Internationaler Atommüll lagert weiterhin in Sibirien

Internationaler Atommüll wird weiterhin nach Russland exportiert und dort teilweise endgelagert. Dabei arbeiten undurchsichtige Staatskonzerne und private Atomriesen zusammen. -> Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen zum Thema Atomkraft.

Medienöffentlichkeit funktioniert manchmal seltsam, vor allem wenn es um Skandale geht. Seit über fünf Jahren klagen deutsche und russische Umweltschützer und Atomgegner, deutscher Atommüll werde illegal nach Russland exportiert und dort praktisch endgelagert. Die Aktivisten demonstrierten, blockierten und schalteten sogar die Staatsanwaltschaft ein. Doch das öffentliche Echo blieb bescheiden. Protest und Skandal interessierten gerade mal die einschlägige Presse wie taz und Frankfurter Rundschau. Und wenn die Tagesschau einmal über die Aktionen in Gronau, bei Aktionärsversammlungen von E.ON oder RWE oder am Hafen von St. Petersburg berichtete, so blieb das auch folgenlos. Im August dieses Jahres wurden die Atommülltransporte nach Russland eingestellt, weil die Verträge ausgelaufen sind. Und nun wachen plötzlich die deutschen Medien durch einen Bericht über ähnliche französische Praktiken auf.

Trotz der Einstellung der Transporte mauern die Verantwortlichen bis heute. Ihre Rechtfertigung ist einfach: Es handele sich bei den aus dem westfälischen Gronau über Rotterdam und St. Petersburg nach Sibirien gebrachten Materialien nicht um Müll, sondern um »Wertstoffe«, die nach der Wiederaufarbeitung in Russland zurück nach Gronau gingen, um dort erneut zu Brennstoff für deutsche Atomkraftwerke verarbeitet zu werden. Doch das ist höchstens die halbe Wahrheit. Und eine halbe Wahrheit ist bekanntlich eine Lüge.

Lagerung unter freiem Himmel
Seit 1996 hat die Firma Urenco, die die Urananreicherungsanlage in Gronau betreibt, 27.300 Tonnen radioaktives und hochgiftiges Uranhexafluorid nach Sibirien transportieren lassen. Doch nur 10 bis 15 Prozent des Materials kamen wieder nach Gronau zurück. Der Rest, sogenanntes »abgereichertes« Uran, das als Brennstoff nicht mehr verwendet werden kann, wird in Sewersk (bei Tomsk) und Angarsk (in der Nähe von Irkutsk) in Fässern unter freiem Himmel gelagert. Dass sei, sagt Urenco, bei Anreicherungsverträgen so üblich. Sowohl Urenco als auch der staatliche russische Atomkonzern Rosatom behaupten, das abgereicherte Uran lagere in Sibirien sicher. Das kann nun aber nach aller Erfahrung mit dem Umgang mit radioaktiven Stoffen in Russland mit Fug und Recht bezweifelt werden. Russische Umweltschützer haben dazu in den vergangenen 20 Jahren eine schier überwältigende Menge an Beweisen gesammelt. Fasst man all diese Informationen zusammen, ist es keine Übertreibung zu behaupten: Es gibt überhaupt keine sichere Lagerung von Atommüll in Russland.

An vielen Orten in Russland, bevorzugt in Sibirien, wird russischer Atommüll in unzureichend gesicherten Lagerstätten aufbewahrt. Dort gibt es immer wieder Lecks. Radioaktive Stoffe gelangen ins Grundwasser, in Seen und Flüsse, aus deren Unterläufen viele Millionen Menschen ihr Trinkwasser beziehen. Die Ural-Region und Westsibirien, hier liegt Tomsk, leidet zudem noch immer unter den Folgen der ersten und bis heute neben Tschernobyl größten Atomkatastrophe im Atomkombinat Majak nahe Tscheljabinsk im September 1957. Damals explodierte ein Container mit flüssigen Atomabfällen. Wie viele Menschen radioaktiver Strahlung ausgesetzt wurden, ist bis heute nicht genau bekannt. Doch noch immer leben Menschen in verstrahlten Dörfern.

Zusammenarbeit undurchsichtiger Staatskonzerne und privater Atomriesen
Schon unter den Bedingungen einer aufmerksamen und kritischen Öffentlichkeit wie in Deutschland fällt es Betreibern von Atomanlagen schwer, transparent und sauber zu arbeiten. Doch verglichen mit Russland sind deutsche Atomanlagen geradezu durchsichtig. Alle russischen Atomanlagen sind in dem staatlichen Konzern Rosatom zusammengeschlossen. Rosatom ist eine sogenannte »Goskorporazija«, ein staatliches Unternehmen, für das die Marktgesetze außer Kraft gesetzt sind und das direkt durch staatlich ernannte Manager geführt wird. Ein großer Teil der Tätigkeit von Rosatom unterliegt zudem der Geheimhaltung, weil unter diesem Dach die sogenannte zivile und die militärische Nutzung von Atomtechnologien vereinigt sind. Eine Trennung in ziviles, sprich »gutes« und militärisches, sprich »schlechtes« Atom fehlt in Russland also völlig.

Im Frühjahr dieses Jahres machte der deutsche und private Atomriese Siemens Schlagzeilen, weil er seine Partnerschaft mit dem französischen staatlichen Atomkonzern Areva aufkündigte und mit dem russischen Staatskonzern Rosatom anbandelte. Es gab einige Aufregung im deutsch-französischen Verhältnis. Andre Glucksmann schäumte im Figaro, »Großdeutschland« träume davon, aus der Krise zu kommen, indem es »Großrussland« auf eigene Faust modernisieren helfe. Die Verhältnisse schienen zerrüttet. Doch der Atommüllskandal zeigt, dass beim gemeinsamen Geldverdienen die Feindschaft aufhört. Es gibt eine internationale Vernetzung der Atomindustrie mit Russland und seinen enormen Potentialen, seiner geringen Transparenz und seiner großen ökologischen Verantwortungslosigkeit ist ein begehrter Partner, um den allseits angesammelten Dreck loszuwerden. Möglichst billig.

Russische und deutsche Umweltschützer fordern, Urenco müsse sich seiner Verantwortung stellen und das in Russland verbliebene Uranhexafluorid zurück transportieren lassen. Das wird teuer, aber das ist der Preis, der in Deutschland für das Weiterbetreiben von Atomanlagen gezahlt werden muss. Eine Endlagerung von Atommüll im Ausland kann weder rechtlich noch ethisch gerechtfertigt werden.


Jens Siegert ist Leiter des Länderbüros Russland der Heinrich-Böll-Stiftung in Moskau. Zuvor arbeitete er zehn Jahre in Moskau als Korrespondent für deutschsprachige Printmedien und Radiosender.

Erstveröffentlichung in der Russland-Analyse Nr. 190 vom 23.10.2009, S.2-3,  www.laender-analysen.de/russland