Vom Militärbündnis zur Militärpartnerschaft

Konstruktionsplan für den neuen NATO-Hauptsitz.
Foto: David Edgar. Dieses Foto steht unter einer Creative Commons-Lizenz.

2. März 2009
Sven Biscop
Von Sven Biscop

Die Hauptaufgabe des NATO-Gipfels im April 2009 zum sechzigsten Geburtstag der Allianz wird die Entwicklung eines neuen strategischen Konzepts sein. Das ist ein Auftrag, der zweifellos eine intensive und nicht einfache Debatte über die Zukunft des Bündnisses auslösen wird.

Für diese Debatte ist es wesentlich zu begreifen, dass sich der Kontext, in dem die NATO heute arbeitet, grundlegend verändert hat und daß dementsprechend einige ebenso grundlegende Veränderungen in der Gestaltung der transatlantischen Beziehungen erforderlich sind.

Schon seit einiger Zeit hat sich das Zentrum der politischen Schwerpunktbildung von der NATO zur Europäischen Union (EU) und zu den Vereinigten Staaten (USA) verschoben. Die NATO ist nicht länger das Forum für die Debatte zwischen Europa und Nordamerika. Bei vielen Fragen – das Galileo-Programm oder die Atomverhandlungen mit dem Iran zum Beispiel – hat man den direkten Dialog zwischen der EU („Brüssel“) und Washington vorgezogen.

Außerdem haben viele der Fragen, die heute am dringlichsten sind, nur indirekt mit den Feldern Sicherheit und Verteidigung zu tun. Nicht allein, dass die NATO wenig oder gar keinen Sachverstand in Bezug auf die Finanzkrise, den Klimawandel, die Energieversorgung etc. hat – es hieße auch ein sehr seltsames Zeichen setzen, wollten wir ein militärisches Bündnis damit beauftragen, diese Fragen anzugehen. Mehr noch, selbst in Hinsicht auf Fragen der Sicherheit und Verteidigung ist eine umfassende, ganzheitlich ausgerichtete Herangehensweise gefragt, die auch die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aspekte der Außenpolitik berücksichtigt. Und was manche Probleme betrifft – vor allen anderen die Beziehungen zu Russland -, so ist die NATO eher Teil des Problems als der Lösung.

NATO als Zweisäulensystem

Tatsächlich hat sich die NATO zu einem „Zweisäulensystem“ entwickelt, in dem die EU und die USA parallel zu den einzelnen nationalen Regierungen die vorrangige Entscheidungsebene darstellen. Die EU und die USA sind in der Lage, eine übergreifend ausgerichtete Außenpolitik zu betreiben und ihre Aktivitäten bei Hilfsaktionen und im Handel, der Förderung von Demokratie und Menschenrechten sowie in der Diplomatie und in der Verteidigungspolitik zu koordinieren. Und im Gegensatz zur NATO ist die EU wesentlich mehr als eine bloße zwischenstaatliche Organisation.

Wichtig ist allerdings, dass zugleich eine strategische Divergenz zwischen der EU und den USA aufgetreten ist, die sich am deutlichsten in den jeweiligen Strategien ausdrückt. Wo die nationale Sicherheitsstrategie der USA besonders betont, dass die Welt ein sehr gefährlicher Ort sei, legt die europäische Sicherheitsstrategie besonderes Gewicht auf die Komplexität der Welt. Dieser Unterschied wird nicht verschwinden, wenn ein neuer Präsident ins Weiße Haus einzieht, denn er resultiert nicht aus Veränderungen in der amerikanischen, sondern in der europäischen Politik – die EU ist sich immer deutlicher der eigenen Interessen und Prioritäten bewusst geworden.

Diese zweiseitige Entwicklung – engere Zusammenarbeit zwischen USA und EU einerseits, wachsende Divergenz in ihren strategischen Ansichten andererseits – sollte sich in der Organisation der transatlantischen Beziehungen widerspiegeln:

(1)Die Partnerschaft zwischen EU und USA muss vertieft und umfassender und funktionstüchtiger gestaltet werden. In einer multipolaren Welt muss die EU den nötigen Spielraum haben, allen weltweiten Akteuren gegenüber eine flexible Politik zu betreiben, doch Amerika wird unzweifelhaft der engste Verbündete Europas bleiben. Diese politische Partnerschaft sollte entschieden mehr sein als bloße „Gipfelkonferenzpolitik“. Unter Umständen müssen neue Foren und Institutionen geschaffen werden, in denen diese Partnerschaft gepflegt werden kann. Ganz sicher muss der europäische Dialog mit den USA von der EU aus kollektiv geführt werden. Unter den Voraussetzungen einer solchen Partnerschaft wäre die NATO mehr als eine technische und exekutive Körperschaft. Ganz sicher würden EU und USA bei einer gemeinsamen Militärpolitik sich der NATO zur Verfolgung ihrer Ziele bedienen.

(2) Das neue strategische Konzept der NATO sollte an der Schnittstelle zwischen der europäischen Sicherheitsstrategie und der nationalen amerikanischen Sicherheitsstrategie angesiedelt sein. Die primäre Entscheidungsebene auch für Sicherheit und Verteidigung liegt mehr und mehr bei den beiden „Säulen“ EU und USA. Während früher von einer EU-Säule innerhalb der NATO gesprochen wurde, sind beide Säulen heute faktisch die dominierenden Akteure. Aus europäischer Perspektive ist die EU der Platz, an dem die Entscheidungen über ein Eingreifen oder Nichteingreifen bei einer Krise getroffen werden. Entscheidet man sich für Militäraktionen, geht es anschließend darum, den operationellen Rahmen dafür zu wählen: die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP), die NATO, die UN oder die OSZE. Das wird immer eine Ad-hoc-Entscheidung sein und davon abhängen, welche Partner sich beteiligen wollen und welche Organisation für die jeweilige Krise am geeignetsten erscheint. Die Wirklichkeit ist zu komplex, um von vornherein eine starre Arbeitsteilung festzulegen.

(3) Deshalb müssen auf der Ebene der EU im Kontext der ESDP die europäischen militärischen Kapazitäten durch unterschiedliche Formen der Zusammenarbeit und Bündelung weiterentwickelt werden. Das würde die Autonomie der ESDP garantieren und zugleich gewährleisten, dass die integrierten europäischen Kräfte für NATO-Operationen eingesetzt werden können, falls diese als Rahmen für eine bestimmte Mission gewählt wurde. Die EU und die NATO können außerdem eine Vereinbarung über den gemeinsamen Einsatz der zivilen Einheiten der EU treffen. Die EU sollte in vollem Umfang in die Entwicklung von Szenarios einbezogen werden, bei denen die NATO eine Militäroperation und die EU einen parallelen zivilen Einsatz durchführt.

Es ist jetzt an den Europäern, die Initiative zu ergreifen. Wird die EU dazu in der Lage sein? De facto findet eine Entwicklung zu einer „Zweisäulen-NATO“ statt, aber damit dieses Modell effektiv funktionieren und eine wirkliche Partnerschaft unter Gleichen sich entwickeln kann, muss Europa mit einer Stimme sprechen und als eine Einheit handeln.

Prof. Dr. Sven Biscop ist Leiter des Security & Global Government Programme in Egmont (Belgien) am Royal Institute for International Relations (Brüssel) und Gastprofessor am College of Europe in Brügge und an der Universität Gent

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