Berlin, 9. April 2008
Dieser Artikel wurde am 15.4.2008 in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht. Verwendung auf dieser Website mit freundlicher Genehmigung der Autorin sowie der Süddeutschen Zeitung.
I. Jede Generation braucht offenbar ihren eigenen Krieg, bevor sie fähig und weise genug ist, daraus ihre Lehren zu ziehen. Das gilt für die heißen, wie für die kalten Kriege. Der letzte Kalte Krieg hat mit einem umfassenden, glückhaften, die ganze Welt faszinierenden „Sieg“ westlicher Demokratien, westlicher Werte und Ideale geendet, deren eigentliche Essenz die Lehren aus der Epoche der beiden Weltkriege waren. Es dauerte keine zehn Jahre bis ein neuer heißer Krieg erklärt wurde: Der Krieg gegen den Terror. Anlass dieses Krieges - nicht seine Ursache - waren die Ereignisse des 11. September 2001. War diese Kriegserklärung die einzige Möglichkeit, auf die Gewalttat, das Entsetzen und die von der ganzen Welt geteilte, tiefsitzende Trauer zu reagieren? Nein. Kann dieser Krieg gegen den Terror mit Waffen gewonnen werden? Ebenfalls nein. Aber bevor die Lehren aus der voraussichtlichen Niederlage gezogen werden können, beginnen die westlichen Staaten und Gesellschaften bereits mit den Vorbereitungen eines neuen kalten Krieges: Es ist der mentale Krieg gegen das gerade zur Weltmacht aufsteigende China. Nachdem wir uns schon in einer ideologischen Konfrontation gegen die nicht gerade bevölkerungsarmen islamischen und arabischen Länder befinden, nachdem wir uns in eine zumindest diplomatische Dauerkonfrontation mit Russland hineinmanövriert haben, nun auch noch eine generelle Systemkonfrontation mit China? Jeder fünfte Mensch in der Welt ist ein Chinese oder eine Chinesin. Der Westen traut sich offensichtlich sehr viel zu!
II. Der wütende Protest gegen China und das herzlichste Engagement für die tibetische Sache ist derzeit der größte gemeinsame Nenner, unter dem sich westliche Machtpolitik, westliche Sehnsüchte und westliche Medienstrategien vereinen lassen. An dieser Einheitsfront marschieren George Bush mit Hillary Clinton, Angela Merkel mit Nicolas Sarkozy, der Spiegel gemeinsam mit der Bild-Zeitung, alle endlich vereint mit Hollywood, den Bürgerrechtsaktivisten und den Esoterikern. Hinter dieser Einheit stecken große Ziele: Der Kampf für die Menschenrechte, für die Presse- und Meinungsfreiheit, für den Erhalt einer uralten großartigen Kultur und die ehrliche Begeisterung für die wahrhaft bezaubernde und oft charismatische Führungsfigur der Tibeter, den Dalai Lama. Aber ob dieser große gemeinsame Nenner auch nur die minimalste Chance hat, sein Ziel zu erreichen, das darf im Ernst bezweifelt werden. Die Lebenserfahrung lehrt ja, dass die saubere Einteilung der Welt in Schurkenstaaten, Finsterlinge und Satane auf der einen Seite und edle Staatsführer, Menschenfreunde und Freiheitsliebende auf der anderen Seite selten ganz von der Wirklichkeit gedeckt wird.
Die Tragödie in der Tibetfrage ist, dass es wirklich eine berechtigte, wenn auch kleine Hoffnung gab, den Stolz aller Chinesen auf ihre Olympiade und die damit verbundene ehrenvolle Rückkehr aller Chinesen in die Weltgemeinschaft zu verbinden mit einem diplomatischen Druck, dann doch in diesem Zusammenhang auch die Tibetfrage rechtzeitig zu lösen. Der Schaden ist schon eingetreten. Die entscheidende Chance wurde nicht rechtzeitig genutzt. Das ließ sich schon ahnen, als im Sommer statt einer enormen Intensivierung der geheimen Gespräche zwischen den Chinesen und Tibetern der Dalai Lama seine Blitzlichtreise vom Capitol in Washington zum Kanzleramt von Angela Merkel, zum kanadischen Präsidenten etc. antrat. Zu dieser Zeit, wo absolute Stille hätte herrschen müssen, damit man in der Sache noch etwas weiter kommt, wurde die Tibetfrage zu einem Pop-Phänomen. Die politische Lösung löste sich auf im Mediengestöber und in Erregungsschüben, die schwer wieder in politische Vernunft zu verwandeln sind.
