Zwischen Staat und Terror

Am 6. Februar starben bei einem Bombenanschlag in der Moskauer U-Bahn mindestens 41 Menschen. Die genaue Zahl der Opfer steht noch nicht fest. Die russischen Sicherheitsbehörden gehen von einem tschetschenischen Selbstmordanschlag aus. Alexander Tscherkasow, Mitarbeiter des Menschenrechtszentrums "Memorial" in Moskau denkt über die Lage der Menschen in Russland "Zwischen Staat und Terror" nach. -> Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen zur EU & Nordamerika.

Nach der Explosion am Morgen des 6. Februar wurde die Moskauer U-Bahn von Miliz und Soldaten des Innenministeriums überflutet. Es wäre übereilt, den Ordnungskräften eine verspätete Zurschaustellung ihrer Kräfte vorzuwerfen.

Sie bemühen sich wohl wirklich, neue Terroranschläge zu verhindern. Die sind ja tatsächlich zu erwarten. Und zwar mit dem Motiv, das aufgewühlte Moskau endgültig auf den Kopf zu stellen, den Leuten ihre Schutzlosigkeit zu demonstrieren. Zudem ist die Annahme berechtigt, dass wohl mehr als ein Terrorist nach Moskau eingedrungen ist, ebenso wie im Oktober 2002 und im Juli 2003.

Neue Anschläge kommen derzeit niemandem in der Regierung gelegen, im Unterschied zu den Parlamentswahlen 1999 und den Präsidentenwahlen 2000. Damals waren der Überfall auf Dagestan und die Bombenanschläge auf Wohnhäuser in Moskau und Wolgodonsk – mit dem anschließend begonnenen zweiten Tschetschenienkrieg – die ausschlaggebenden Wahlkampfinstrumente der ‚Partei der Macht’.

Ich möchte diese Anschläge keineswegs den Geheimdiensten zuschreiben. Auch, wenn richtige Ermittlungen nicht durchgeführt wurden und die anschließenden Gerichtsverfahren der Wahrheitsfindung am allerwenigsten dienten. Ich möchte schlicht wiederholen: „Wir wissen nicht, wer diese Anschläge organisiert hat, aber wir wissen sehr genau, wer aus ihnen Nutzen gezogen hat.“ Dies sind Worte aus einem Artikel von Gleb Pawlowski , geschrieben nach den Anschlägen auf die Moskauer U-Bahn vom 8. Januar 1977. Damals hatte der ‚Journalist’ Victor Louis, ein informeller Mitarbeiter des KGB, westlichen Journalisten unmittelbar nach den Anschlägen davon berichtet, dass ‚Dissidenten’ daran beteiligt gewesen seien.

In jenen Jahren hatte Gleb Pawlowski noch gegen eine derartige Verwertung der Tragödie opponiert. Doch etwas über zwanzig Jahre später ist der Terror zu einem überaus effektiven Wahlkampfinstrument geworden. Und an diesen Wahlkämpfen ist Herr Pawlowski wesentlich beteiligt.

Es ist jedoch nicht möglich, zwei Wahlkämpfe – mit einer Zwischenzeit von vier Jahren - mit ein und demselben Motiv eines ‚kleinen siegreichen Krieges gegen Terroristen’ zu gewinnen. Wo denn ist dieser Krieg klein? Und warum siegreich? Der Krieg musste versteckt werden, und das wurde auch das gesamte vergangene Jahr über versucht.

So war der Terror, wie auch Tschetschenien, kaum ein Thema in den staatlichen und regierungsloyalen Medien. Genau genommen, wurden die Akzente verschoben – weg von dem Konflikt selbst hin zur seiner Lösung und Regelung.

Formal wurden die tschetschenischen Unabhängigkeitsbestrebungen durch das Referendum im März 2003 und die Wahl Kadyrows im Oktober darauf überwunden. Nach den Wahlen hat sich aber weder in Tschetschenien noch außerhalb der Republik wirklich etwas geändert. Man muss hierzu nur an die Anschläge vom Dezember in Jessentuki im Nordkaukasus und Moskau und an den jüngsten Rebellenzug in die Berge Dagestans erinnern . Es ist nicht klar, wer es war und wie viele entkamen, doch zu Neujahr wurde die Vernichtung dieser Rebelleneinheit vermeldet. Putin hat die Mitglieder der beteiligten Sondereinheit persönlich ausgezeichnet – die Probleme sollten alle im alten Jahr verbleiben!

