Von Joscha Schmierer
In gewisser Hinsicht steht die EU vor einem Neubeginn. Sie hat einen neuen Vertrag und mit diesem Vertrag hat sie zwei neue Ämter geschaffen, besser gesagt, zwei alte Ämter sind neu verfasst worden: das Amt des Präsidenten des Europäischen Rates, der nun nicht mehr jedes halbe Jahr wechselt, und das Amt des Hohen Vertreters für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU, also eine Art Außenminister, der nun zugleich Vizepräsident der Europäischen Kommission sein wird. Beide Ämter bleiben in ihren Funktionen von den Staats- und Regierungschefs abhängig. Der Präsident hat den Vorsitz des Europäischen Rates und vertritt ihn. Er bereitet dessen Sitzungen vor und leitet sie. Wenn er klug und geschickt agiert, kann er die Willensbildungsprozesse dieses immer noch prägenden Gremiums der EU moderieren. Der Rat steht für die Seite der Staatenunion in der EU während das Europäische Parlament die Unionsbürgerschaft repräsentiert. Im Geschick und der Überzeugungskraft, die Entscheidungsprozesse des Europäischen Rates zu moderieren, besteht auch eine Möglichkeit der Führung.
Es lebe der neue Ratspräsident!
Die Regierungschefs von 27 Staaten für Entscheidungen zu gewinnen, die mit der EU-Kommission vorbereitet und abgestimmt sind, und bei Mehrheitsentscheidungen im Rat auch die Kräfteverhältnisse im Parlament im Auge haben, ist eine anspruchsvolle Rolle. Ergebnisorientierte Moderation wird bereits die Fähigkeit zur Führung voraussetzen. Warum sollte man Herman van Rompuy, dem belgischen Ministerpräsidenten, nicht zutrauen, mehr als bloßer Diener des Rates, sondern dessen Sprecher zu werden, und ihn zu größerer Einheit zu führen? Die Einsetzung des Präsidenten sagt noch gar nichts, entscheidend wird sein, was er aus seinem Amt macht. Versagt er im Großen und Ganzen beschädigt er das Amt auch für die Zukunft, kann er was mit dem Amt etwas anfangen, verschafft er ihm mit seiner Kompetenz einen Rang, den ihm die Staats- und Regierungschefs vielleicht gar nicht zugedacht hatten.
Dass der Präsident jetzt seine Autorität aus der Wahl durch die Staats- und Regierungschefs zieht und nicht mehr aus dem Gewicht des Mitgliedslandes, dessen Regierung er führt, kann seine Position schwächen, wie Jochen Bittner voraussieht:
„Mehr Kontinuität bei der Themenstellung, so will’s die Lissabon-Theorie, soll der neue, auf zweieinhalb Jahre ernannte Sachwalter herbeikoordinieren. Doch die Praxis lehrt, dass die Regierungschefs nicht geneigt sind, sich von Zeremonienmeistern die Butter vom Brot nehmen zu lassen. Sie müssen schließlich daheim wieder gewählt werden – der Ratspräsident hingegen von ihnen.“ (Hello, Mr. Europe?, Die Zeit 19.11. 2009)
Schon wahr, aber die Praxis lehrt auch, worauf Klaus-Dieter Frankenberger in der FAZ vom 19. November hinweist: „Doch wie immer in solchen Situationen wird der neue Präsident mit der Zeit ein machtpolitisches Selbstbewusstsein entwickeln und sich nicht mit der Rolle eines Protokollanten de luxe zufrieden geben. Er wird ein eigenes Gewicht beanspruchen (müssen).“ Die Erfahrungen der nächsten zweieinhalb Jahre werden interessanter sein als die Wahl selbst. Und hoffentlich werden sie der europäischen Öffentlichkeit zugänglicher sein, als die Motive und Prozeduren, die schließlich in diese Wahl mündeten.
Der neuen Außenministerin viel Glück!
