischen Legitimität zum Staatszerfall. Bezeichnenderweise bleibt die Norm des Nationalstaates in der Regel aber auch hier intakt, da sezessionistische Bewegungen oft die Gründung eines eigenen Nationalstaates fordern. Im Südkaukasus kam es nach dem Zerfall der Sowjetunion - Walter Kaufmann vom Stiftungsbüro in Tbilisi zufolge - gleich zu drei Sezessionskonflikten, die bis heute ein komplexes Gemisch aus ethnischen und religiösen Faktoren, historischen Widersprüchen und externen Machtinteressen bilden. Im Irak ist gegenwärtig auf besonders dramatische Art und Weise zu beobachten, welch verheerende Folgen der völlige Zusammenbruch der politischen Ordnung haben kann. Ghassan Atiyyah, Direktor der Iraq Foundation for Development and Democracy, veranschaulichte in seinem Tagungsbeitrag eindrücklich, wie die ethnischen und religiösen Spannungen zwischen Schiiten, Sunniten und Kurden durch das Regime Saddam Husseins und die US-Invasion verschärft wurden. Der Fortbestand des Nationalstaats Irak ist heute alles andere als sicher. Die von Milan Horacek, Mitglied des Europäischen Parlaments, dargelegten Umstände der einvernehmlichen Auflösung der Tschechoslowakei im Jahr 1992 zeigen allerdings auch, dass die Auflösung eines Staates nicht immer von Gewalt und Chaos  begleitet werden muss.

Probleme beim Staatsaufbau

Ralf Fücks wies in seiner Begrüßung der Tagungsteilnehmer darauf hin, dass gewaltsame ethnonationalistische Konflikte in der internationalen Gemeinschaft „zynische Realisten“ wie „Idealisten“ auf den Plan rufen, die ein „Ausbluten“ der Konflikte empfehlen bzw. nach humanitären Interventionen rufen. Die schwierigere Aufgabe stelle sich allerdings oft erst nach Beendigung der Kämpfe. Tatsächlich muss der Neuaufbau politischer Institutionen (State Building) nach Ansicht aller Tagungsteilnehmer von der Bildung einer politischen Gemeinschaft (Nation Building) begleitet werden. Interessen ethnonationalistischer Gruppen dürfen dabei nicht ignoriert oder als zweitrangig betrachtet werden. In fast allen Fallbeispielen der Tagung wurde deutlich, dass die internationale Gemeinschaft bei ihren State Building-Maßnahmen immer wieder schwere Fehler begangen hat. Das uns naheliegendste Beispiel ist nach Ansicht von Radha Kumar das Dayton-Friedensabkommen von 1995, das den Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina beendete und die staatliche Nachkriegsordnung festlegte. Die Direktorin des Mandela Centre for Peace and Conflict Resolution an der Jamia Millia Islamia University in Neu-Dehli beklagte in ihrem Vortrag, dass Europa nie auf eine Weiterentwicklung der Nachkriegsordnung gedrängt habe, obwohl diese immer als Übergangslösung gedacht war. Das Ergebnis: Bosnien-Herzegowina besteht heute aus zwei Staatsapparaten, hat drei Verfassungen und gilt als unregierbar.

Nutzen der europäischen Erfahrung

Gibt es Auswege aus der Stagnation der internationalen State Building-Maßnahmen? Die Mehrheit der Konferenzteilnehmer war sich darin einig, dass staatliche Institutionen nicht am demokratietheoretischen Reißbrett entworfen werden sollten. Die Europäische Union tauge ebenfalls nur bedingt als Vorbild für andere Regionen. Ulrich Schneckener erinnerte daran, dass das vereinte Europa das Resultat einer blutigen Geschichte ethnonationalistischer Auseinandersetzungen sei. Die europäische Erfahrung könnte Schneckener zufolge genau aus diesem Grund auf eine andere Art und Weise genutzt werden. Es gebe innerhalb der EU unzählige Sonderregelungen, die den Umgang mit ethnischen und religiösen Minderheiten regeln. Dieser reiche Erfahrungsschatz könne als Ausgangspunkt für spezifische Lösungsansätze in Krisengebieten dienen. Die Referenten waren sich allerdings darin einig, dass es auch hier darauf ankommen wird, die vor Ort bestehenden Differenzen und konkreten Interessen ethnischer Gruppen zu respektieren und in die Planungen einzubeziehen.

Notwendigkeit flexibler multiethnischer Institutionen

Geneviéve Warland von der Universität Saint-Louis in Brüssel und der Forscher und Philosoph Benoit Lechat sprachen im Fall Belgien davon, dass sich eine "Living Together, Apart"-Gesellschaft gebildet habe, in der kaum ein Anreiz für die politische Zusammenarbeit von Flamen und Wallonen bestehe. Eine ähnliche gegenseitige Abschottung der Bevölkerungsgruppen kann im Konflikt zwischen Georgien und Abchasien, im Libanon und in Bosnien-Herzegowina beobachtet werden. Diese Hürde könnte nach Ansicht von Radha Kumar überwunden werden, wenn einige kulturelle Kollektivrechte nach dem Vorbild Indiens so organisiert werden, dass sie die territorialen Grenzen zwischen den ethnischen Gruppen überschneiden. Bei der Bewältigung entsprechender Probleme wäre eine Kooperation der Gruppen über Territorialgrenzen hinweg notwendig, was wiederum zu einer politischen Mäßigung beitragen könnte. Diese neuen multiethnischen Institutionen müssten flexibel gestaltet und regelmäßig überprüft werden, um verfassungspolitische Sackgassen wie im gegenwärtigen Bosnien-Herzegowina zu vermeiden.

Grenzen des Eingreifens

In vielen der Fallbeispiele wurde deutlich, dass die Möglichkeiten des Eingreifens externer Akteure begrenzt sind. Walter Kaufmann teilte mit, dass es in Georgien und Abchasien an grundsätzlichem Vertrauen zwischen den Konfliktparteien fehle. Auf dieser Basis könnten Nichtregierungsorganisationen lediglich versuchen, transparente Dialogprozesse zwischen den Konfliktparteien in Gang zu setzen. Der Irak wird nach Ansicht von Ghassan Atiyyah nur gerettet werden können, wenn die Nachbarländer ihr gemeinsames Interesse am Fortbestand des Staates in den Vordergrund rücken. Voraussetzung sei das Bereitschaft der USA, das Scheitern ihrer bisherigen Irak-Strategie einzugestehen. Fawwaz Traboulsi von der American University of Beirut ergänzte, dass die politische Stabilisierung Iraks wie auch anderer Konfliktherde nur dauerhaft sein könne, wenn sie von Wirtschaftsreformen begleitet würde, die der breiten Bevölkerung zugute kommen. In manchen Fällen könnte es nach Ansicht des Soziologen Bodo Weber sogar kontraproduktiv sein, Sezessionsbewegungen zu unterdrücken. Endlos schwelende ethnische Konfliktpotenziale verhinderten letztlich die Schaffung effektiver staatlicher Strukturen. So könne die Unabhängigkeitserklärung Kosovos auch in Serbien für Ernüchterung sorgen und einen Prozess der Demokratisierung einleiten.

Zu einem internationalen Recht auf Sezession, wie es von Ulrich Schneckener angedacht wurde, wird es dagegen wohl nicht kommen. Die territoriale Integrität von Staaten wird auch in Zukunft im Zweifelsfall größer geschrieben werden als das Recht auf Selbstbestimmung.

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