Doch das hat nicht geklappt.

Nun steht dieses für Herrn Putin unangenehme Thema erneut im Zentrum der öffentlichen Diskussion.

Darüber hinaus hat jetzt der außer Kontrolle geratene Sergej Glasjew  die Tragödie in der U-Bahn für eine Wahlkampfkampagne mir wahrlich pogromträchtigen Zügen genutzt. Ein in solcher Situation ist ein Politiker, der ein Amt inne hat, in seinen Äußerungen stets gebunden und verliert dadurch gegenüber extremen Randfiguren. So war es 1989/1990 in Georgien, als Swiad Gamsachurdia gegen den Sekretär der KP Giwi Gumbaridse siegte, nachdem er eine nationalistische Hysterie entfacht hatte. So war es in Tschetschenien Ende der neunziger Jahre, zur Zeit des ‚Schariats’ und des Aufbaus eines ‚islamischen Staates’, als Aslan Maschadow den „Wahhabiten“  mit rationalen Argumenten nichts entgegensetzen konnte. Und jetzt fordert Glasjew, der Kontrolle des Kremls entglitten, das, was kein amtierender Präsident aussprechen darf.

Alles bisher gesagte in Rechnung gestellt, liegt es also klar im Interesse Putins, den Tschetschenienkrieg und dessen Wiederhall bis zu den Wahlen aus der Öffentlichkeit zu verdrängen.

Doch eben das hat nicht geklappt.

In vier Jahren wurde in Tschetschenien ein derartiger Ballast von Fehlern und Verbrechen angesammelt, dass dieser jetzt nicht mehr einfach mit symbolischen Gesten wie der ‚Wahl Kadyrows’ oder mit Auszeichnungen entsorgt werden kann.

In den Wochen vor dem Anschlag waren der Staat, die Exekutive, die Machtministerien, die unter dem Vorwand der öffentlichen Sicherheit und des Kampfes gegen den Terrorismus Bürgerrechte einschränken, zentrales Thema des Wahlkampfes. Doch am 6. Februar wurden wir daran erinnert, dass wir mit realem Terror leben.

Das terroristische Untergrundnetz, das in Russland aktiv ist, ist nicht Einbildung, sondern Realität. ‚Wahhabiten’, religiöse Extremisten und Terroristen gab es in Tschetschenien bereits vor drei, fünf Jahren. Gleichwohl hat sich der Selbstmord-Terrorismus palästinensischer Prägung in Russland erst in den letzten ein bis anderthalb Jahren ausgebreitet.

Es wird selbst mit großem Willen und vernünftiger Taktik nicht gelingen, den Terror in Russland schnell zu stoppen. Und das liegt nicht an der Situation in Tschetschenien, sondern an der Situation in Russland insgesamt.

Da ist zum einen die Korruption. Die Sicherheitsorgane können in ihrem derzeitigen Zustand die Terroristen nicht aufhalten, möge man sie auch noch so sehr verstärken. Um auf dem Weg aus Tschetschenien heraus den Kontrollpunkt „Kaukasus-1“ mit dem Auto und ohne Durchsuchung passieren zu können, reicht die Vorlage des „Formulars Nr. 50“ – ein 50-Rubel-Schein. Die allerorten bei ‚verdächtigen Personen’ durchgeführte Ausweiskontrolle erfolgt in der Moskauer U-Bahn nach ähnlicher Preisstaffelung.

Zum Zweiten: Willkür. Es reicht hier der Hinweis, dass in den vergangenen Jahren über 3.000 Personen in Tschetschenien „verschwunde“’ sind. Sie wurden meist von „Unbekannten in Tarnuniform“ verschleppt, „die mit militärischen Fahrzeugen angekommen waren“. „Verschwunden“ heisst wahrscheinlich tot, aber Hoffnung bleibt natürlich immer. So können die „Verschwunden“ nicht von den Familien betrauert werden und bleiben so eine ewige Mahnung an die Verwandten. Auf diese Weise werden Rächer geschaffen, „Nachschub“ für den terroristischen Untergrund. Die Sicherheitsdienste der Russischen Föderation sind sich dessen sehr wohl bewusst. Dem Leiter der FSB-Verwaltung in Tschetschenien zu Folge wurde nach den Anschlägen des vergangenen Sommers damit begonnen, Verwandte der ‚Verschwundenen’ speziell zu registrieren. Doch kann man wirklich Tausenden nachspüren?