Mit dem Amt eines “Außenministers“ der EU gibt es bereits Erfahrungen. Javier Solanas Bilanz ist gemischt. Während er in akuten Krisen gelegentlich hervortreten konnte, schien sein Einfluss bei länger anhaltenden Krisen ständig zu schwinden. So ging es ihm im Balkan, so ging es ihm in Afghanistan. Im Nahen Osten ist er nie wirklich in Erscheinung getreten. Gegenüber dem Iran und seinem Atomprogramm hatten die Außenminister der drei großen Mitgliedstaaten der EU, Großbritannien, Frankreich und die Bundesrepublik die Initiative ergriffen mit dem Eröffnungszug zu Verhandlungen. Das Hickhack danach überließen sie dann weitgehend Solana. In seiner Verhandlungsführung blieb er ständig doppelt belastet: Einerseits waren die Europäer der US-Regierung unter Bush zu weit entgegen gekommen, indem sie vom Iran einen grundsätzlichen Verzicht auf jede Urananreicherung verlangten (Schurkenstaat!), andererseits führte dies aber keineswegs dazu, dass sich die USA aktiv an den Bemühungen um eine Verhandlungslösung beteiligten.
Mit der Präsidentschaft von Barack Obama hat sich das geändert: Die USA verlangen nicht mehr den vollständigen Verzicht auf Urananreicherung, sondern die Transparenz des iranischen Atomprogramms, die den verbalen Verzicht auf die Bombe erst glaubhaft machen würde. Sie erklärten sich zu einer direkten Beteiligung an den Verhandlungen bereit. Die Früchte, die in dieser neuen Situation heran reifen könnten, werden jedenfalls nicht mehr von Solana mit geerntet werden können. Vielleicht kam aber der Schwenk der US-Politik ohnehin zu spät. Jedenfalls zeigt die Iranpolitik, dass es nicht immer gut ist, der aktuellen Position der US-Politik möglichst weitgehend entgegenzukommen, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass sich diese Position ändern kann und man auf eine solche Änderung auch hinwirken kann.
Der größte Erfolg Solanas und seines Stabes dürfte in der Vorbereitung der europäischen Sicherheitsstrategie bestehen, die der Europäische Rat 2003 verabschiedete, also in einer konzeptionellen Arbeit, die zu einer gemeinsamen Sicht auf die großen Sicherheitsfragen unter den Mitgliedsstaaten beitrug. Hier wurde an einer gemeinsamen Melodie der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik gearbeitet, statt sich der Illusion hinzugeben, die EU werde jemals mit einer Stimme sprechen. „Einheit in Vielfalt“, so ein Standardslogan europäischer Politik, lässt sich nur durch konzeptionelle Abstimmung zwischen EU-Institutionen und den Mitgliedsstaaten erreichen.
Strukturelle Schwächen werden überwunden
Die Arbeit des hohen Beauftragten litt unter den zwei strukturellen Schwächen des Amtes. Zum einen war er nicht direkt an der Verfügung über die finanziellen Hilfsmittel einer Außenpolitik der EU beteiligt. Über sie verfügt die Kommission. Man erinnert sich vielleicht an die Reibereien zwischen Chris Patten, dem früheren EU-Außenkommissar, und Javier Solana im Zusammenhang mit dem Balkan-Stabilitätspakt. Indem der Hohe Vertreter in Zukunft als Vizepräsident Mitglied der Kommission sein wird, wird seine Funktion gestärkt – auch gegenüber dem Europäischen Rat, von dessen einstimmigen (!) Beschlüssen er dennoch abhängig bleibt. Der Hohe Vertreter wird mit Catherine Ashton eine Vertreterin sein, eine Britin mit der Erfahrung eines Mitgliedes der Kommission. Mitglied der Kommission wird sie auch in ihrer neuen Funktion bleiben. Im Unterschied zu Javier Solana muss Catherine Ashton damit vom Europäischen Parlament bestätigt werden. Das wird ihre Legitimation erhöhen. Eine weitere Stärkung der Funktion besteht darin, dass die Vertretung der gemeinsamen Außen und Sicherheitspolitik in Zukunft über einen europäischen diplomatischen Dienst verfügen soll, den es in den kommenden Jahren aufzubauen gilt. Bisher hatte der „Außenminister“ keinen Zugriff auf die Vertretungen der EU-Kommission. Die Arbeitsbereiche dieser Vertretungen waren zudem vorwiegend wirtschaftlich ausgerichtet. Dass Solana über keinen diplomatischen Apparat verfügte, schwächte seine Rolle bei der Überwindung von Konflikten grundsätzlich. Er hatte niemand vor Ort. Wenn der diplomatische Dienst der EU wie vorgesehen schließlich ein Personal von rund 7000 Angestellten umfasst, wird Catherine Ashton sehr viel wirksamer tätig sein können als ihr Vorgänger. Der diplomatische Dienst der EU wird dann an die Größe der auswärtigen Dienste der großen Mitgliedsländer heranreichen. Er dürfte insbesondere für junge Diplomaten aus kleineren Mitgliedstaaten attraktiv sein. Auf diese Art könnte sich innerhalb der EU und ihrer Außenpolitik ein besserer Ausgleich zwischen den Gewichten der größeren und kleineren Mitgliedsstaaten ganz zwanglos ergeben.
