Interview mit Layla Al-Zubaidi
Frage: Im März diesen Jahres wurde der internationale Sondergerichtshof, der die Ermordung des libanesischen Ministerpräsidenten Rafik al-Hariri ahnden soll, in Den Haag eröffnet. Am vergangenen Samstag hat der Spiegel einen Artikel veröffentlicht, demzufolge das Tribunal die maßgebliche Verantwortung für das Attentat der Hisbollah zuweist. Wie wurde der Bericht von der Hisbollah aufgenommen?
Al-Zubaidi: Der Bericht hat für Aufsehen gesorgt. Einen Tag nach seinem Erscheinen ließ Hisbollah verlauten, der Bericht sei pure Fabrikation, die dazu diene, die in zwei Wochen anstehenden Parlamentswahlen zu Gunsten des pro-westlichen Lagers, der sog. „14. März Koalition“ um die sunnitische Future-Bewegung von Saad al-Hariri, Sohn des ermordeten Ministerpräsidenten, zu beeinflussen. Es wird nämlich davon ausgegangen, dass die von der Hisbollah angeführte „8. März Koalition“, in der sich auch die schiitische Amal-Partei um Parlamentspräsident Nabih Berri und das christliche Free Patriotic Movement um General Michel Aun befinden, eine knappe Mehrheit im Parlament gewinnen wird. Einige Vertreter der „14. März Koalition“, vor allem Anführer der drusischen Gemeinschaft Walid Jumblat, verurteilten die im Spiegel-Bericht enthaltenen Schuldzuweisungen jedoch scharf. In einem öffentlichen Auftritt am vergangenen Montag zum neunjährigen Jahrestag des israelischen Rückzugs aus dem Südlibanon, ging Generalsekretär der Hisbollah Hassan Nasrallah ausführlich auf den Spiegel-Bericht ein und bezeichnete ihn als äußerst gefährlich. Nasrallah dankte Jumblat für seinen Mut und beschuldigte Israel, Drahtzieher des Berichts zu sein - mit dem Ziel, Sunniten und Schiiten zu spalten und Hisbollah zu schwächen.
Das prowestliche Lager nutzt den Bericht also nicht für den Wahlkampf?
Befürchtungen, die politischen Gegner der Hisbollah könnten den Bericht für sich nutzen, haben sich bislang nicht erfüllt. Saad al-Hariri hält sich bedeckt und verweigert einen Kommentar bevor sich Sprecher des Tribunals offiziell äußern. Sein enger Verbündeter Jumblat hingegen ging wesentlich weiter. Rasch warnte er vor „Gerüchten” und Medienberichten, die konfessionellen Zwist schüren. Er verglich die Veröffentlichung des Berichts sogar mit dem Anschlag auf einen Bus in Ain Al-Rummaneh im Jahr 1975, der als symbolischer Auslöser für den blutigen libanesischen Bürgerkrieg gilt. Vermutlich hegen sie die Befürchtung, dass sich das für das prowestliche Lager wichtige Sondertribunal diskreditiert, wenn vertrauliche Informationen zu den Medien durchsickern oder das Tribunal gar als rein politisch motiviert wahrgenommen wird. Letzteres ist im pro-syrischen Lager sowieso bereits seit langem der Fall. Zudem möchte man eine zweite Auflage der Auseinandersetzungen vom Mai 2008 vermeiden, mit denen die Hisbollah ihre militärische Übermacht demonstrierte und deutlich machte, dass eine Entwaffnung derzeit außer Frage steht.
Bisher galt Syrien als Hauptverdächtiger im Mordfall Hariri. Ist Syrien mit dem Spiegel-Bericht nun aus dem Gespräch?