Zum Dritten: Gesetzlosigkeit. Die Vergewaltigungen in Tschetschenien waren und sind, so muss man annehmen, nicht geplant. Doch sie geschehen trotzdem, massenhaft. Wie viele Frauen während der sogenannten „Säuberungen“ bisher schon Opfer von Gewalt wurden, ist nicht bekannt. „Verschwinden“ wird bei der Staatsanwaltschaft angezeigt, Vergewaltigungen fast nie. Und der FSB  hat um so weniger ein Interesse daran, die Opfer zu registrieren. Und die Opfer sind wiederum ebenfalls potentielle, womöglich noch entschlossenere Rächerinnen.

Soviel zum Staat – und wir, die Bürger?

Es scheint, als hätten wir die Realität vergessen und glaubten an Märchen. In Russland hat man den Eindruck – und der wird vom Staat eifrig unterstützt – als sei das Problem des Terrorismus mit der Beseitigung der tschetschenischen Unabhängigkeitsbewegung zu lösen.

Es scheint, als habe der Anschlag vom 6. Februar die Moskauer völlig unvorbereitet getroffen. Warum? Bei nüchterner Überlegung mussten doch - nach der Geiselnahme im Musical „Nord-Ost“ im Herbst 2002 und den Bombenanschlägen in Tuschino im vorigen Sommer, in der Twerskaja-Jamskaja-Straße und auf dem Manegenplatz - weitere Anschläge mehr als wahrscheinlich scheinen.

Gleichwohl haben wir es nicht erwartet. Vielleicht, weil erst Menschen in der U-Bahn sterben mussten, die kaum genug zu essen haben, also ganz normale Leute. Und nicht „die Reichen“, die sich Musicals und Konzerte leisten können. Ein gemeiner Gedanke, doch ... genau dies ist die Einstellung vieler Landsleute gegenüber den „vollgefressenen Moskauern“.

In der Moskauer U-Bahn fuhren die gleichen normalen Leute, wie in der Regionalbahn in Jessentuki, in der am 5. Dezember eine Bombe explodierte. Auch dort starben über 50 Menschen. Doch im Bewusstsein funktionierte damals die „Unabhängigkeitsbewegung Moskauer Art“ – „Das ist ja bei denen da passiert, weit weg, im Kaukasus ...“

Als im September 1999 ‚einfache Leute’ in den Wohnhäusern von Bujnaksk, Moskau und Wolgodonsk starben, da galt noch: „Wir alle zusammen sind Russen.“ Egal ob arm oder reich, unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit oder Wohnort – wir alle sind Zielscheiben des Terrorismus.

Bedauerlich ist nur, dass damals, im Herbst 1999, die russische Gesellschaft darauf verzichtete, die Bewohner Tschetscheniens in dieses „zusammen“ mit einzubeziehen, auch sie als Menschen und Opfer des Terrors wahrzunehmen.

All die Jahre wurde der Krieg mit unserem stillschweigenden Einverständnis geführt. Zumindest ohne merklichen Protest. Der Kelch menschlichen Leids ist dabei übergelaufen und die Organisatoren des Terrors konnten hieraus ihren Nachschub schöpfen. Jetzt fällt das Schweigen auf uns zurück.

Die russische Gesellschaft befindet sich derzeit unter doppeltem Druck. Auf der einen Seite stehen die Terroristen. Auf der anderen Seite ein Staat, der mit seinem ‚Kampf gegen den Terrorismus’ das Übel keineswegs beseitigt, sondern eher verschlimmert. In verschiedenen Ländern gibt es entweder die eine oder die andere dieser Herausforderungen. Das zwanzigste Jahrhundert hat uns diverse Erfahrungen und Erfolge im Kampf gegen totalitäre Herrschaft beschert. In der gegenwärtigen Welt gibt es Beispiele, wie man angesichts extremistischen Terrors leben (und nicht nur überleben !) kann. Wir müssen beide Aufgaben zugleich lösen – sowohl vor, als auch nach Wahlen.


Alexander Tscherkassow ist Mitarbeiter des Menschenrechtszentrums „Memorial“.

 
 
 

Dossier

Demokratie in Russland

Demokratie in Russland ist für ein friedliches und demokratisches Europa unabdingbar. Nur ein demokratisches Russland wird ein verlässlicher und berechenbarer Nachbar sein.