Erstes Erfordernis: konzeptionelle Verständigung
Die Europäische Union ist in der Staatenwelt ein außenpolitisches Unikat. Selbst kein Staat, wird die Europäische Union in ihrem Inneren aus Staaten gebildet, die keineswegs bereit sind, auf eine eigene Außenpolitik zu verzichten. Erst recht außen hat es die EU mit Staaten zu tun. Vor allem im Verkehr mit den großen Staaten muss sie sich behaupten. Sie muss oft mit Anforderungen umgehen, denen sie nicht nachkommen kann. Ein scheinbar harmloses, aber unpassendes Ansinnen war die berühmte Frage von Kissinger, was denn die Telefonnummer der EU sei. Die Frage zielte auf die Existenzberechtigung der EU als Nicht-Staat unter Staaten. Auch jetzt wird sich nichts an der Dreifaltigkeit von Kommissionspräsident, Präsident des Europäischen Rates und der hohen Vertreterin ändern. Man sollte aber die internationale Rolle der EU nicht unterschätzen. Ohne sie gäbe es keinen internationalen Strafgerichtshof und die Klimapolitik wäre noch weiter als jetzt hinter den notwendigen Veränderungen zurück, um nur zwei Beispiele zu nennen.
Wenn die neuen Amtsträger in den neuen Ämtern den Schwerpunkt ihrer Arbeit nicht auf konzeptionelle Klärungen legen, werden sie die Vorteile des Neubeginnens verspielen. Um nur ein paar außenpolitische Fragen zu nennen: Wie kann die EU ihr Verhältnis zur Türkei verbessern, mit der sie einerseits in Beitrittsverhandlungen steht und die sie andererseits immer wieder vor den Kopf stößt? Dabei setzt die türkische Regierung ihre mutige Reformpolitik auch aus eigenem Antrieb fort, im Moment vor allem gegenüber der kurdischen Bevölkerung in der Türkei. Mit Notenvergabe seitens der EU kann sie dabei eher rechnen als mit Unterstützung. Die türkische Regierung entfaltet eine selbstständige Regional- und Nachbarschaftspolitik. Die EU täte gut daran, sich um bessere Abstimmung zu bemühen und daraus Vorteile zum Beispiel für die Iranpolitik zu ziehen.
Kann die EU als wichtiger Geldgeber für den zivilen Aufbau in Afghanistan auch auf die militärische Strategie der NATO Einfluss gewinnen? Sind die neuen Töne aus der russischen Führung ernst zu nehmen und was kann die Außenpolitik der EU dazu beitragen, dass schöneren Worten auch Taten folgen? Wie kann die EU am besten zur Stabilität der Ukraine beitragen? Und vor allem: Wie begreift die EU ihre Stellung zwischen den großen Mächten, wie stuft sie ihre Beziehungen zu ihnen ein und stimmt sie diese Beziehungen aufeinander ab? Die EU bewegt sich ja nicht zwischen Polen, gleich weit von allen entfernt, während sie selbst sich als weiteren Pol versteht. Wie stark setzt die EU auf die Möglichkeiten globaler Governance über Clubs wie G 8 und G 20. Wie verhalten sich diese Clubs zum Rahmen der UN? Wie reagiert die EU auf „G 2“, also die wechselseitige Abhängigkeit von USA und China und die weltweite Sorge um das gedeihliche Verhältnis dieser Schlüsselmächte?
Die konzeptionelle Verständigung innerhalb der EU über diese und andere wichtige Fragen entscheidet über eine wirksame Außenpolitik der EU. Sie ist vom konstruktiven Zusammenwirken vieler Akteure abhängig: von der Zusammenarbeit von 27 Mitgliedstaaten und deren gutem Verhältnis zu ihrer dreifaltigen internationalen Repräsentanz durch Kommission, Ratspräsident und hohe Vertreterin der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Vorschusslorbeeren können Van Rompuy und Mrs. Ashton nicht erwarten, wohl aber faire Neugier.
Joscha Schmierer
Jeden Monat kommentiert Joscha Schmierer aktuelle außenpolitische Themen. Der Autor, freier Publizist, war von 1999 – 2007 Mitarbeiter im Planungsstab des Auswärtigen Amts.