Darüber, wer letztendlich den Befehl zum Attentat gab und welche Akteure an seiner Ausführung beteiligt war, kann man momentan nur spekulieren. Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen, bzw. das Tribunal hat die Ergebnisse noch nicht bekannt gegeben. Ebenso wenig wissen wir, ob Ergebnisse tatsächlich vorsätzlich zurückgehalten werden, wie der Autor des Spiegel-Berichts vermutet. Auch wenn die Rolle Syriens nicht geklärt ist, ist es jedoch höchst unwahrscheinlich, dass ein solch ausgeklügeltes und massives Attentat auf libanesischem Boden ohne Beteiligung oder zumindest Mitwissen der syrischen Geheimdienste durchgeführt werden konnte. Der Bericht lenkt nun die Aufmerksamkeit recht unvermittelt auf Hisbollah. Allein dies ist den Hisbollah-Unterstützern ein Beweis dafür, dass das Tribunal politisch motiviert ist. Von Beginn an galt Syrien dem prowestliche Lager und seinen außenpolitischen Verbündeten, Frankreich und den USA, als Hauptdrahtzieher. Vor knapp zwei Monaten schließlich hat das Tribunal entschieden, vier seit dem Jahr 2005 inhaftierte pro-syrische libanesische Generäle zu entlassen, da für ihre Verstrickung in das Attentat zumindest bis jetzt die Beweise fehlen. Das hat dem pro-syrischen Lager Auftrieb gegeben und Zweifel an der Neutralität der Ermittlungen des ersten, aus Deutschland stammenden, Untersuchungsbeauftragten Detlev Mehlis aufkommen lassen. Dass das Tribunal laut Spiegel-Bericht nun die Hisbollah ins Visier nimmt, erscheint ihren Anhängern als suspekt.
Wie kann vor diesem Hintergrund der internationale Gerichtshof seine Legitimität in den Augen der libanesischen Bevölkerung gewährleisten?
Das Tribunal war von Beginn an Teil des politischen Tauziehens. Man darf nicht vergessen, dass der Konflikt zwischen den beiden erbittert verfeindeten Lagern über die Etablierung des Gerichtshofs eskalierte. Für die damalige, pro-westliche Regierungsmehrheit unter Ministerpräsident Fuad Seniora war das Tribunal wichtig. Sie wollten so die syrischen Geheimdienste und das Regime in Damaskus vor einer weiteren Einflussnahme und politischen Morden abschrecken. Hisbollah und ihr strategischer Verbündeter Syrien befürchteten hingegen, dass die USA Druck auf das Tribunal ausüben würden, seine Ermittlungen alleine und auch ohne eindeutige Beweise auf die Spitzen des syrischen Regimes zu konzentrieren, um Damaskus Zugeständnisse in anderen Bereichen abringen zu können, zum Beispiel was die Waffenlieferungen an Hisbollah betrifft. Als schließlich im November 2006 eine Kampfabstimmung über die Ratifizierung des Tribunals angesetzt wurde, traten alle schiitischen Minister geschlossen zurück. Der damalige Präsident Emile Lahoud, der als Befehlsempfänger des syrischen Präsidenten Baschar Al-Asad galt, erklärte daraufhin das verbliebene Rumpfkabinett wegen fehlender schiitischer Beteiligung für verfassungswidrig und boykottierte zusammen mit Parlamentspräsident Berri die Regierung. In der Folge führte der Gegensatz zwischen den Lagern zu einer völligen Blockade der politischen Institutionen, die bis zu den gewaltsamen Auseinandersetzungen im Mai 2008 und des darauf folgenden, in Katar ausgehandelten politischen Kompromisses in Form einer nationalen Einheitsregierung andauerte. Das Land war während dieser zeit vollkommen gelähmt.
Wie hat die libanesische Öffentlichkeit den Spiegel-Bericht aufgenommen?
Im Vorfeld der Wahlen greift das Lagerdenken in der Öffentlichkeit sehr stark. Der Wahlkampf der Parteien trägt dazu bei, Emotionen und konfessionelle Ressentiments zu schüren. Dementsprechend interpretieren die Anhänger der Hisbollah den Bericht als zionistisch-westliche Verschwörung, während bei eingeschworenen Gegnern der Hisbollah und Anhängern der Hariri-Familie die Aversionen gegen die Partei Gottes steigen. Im Allgemeinen fragen sich jedoch alle Seiten, warum der Bericht ausgerechnet jetzt erschien. Auch moderate Beobachter, die nichts auf Verschwörungstheorien geben, vermuten hinter der geheimen Quelle politisches Kalkül. Dass die dem Spiegel-Bericht zugrunde liegenden Informationen aus dem Hariri-Lager stammen, wie von manchen vermutet, ist jedoch unwahrscheinlich. Warum sollte das Hariri-Lager, das jahrelang Syrien der Ermordung Rafiq al-Hariris beschuldigt hat, nun davon ablassen nur um einige Wählerstimmen mehr zu erringen?
Gibt es eine Debatte zur Beweislage?