III. Wie hätte eine politische Lösung aussehen können? Der Schlüssel zu dieser Lösung lag nie in Washington, nicht in Berlin, sondern immer in Peking. Das praktische Problem hieß: Wie überzeuge ich die politische Führung eines Landes von 1,3 Mrd. Menschen, einem winzigen Teil ihrer Bevölkerung, nämlich 0,46 % (so genau sind die tibetischen Mengenverhältnisse im Vergleich zur Gesamt-Bevölkerung!) mehr Freiheiten und kulturelle Autonomie zu gewähren? Daran zu denken, dass die westlichen Staaten, zu diesem Ziel dicht an einen echten heißen Krieg herangehen würden - wie dies in der Taiwan-Frage gelegentlich geschieht - ist eine absolute Illusion. Zu hoffen, dass die Chinesen diskussionsbereiter sind, wenn sie vor der ganzen Welt gedemütigt werden, ihr Gesicht und ihre eigene Würde verlieren, ist ebenso illusionär. Es konnte also nur um Verhandlungen gehen. Da waren zwei Denkmodelle möglich.
- China erlässt, wie in anderen Staaten üblich, Religionsgesetze, die die Freiheit der Religionsausübung gesetzlich garantieren, den Religionsgemeinschaften die Wahl ihrer Führungen freistellen, die Ausbildung ihrer religiösen Funktionäre und den Besitz an Klöstern und Tempeln. Die Religionsgemeinschaft akzeptiert dafür die Gesetze des Landes und gliedert sich in allen anderen Demokratie- und Emanzipationsbewegungen ein in die zivilgesellschaftlichen Reformbewegungen, die es auch im heutigen China im großen Umfang gibt. Der Dalai Lama wäre dann zugleich Religionsführer und Staatsbürger. Diese Methode der Trennung von Kirche und Staat, von Religion und Politik scheiterte meines Wissens nicht nur an der chinesischen, sondern auch an der tibetischen Seite. Es sei „nicht ihrer Tradition entsprechend“.
- Das zweite Modell ist bekannt als: „Ein Land - zwei Systeme“. Dieses Modell war in langen Verhandlungen zwischen der britischen und chinesischen Diplomatie als Bedingung für die Rückkehr Hongkongs zum chinesischen Großreich ausgehandelt worden. Trotz mancher Schwierigkeiten und Rückschritte im Einzelnen, klappt es erstaunlich gut. Es kam zustande, weil das Motiv, die Einheit des Landes zu sichern, für China so gewaltig war, dass es sogar die Beibehaltung demokratischer Strukturen akzeptierte. Verständlicherweise hat die tibetische Exilregierung die Hoffnung, ein ähnliches System für Tibet durchzusetzen. Eine nüchterne Analyse zeigt, dass dieses, jedenfalls für den Moment, ebenso illusionär ist. Und das aus zwei Gründen:
- standen damals in Hongkong englische Soldaten im Land und Hongkong war von China getrennt.
- Die Verhandlungen über das Modell „ein Land – zwei Systeme“ konnten zwischen der britischen Regierung und der Regierung der Volksrepublik China durch Diplomaten geführt werden, und das fast über ein Jahrzehnt, und dazu immer im Stillen, ohne öffentliche Pranger und Demütigungen.
Wem wirklich an einem Erhalt der tibetischen Kultur gelegen ist, wer wirklich die Rückkehr des Dalai Lama anstrebt, der sollte keine Illusionen schüren.
IV. Warum kam es nicht zu ernsthaften Verhandlungen über die eine oder über die andere Lösung?
- Die chinesische Führung schätzte ihre Lage nach Innen und Außen nicht richtig ein. Nach Außen setzte sie darauf, dass der Westen aus weltstrategischen Interessen (noch) keine Konfrontation mit China suchen würde, da er gerade im Krieg gegen den Terror und angesichts gravierender Globalisierungsprobleme wenig Interesse daran haben konnte, auch noch China vollständig zu destabilisieren. Sie glaubte außerdem, dass die ständig wachsenden wirtschaftlichen Kooperationen das Gefühl weltweiter Zusammenhänge von Wirtschafts- und Handelsinteressen so sehr stärken würde, dass der Westen wegen Tibet keine Totalkonfrontation mit China riskieren würde. Die Reformfraktion setzte schließlich darauf, dass es genügend Respekt im Westen für die unglaublichen Leistungen und Schwierigkeiten eines solchen Reformprozesses - der Verwandlung einer maoistischen Steinzeit in einen modernen Turbokapitalismus - geben würde, dass dieses Grundverständnis auch im konkreten Fall zur politisch diplomatischen Vernunft reichen würde. China unterschätzte erheblich die Fähigkeiten westlicher Mediengesellschaften, kollektive Hysterien und einen alle erfassenden Erregungszustand zu erzeugen. Und es unterschätzt im Inneren immer, dass auch der beachtlichste Fortschritt im Lebensstandard nicht die Freiheits- Sehnsüchte seiner zunehmend hochgebildeten Eliten stillen kann.
