Larisa Bogoras ist tot - eine Biographie

6. April 2004
Von Aleksandr Daniel
Von Aleksandr Daniel

Am 6. April starb in Moskau Larisa Bogoras. Sie wurde 74 Jahre alt. Larisa Bogoras ist ein Symbol für den Kampf für die Menschenrechte in der Sowjetunion und später auch in Russland. Besonders bekannt, auch im Westen, wurde sie als eine der "Sieben", die am 25.8.1968 auf dem Roten Platz gegen den Einmarsch sowjetischer Truppen in die Tschechoslowakei protestierten. Zuvor hatte sie 1965 ihren ersten Mann Julij Daniel und seinen Mitautor Andrej Sinjawskij öffentlich im ersten sogenannten Dissidentenprozess verteidigt. Besondere Bedeutung hat ihr Anfang 1968 gemeinsam mit Pawel Litwinow verfasster Aufruf "An die Weltgemeinschaft". Es war das erste Mal, dass sich sowjetische Oppositionelle expizit nicht an die eigene Staatsführung wandten.

Larisa Iosifovna Bogoras (8.8.1929 , Charkow/Ukraine – 6.4.2004, Moskau)

Eltern: Parteimitarbeiter, Teilnehmer des Bürgerkriegs, Parteimitglieder. 1936 wurde der Vater von Larisa Bogoras wegen „trotzkistischer Tätigkeit" verhaftet und verurteilt.

1950, nachdem sie ihr philologisches Studium an der Unevertität Charkow abgeschlossen hatte, heiratete Larisa Bogoras Julij Daniel und zog mit ihm zusammen nach Moskau. Bis 1961 arbeitete sie als Russischlehrerin in verschiedenen Schulen, erst im Gebiet Kaluga, später in Moskau. Von 19961 bis 1964 war sie Doktorandin im Bereich Mathematische und Strukturelle Linguistik am Institut für Russische Sprache der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Von 1964-1965 lebte sie in Nowosibirsk und lehrte Linguistik an der dortigen Universität. 1965 verteidigte sie ihre Doktorarbeit (ihr akademischer Grad wurde 1978 von der staatlichen Prüfungsbehörde WAK aberkannt und erst 1990 wieder zuerkannt).

Larisa Bogoras wusste von Anfang an von der „echten" Literatur ihres Mannes Julij Daniel und seines Co-Autors Andrej Sinjawskij. 1965, nachdem Daniel und Sinjawskij verhaftet worden waren, war sie, gemeinsam mit Sinjawskijs Ehefrau Maria Rosanowa, daran beteiligt, die gesellschaftliche Meinung zugunsten der beiden Schriftsteller zu verändern. Der „Fall Sinjawskij und Daniel" war der Auslöser für den Beginn systematischer Arbeit vieler Menschenrechtler, auch von Larisa Bogoras.

1966 und 1967 fuhr Larisa Bogoras regelmäßig in die Lager für politische Häftlinge nach Mordowien an der Wolga, um ihren Mann zu besuchen. Dort lernte sie viele Angehörige anderer Häftlinge kennen und trug dazu bei, sie in die Diskussionen der Moskauer Intelligenzija einzubeziehen. Ihre Wohnung in Moskau wurde zu einem „Umschlagsplatz" für Angehörige aus anderen Städten, die durch Moskau kamen, um ihre gefangenen Verwandten im Lager zu besuchen, und für die ehemalige Gefangenen selbst, die nach der Entlassung aus dem Lager auf dem Weg nach Hause hier Station machten. Mit ihren Erklärungen und Briefen machte Larisa Bogoras das öffentliche Bewusstsein in der UdSSR erstmals auf das Problem der politischen Gefangenen aufmerksam. Auf eine der vielen Erklärungen reagierte der KGB-Offizier, der für die Familie Daniel „zuständig" war mit den Worten: „Sie und wir standen von Anfang auf unterschiedlichen Seiten der Barrikaden. Aber sie haben als erste das Feuer eröffnet."

Jene Jahre waren eine Periode, in der sich viele vorher vereinzelte oppositionelle Gruppen oder einfach nur Freundeskreise konsolidierten und ihre Aktivitäten zu jener gesellschaftlichen Bewegung zusammen wuchsen, die später die Menschenrechtsbewegung genannt werden sollte. Nicht zu letzt wegen der vielen Kontakte, die Larisa Bogoras „neben dem Lager" geknüpft hatte, überschritt diese Bewegung schnell den sozialen Rahmen der liberalen Moskauer Intelligenzija. So oder so fand sie sich im Zentrum der Ereignisse wieder.

