Laudatio von Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

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16. Oktober 2008
Ich begrüße Sie alle herzlich zur diesjährigen Verleihung des Petra Kelly – Preises, und insbesondere begrüße ich unseren Preisträger: Jurij Schmidt, den Gründer und Vorsitzenden des Russischen Anwältekomitees für Menschenrechte, sowie seine Frau, Jelena Barichnowskaja. Herzlich Willkommen!

Der Petra Kelly-Preis wird alle zwei Jahre von der Heinrich Böll Stiftung an Personen vergeben, die sich in herausragender Weise für die Achtung der universellen Menschenrechte, für gewaltfreie Konfliktlösungen sowie den Schutz der natürlichen Umwelt einsetzen. Die Auswahl der Preisträger trifft der Aufsichtsrat der Stiftung, für den Reinhard Bütikofer diese Entscheidung begründen wird. Erste Preisträgerin war 1998 die „Unrepresented Nations and Peoples Organisation“, die internationale Vereinigung der ethnischen und kulturellen Minderheiten. Die folgende Auszeichnung ging an die Schwestern Berta und Nicolasa Quintreman, die sich für die Rechte der indigenen Minderheit in Chile einsetzen. Preisträgerin des Jahres 2002 war die kolumbianische Abgeordnete und „grüne“ Politikerin Ingrid Betancourt, die sich seit nunmehr vier Jahren als Geisel in der Hand einer Guerillagruppe befindet. 2004 ging der Preis an die kenianische Umwelt- und Menschenrechtsaktivistin Wangari Maathai, die später mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.

Jetzt also Jurij Schmidt – ein Perspektivenwechsel von der Dritten Welt nach Russland, in das Land der gelenkten Demokratie und der Machtvertikale. Und doch gibt es eine Kontinuitätslinie, die alle bisherigen Preisträger miteinander verbindet: das Engagement für Menschenrechte und Demokratie, so unterschiedlich die Kontexte auch sein mögen. Jurij Schmidt ist im Westen bekannt geworden als Mitglied des Anwaltsteams von Michael Chodorkowski, dem ehemaligen Ölmagnaten und Putin-Gegenspieler, der jetzt als Insasse eines Straflagers im fernen Osten Russlands um seine Reputation, seine Gesundheit und seine Würde kämpfen muss. Aber die Geschichte des Anwalts Jurij Schmidt, der sich für eine rechtsstaatliche Kultur und gegen Willkürjustiz einsetzt, geht weit zurück in sowjetische Zeiten. Seine Eltern gehörten zu jenen Aufrechten, die gegen die Macht des kommunistischen Apparats für ihre Überzeugungen einstanden und dafür einen hohen persönlichen Preis bezahlt haben. Dieser Geist des aufrechten Gangs hat sich auf den Sohn übertragen. Jurij Schmidt hat einer langen Reihe von sowjetischen und post-sowjetischen Oppositionellen rechtlichen Beistand geleistet; von Josif Brodski bis Alexander Nikitin.

Auch bei der Verteidigung von Michail Chodorkowski geht es um die Verteidigung rechtsstaatlicher Prinzipien und Verfahren, nicht um die Verteidigung der Privilegien eines Oligarchen. Jurij Schmidt ist ein „politischer Anwalt“, gerade weil er sich gegen die Instrumentalisierung der Strafjustiz durch die politische Macht stellt, mit der unliebsame Gegner ausgeschaltet werden sollen. Er selbst schrieb im September 2005 zu diesem Fall: „Dieser Prozess ist trauriger Höhepunkt der neueren russischen Rechtsgeschichte. Er sagt viel über den Zustand von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im heutigen Russland aus. Noch deutlicher zeigt er an, in welche Richtung starke politische Kräfte in der russischen Regierung mein Land künftig zu steuern beabsichtigen. Der Fall Chodorkowski ist keine interne russische Angelegenheit. (..) Die russische Demokratiebewegung benötigt auch weiterhin dringenden Beistand – durch kritische Beobachtung der Vorgänge in Russland und durch die Aufmerksamkeit von Politik und Medien in westlichen Demokratien.“ – Ich hoffe, dass diese Preisverleihung zu dieser kritischen Aufmerksamkeit beiträgt. Es greift viel zu kurz, wenn sich das öffentliche Interesse an Russland und die deutsche Russland-Politik v.a. auf Energiefragen konzentriert. Nur ein demokratisches Russland wird auf Dauer auch ein verlässlicher wirtschaftlicher Partner für die Europäische Union sein. Es ist deshalb nicht nur eine Frage der politischen Moral, sondern der Interessenpolitik, die demokratischen Kräfte in Russland zu unterstützen und Rückfälle in autoritäre Strukturen zu kritisieren.