- Die US-Regierung, insbesondere George Bush, erkannten hingegen früh, dass die Tibetfrage eine treffsichere Mobilisierung der Weltmeinung gegen China erzeugen könnte und damit eine Wiederauflage alter antikommunistischer Strategien - die dazu noch in der Sache völlig folgenlos bleiben können. Tibet wurde so zu einer Trumpfkarte im Ärmel, die in der zukünftigen Auseinandersetzung dienlich sein konnte, die es mit einem kommenden Weltmachtkonkurrenten vermutlich geben wird. Dass ein Reform-China, wenn es nach den wirtschaftlichen Reformen auch die demokratischen Reformen in Angriff nehmen würde, das Potential zur Weltmacht hat, ist unstreitig.
- Dass Europa hier die einmalige Chance nicht ergriff, rechtzeitig im Sinne einer Verhandlungslösung vermittelnd tätig zu werden, ist eine kleine Tragödie innerhalb der größeren. Seit der Ausrufung der Olympischen Spiele im Sommer 2001 bis spätestens im Frühjahr diesen Jahres hätte es diese Chance gegeben, wenn auch nur eine der europäischen Regierungen ernsthaft in einer stillen Diplomatie mit genügend Druck auf die Chinesen und genügend Abstand zur Sicht der tibetischen Exilregierung an einer solchen wirklichkeitstauglichen Lösung gearbeitet hätte. Spätestens seit Angela Merkels Dalai Lama-Empfang war klar, Europa behandelt die Tibetfrage auch nur unter dem Gesichtspunkt innenpolitischen Applauses und nicht unter dem Aspekt einer politischen Lösung. Gerade aber die Deutschen, eventuell im Zusammenhang mit den Briten, hätten jenen Vertrauensvorschuss gehabt, der in den direkten Gesprächen zwischen chinesischer Regierung und tibetischer Exilregierung nicht entstehen konnte.
- Es gab auch Fehleinschätzungen und Versäumnisse auf Seiten der Exiltibeter. Es ist ein generelles Phänomen, dass aus dem Exil härtere und manchmal unrealistischere Forderungen gestellt werden, als innerhalb des Landes. Das Leben im Exil entfernt sich, trotz aller Leidenschaft für die Sache, immer von dem Leben im Lande. Es ist die Sprache der Propaganda, im heutigen Tibet von einem „kulturellen Genozid“ zu sprechen, und damit das heutige China in die Nähe der Nazi-Diktatur zu rücken. Es ist auch sachlich falsch. So brutal das ist, gerade im Widerstand gegen Überfremdung erhält sich manche Kultur intensiver und selbstbewusster als unter den Globalisierungsbedingungen. Vieles von dem, was man in Tibet zu Recht beklagt, ist in dem Nachbarland Nepal als Folge von Globalisierung, Modernisierung und aller Phänomene eines zerfallenen Staatssystems längst passiert, ohne dass die Welt davon Notiz nimmt. Sikkim und Ladakh sind verschwunden und in die indische Kultur amalgamiert, der sikkimsche König starb im indischen Hausarrest, ohne Weltprotest. Ein Großteil jener kulturellen und religiösen Phänomene, die wir in Tibet zu Recht beklagen, ist Ergebnis jener turbokapitalistischen Modernisierung, der zur Zeit ganz Asien unterliegt, und die China sich selbst kulturell-brutal antut.
Um so wichtiger wäre es gewesen, alles, aber alles zu tun, damit der Dalai Lama und die tibetischen Religionsführer als Kernidentität von Religion und Kultur zurückkommen. Und mit ihm die ganze intellektuelle Führungsschicht, die bereits in der zweiten Generation im westlichen Ausland lebt. Die Lage in Tibet war kulturell besser, als noch der Panchen Lama, wenn auch bedrängt, im Land lebte. Er wurde damals von den Exiltibetern als „Kollaborateur“ angesehen, obwohl er später als „Heiliger“ akzeptiert wurde. In den letzten Jahren hingegen gingen noch die letzten buddhistischen Intellektuellen, Klostervorstände und schließlich auch die letzte verbliebene Autorität im Lande, der Karmapa Lama, außer Landes – nach Dharamsala. Damit war Tibet religiös ein Volk ohne Hirten. Man kann fragen, ob das die richtige Strategie war für einen erfolgreichen Kampf innerhalb Tibets.