Ein Wendepunkt in der Entwicklung der Menschenrechtsbewegung ist der gemeinsame Aufruf von Larisa Bogoras und Pawel Litwinow „An die Weltgemeinschaft" vom 11. Januar 1998. Darin protestieren sie gegen die groben Rechtsverletzungen im Prozess gegen A??? Ginsburg und seinen Kollegen, dem sogenannten „Prozess der vier". Erstmals wandte sich ein Dokument der Menschenrechtler direkt an die Öffentlichkeit und war selbst formal nicht an die sowjetische Partei, staatliche Instanzen oder die sowjetische Presse gerichtet. Dadurch, dass der Aufruf mehrfach von ausländischen Radiostationen gesendet wurde, erfuhren tausende spwjetischer Bürger, dass es in der UdSSR Menschen gibt, die sich offen für die Verteidigung der Menschenrechte einsetzen. Es gab Reaktionen auf den Aufruf und nicht wenige solidarisierten sich mit den Autoren und wuden daraufhin selbst Teilnehmer der Menschenrechtsbewegung.

Die Unterschrift von Larisa Bogoras steht unter vielen anderen Menschenrechtstexten der Jahre 1967/68 und auch der darauffolgenden Jahre.

Trotzdem eine Reihe von bekannten Menschenrechtlern davon abgeraten hatten (sie sollte sich als eine Führungsfigur der Menschenrechtsbewegung nicht der Gefahr aussetzen, verhaftet zu werden), nahm Larisa Bogoras am 25. August 1968 an der „Demonstration der Sieben" auf dem Roten Platz gegen den Einmarsch der Warschauer Pakt Truppen in die Tschechoslowakei teil. Sie wurde festgenommen und zu vier Jahren Verbannung verurteilt, die sie als Arbeiterin in einer Holzfabrik in Sibirien verbrachte.

Nach ihrer Rückkehr nach Moskau 1972 nahm Larisa Bogoras nicht mehr direkt an der Arbeit der zu jener Zeit existierenden dissidentischen Vereinigungen teil. Nur 1979 und 1980 wurde sie Mitglied des „Komitees zur Verteidigung von Tatjana Welikanowa". Allerdings meldete sie sich von Zeit zu Zeit allein oder gemeinsam mit anderen mit wichtigen gesellschaftlichen Initiativen. So steht ihre Unterschrift unter dem sogenannten „Moskauer Aufruf", dessen Autoren gegen die Ausweisung Alexander Solschenizyns aus der UdSSR protestierten und die Veröffentlichung des „Archipel GULAG" und anderer Materialien forderten, die über die Repressionen der Stalinzeit berichteten. In ihrem persönlichen Offenen Brief an den KGB-Vorsitzenden Jurij Andropow ging Larisa Bogoras noch weiter: Sie erklärte, weil sie nicht glaube, dass das KGB seine Archive freiwillig öffnen werde, werde sie beginnen selbstständig historische Informationen über die stalinschen Repressionen zu sammeln. Dieser Gedanke war einer der Anstöße zur Herausgabe des unabhängigen historischen Sammelwerks „Pamjat" im „Samisdat", dem Selbstverlag von 1976 bis 1984.

Selten erschienen Artikel von Larisa Bogoras in der ausländischen Presse. 1976 veröffentlichte sie unter dem Pseudonym „M. Tarusjewitsch" gemeinsam mit ihrem zweiten Ehemann Anatolij Martschenko im Journal „Kontinent" den Artikel „Es gibt ein Drittes", der sich mit der internationalen Entspannungspolitik beschäftigte. Anfang der 1980er Jahre löste ihr Aufruf an die britische Regierung, sich den inhaftierten Terroristen der IRA gegenüber humaner zu verhalten lebhafte Diskussionen aus.

Larisa Bogoras wandte sich mehrfach mit der Forderung nach einer umfassenden Amnestie an die sowjetische Regierung, Die Amnestiekampagne zugunsten der politischen Gefangenen, die sie 1986 zusammen mit Cofija Kalistratowa, Michail Gefter und Alexander Podrabinjek anstieß, war ihre letzte und wohl erfolgreichste „dissidentische" Aktion. Der Aufruf wurde dieses mal von einer Reihe bekannter sowjetischer Künstler und Kulturschaffender unterstützt. Im Januar 1987 begann Michail Gorbatschow, die politischen Gefangenen freizulassen. Larisa Bogoras Ehemann Anatolij Martschenko allerdings, schaffte es nicht mehr, diese Amnestie zu nutzen – er starb im Gefängnis von Tschistopol im Dezember 1986.

Larisa Bogoras setzte ihre öffentliche Arbeit auch in der Perestroika- und der Nachperestroikazeit fort. Sie nahm an der Vorbereitung des „Internationalen Gesellschaftlichen Seminars" 1987 teil und wurde im Herbst 1989 Mitglied der Moskauer Helsinki Gruppe. Einige Zeit lang war sie deren Co-Vorsitzende.Von 1993 bis 1997 war sie Vorstandsmitglied der russisch-amerikanischen Projektgruppe für Menschenrechte. Von 1991 bis 1996 führte sie Seminare zu Menschenrechtsfragen für Nichtregierungsorganisationen in der ehemaligen Sowjetunion durch.

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