Es gibt seit vielen Jahren politische und persönliche Beziehungen zwischen der Heinrich-Böll-Stiftung und der Demokratiebewegung in Russland. Eine Besonderheit dieser Verbindung sind die intensiven Diskussionen, die zwischen uns stattfinden – ein beständiger Austausch von Erfahrungen und Sichtweisen. Man sollte vorsichtig damit sein, was man in einem solchen Austausch wirklich gelernt hat. Aber eine Sache haben mir unsere Partner aus Osteuropa nachdrücklich vermittelt: Die Bedeutung rechtsstaatlicher Regeln, Verfahren und – mehr noch – einer „rechtsstaatlichen Kultur“ als Rückgrat der Demokratie. In diesem Begriff der politischen Kultur schwingt mehr mit als die Forderung nach Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Justiz und Bindung der Staatsmacht an das Recht. Es geht um Respekt vor den Rechten und der Würde des Anderen, um eine streitbare, aber gewaltfreie politische Kultur. Dafür steht Jurij Schmidt auf hervorragende Weise. Ich bin mir sicher, dass Petra Kelly die Entscheidung für Jurij Schmidt gut finden würde. Petra gehörte zu der Handvoll PolitikerInnen des Westens, die offensiv für Menschenrechte, Demokratie und Abrüstung auf beiden Seiten der politischen Blöcke eingetreten ist. Sie hat schon früh die Mauern, die Europa und die Welt teilten, in ihrem Denken und Handeln übersprungen. 1983, nach dem Einzug der Grünen in den Bundestag, fuhr sie zunächst nach Washington (wo die grüne Delegation vor dem Weißen Haus Friedenstauben fliegen ließ), und anschließend zum ersten Mal nach Moskau zu Gesprächen mit dem Außenministerium und dem ZK.

Bei dieser Gelegenheit kam es zu einer legendären Kurz-Kundgebung der grünen Reisegruppe an der Kremlmauer, bei der Spruchbänder und Plakate mit der Inschrift „Achtet die Menschenrechte“, „Auflösung von NATO und Warschauer Pakt“ und „Abrüstung sofort“ entrollt wurden. Das Ganze dauerte etwa 2 Minuten – lange genug, um die Aktion im Bild festzuhalten, und kurz genug, um die anwesenden sowjetischen Sicherheitskräfte vom Einschreiten abzuhalten. Wer es genauer wissen will, kann Milan Horacek befragen – der war damals als Mitglied des Bundestags dabei und ist auch heute anwesend, diesmal als Mitglied des Europäischen Parlaments. In den folgenden Jahren besuchte sie mehrfach Bürgerrechtler und Dissidenten in der Sowjetunion, darunter Andrej Sacharow, Sergej Kowaljow und Arsenij Roginski, der heute Abend die Laudatio auf Juri Schmidt halten wird. So schließen sich heute Abend mehrere politische und persönliche Kreise, die der grünen Bewegung im Westen und der Bürgerrechtsbewegung im Osten unseres Kontinents. Für beides steht die Heinrich-Böll-Stiftung. Auch deshalb ist diese Preisverleihung für uns ein großes Ereignis.