Wie anders Prozesse verlaufen können, wenn die religiöse und intellektuelle Führungsschicht im Lande ist, lässt sich an dem einzigen positiven Beispiel der Region, an Bhutan, ablesen. Da ist es am Ende der König selbst gewesen, hochgebildet sowohl in westlichen Demokratieidealen als auch in der buddhistischen Religion, der seinem Volk die Demokratie beigebracht hat. Dieses Wunder fand weit ab von den Augen der Weltöffentlichkeit statt, mit so wenig Hollywood und Jet-Set, dass es mit diesem König nicht einmal ein Interview in westlichen Medien gibt. Dafür gibt es jetzt Demokratie.
- Die verzweifelste Figur in dem ganzen Spiel ist die Person des Dalai Lama selbst. Bis zur Erschöpfung, bis zur Grenze des Zumutbaren hat er die Mission seines Volkes durch die Welt und insbesondere in die Regierungsstuben getragen. Er weiß längst selbst, dass aus Medienkampagnen, Erregung öffentlicher Leidenschaften und wohlfeilen Politikerworten keine Lösung für sein Volk wird. Vielleicht wird er wirklich eines Tages alle diese Ehrungen, Hofschranzen und Aktivisten verlassen und als einfacher Mönch über den Himalaya gehen, um wenigstens die letzten Tage bei seinem Volk zu verbringen. Wie frei er ist, dieses zu tun, weiß ich nicht.
V. Was bleibt zu tun?
Die dringendste Aufgabe im Augenblick ist es, diese enormen weltweiten Energien, die die Tibetfrage aufrührt, in einen gesichtswahrenden Vorschlag umzuformen, den eine Reformregierung in Peking auch zu gehen vermag. Die derzeitige Kampagne, inklusive des weltweiten Gesichtsverlustes, stärkt in China diejenigen Nationalisten, die schon immer auf die Weltmeinung gepfiffen haben. Es stärkt die Ängstlichen, die sagen, dass freie Gesellschaften für die chinesische Tradition nicht verträglich sind. Sie schwächt also die Reformer, nimmt ihnen den Respekt für die enorme Reformleistung, die sie schon hinter sich gebracht haben, und schwächt die Courage und die Unterstützung für die Aufgaben, die sie noch vor sich haben.
Ob es noch eine Chance gibt, die beiden Lösungsmodelle - entweder die Rückkehr des Dalai Lama auf der Basis ausverhandelter Religionsgesetze, oder sogar das Modell „zwei Staaten – ein Land“ - auszuprobieren, mögen die Diplomaten prüfen. Der Verlauf der Olympiade wird nicht wenig dazu beitragen, ob diese Chance überhaupt noch besteht.
Vor wenigen Tagen zog Michael Gorbatschow, der andere große Reformer, dem Deutschland so viel verdankt, in einem kleinen Kreis eine sehr hellsichtige, bittere und nüchterne Bilanz seiner eigenen Erfahrungen. Er sagte: „Ich habe auf die Dissidenten gehört. Ich hatte ihre Stimmen am Ende in meinem eigenen Kopf. Wir haben als Sowjetunion, als Russen, ich auch persönlich, eines der größten Risiken auf uns genommen, die politische Führer eingehen können, nämlich uns selbst grundsätzlich in Frage zu stellen. Wir haben das in der Hoffnung getan, es würde sich nach dem Kalten Krieg die ganze Welt verändern und eine neue friedlichere Ordnung suchen. Das merkwürdige war: Es gab keine Dissidenten mehr, die diese Veränderung auch dem glücklicheren Teil der Welt abverlangt haben, als dieser das Ende des Kalten Krieges allein als Triumph und als einseitigen Sieg im Systemkrieg aufgefasst hat. Ich warte immer noch auf die Dissidenten, die so viel Mut ihren eigenen Regierungen gegenüber aufbringen.“
Das sollte wohl heißen: Es gibt eine Mitschuld des Westens am Wiedererstarken des Autoritarismus in Russland. In China könnte das gleiche mit noch viel dramatischeren Folgen für Stabilität und Frieden in der Welt eintreten.