Das wird sehr skeptisch gesehen. Der Bericht stützt sich darauf, dass eine Reihe der mit dem Attentat in Zusammenhang gebrachten Mobiltelefone Mitgliedern der Hisbollah gehörten. Politische Beobachter können darin noch keinen zwingenden Beweis sehen, dass der Befehl für das Attentat tatsächlich von der Spitze der Hisbollah ausging. Hisbollah-Expertin Amal Saad-Ghorayeb vermutet, dass die im Spiegel-Bericht erwähnten Informationen über Beweise, ein Hisbollah-Kommando habe die Ermordung des libanesischen Hauptfahnders Wissam Eid durch einen gezielten Anschlag im Januar 2008 durchgeführt, Zwietracht zwischen Hisbollah und staatlichen Sicherheitsdiensten säen sollen. Dazu muss man wissen, dass die Hisbollah derzeit mit den Sicherheitsdiensten kooperiert, um weit reichende israelische Spionagenetzwerke im Libanon aufzudecken.
Vor allem jedoch können die meisten Libanesen kein klares Motiv für den Mord erkennen. Dass Nasrallah aufgrund der wachsenden Popularität Hariris eine unliebsame Konkurrenz aus dem Weg zu räumen suchte, erscheint ihnen angesichts der komplexen Lage im Libanon als stark verkürzt. Auch dass Hariri Nasrallah aufgrund seines „opulenten, westlichen Lebensstils“ ein Dorn im Auge gewesen sein soll, klingt angesichts der persönlichen Bande zwischen beiden Männern wenig überzeugend. Zudem setzte sich Hariri beim französischen Präsidenten Jacques Chirac dafür ein, Hisbollah nicht auf die europäische Terrorliste zu setzen. Da Hariri trotz seiner wachsenden anti-syrischen Haltung im Hinblick auf die Hisbollah eher auf Kompromiss denn auf Konfrontation setzte, stellte er kaum eine direkte Gefahr für Nasrallah dar.
Zeichnet sich ab welche Folgen die vom Spiegel veröffentlichen Informationen haben werden?
Ich denke nicht dass der Bericht die Wahlen direkt beeinflussen wird. Die Wähler sind zu polarisiert um wegen eines deutschen Zeitungsartikels die Lager zu wechseln. Sollten die Ermittlungen jedoch tatsächlich auf die Hisbollah zulaufen, kann sich die Situation verschärfen. Ob nun mit einer parlamentarischer Mehrheit oder mit Vetorecht in der Opposition ausgestattet, die Hisbollah wird in jedem Falle versuchen, ihre Interessen zu wahren - das heißt, alle Versuche ihren militärischen Flügel zu entwaffnen, abwehren. Sollte ein internationales Verfahren gegen die Partei eröffnet werden, könnte dies, so Paul Salem, Direktor des Carnegie Middle East Centers in Beirut, einen Bürgerkrieg provozieren. Dies kann nicht im Interesse der prowestlichen Koalition sein. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass der Gerichtshof auf ein ordentliches Verfahren beharrt, das Transparenz und Rechtsstaatlichkeit garantiert. Nur so kann gewährleistet werden, dass politische Mörder im Libanon in Zukunft nicht länger straffrei ausgehen.
Wie äußern sich die libanesischen Medien zu dem Spiegel-Bericht?
Die libanesischen Medien, in der Mehrheit Sprachrohre der verschiedenen Lager, mahnen recht einstimmig zur Vorsicht. Die moderate Zeitschrift Al-Safir warnte in einem Beitrag am 26. Mai 2009 davor, den Spiegel-Bericht als „Tatsache“ hinzunehmen (wie dies der israelische Außenminister Avigdor Lieberman tat, der zur umgehenden Verhaftung Nasrallahs aufrief).
Ein Leitartikel im prowestlichen Daily Star vom 25. Mai 2009 fragte, warum der Bericht kurz vor den Parlamentswahlen erscheinen musste und appelliert an die deutsche Presse, sich ihrer journalistischen Verantwortung bewusst zu sein. Der Artikel warnte vor den möglicherweise fatalen Konsequenzen, sollten Ergebnisse der Ermittlungen voreilig gestreut werden – wobei offen sei, ob man dem Bericht nun Glauben schenken könne oder nicht: „Tinte zu verschütten ist nicht das Gleiche, wie Blut zu vergießen” lautete das düstere Fazit der Autoren.
Layla Al-Zubaidi leitet das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut.