Wie sollen wir leben?

Foto: v.l.n.r. PD Dr. Reinhard Loske, Prof. Tine Stein, Prof. Harald Welzer
© Heinrich-Böll-Stiftung

Klimapolitik zwischen Struktur- und Kulturwandel

17. Februar 2010
Timon Mürer
Bericht zur Jahrestagung der Grünen Akademie, Berlin 22.-23.01.2010 

Von Timon Mürer

Ökologische Krise und Antikrisenpolitik werden kulturelle und soziale Konsequenzen auch im reichen Norden haben. Kulturwandel kommt - entweder aus Zwang in der Reaktion auf Notlagen oder aus Freiheit durch Einsicht in die Notwendigkeit des Handelns. Dabei wird es nicht ausreichen, die technische Seite dieses Handelns zu thematisieren. Ein verändertes Verkehrssystem setzt eine veränderte Haltung zum Auto voraus; eine Umstellung auf ökologische und emissionsarme Landwirtschaft muss Hand in Hand gehen mit veränderten Ernährungsgewohnheiten; ökologisches und energiereduziertes Bauen geht nicht ohne veränderte Wohnideale. Die kulturelle Dimension des Wandels und die Willensbildung in der Bevölkerung hierüber stellen uns vor Herausforderungen, die wir nicht dadurch lösen werden, dass wir das ökologische Thema durch Technisierung und Expertisierung aus der öffentlichen Debatte verdrängen. Wie kann das Verhältnis zwischen der Gestaltung von ökologischer Reformagenda und kulturellem Wandel – zwischen klimapolitischen Zwang und lebensweltlichem Freiheitspostulat - politisch thematisiert werden, ohne einen moralisierenden und selbstgerechten Gestus zu erzeugen? In welcher Weise ist überhaupt politisches Handeln möglich, das einen Kultur- und Lebenswandel beeinflusst, der den Klimawandel begleiten muss? Wie ist der innergesellschaftliche Resonanzraum nach Klassen, Schichten und Milieus für eine solche Debatte beschaffen – inklusiv oder exklusiv? Und kann ein neues Konsument_innenverhalten markt- und politikvermittelt auf eine zukunftstaugliche Produktionskultur einwirken? Diese Fragen hatte sich die Grüne Akademie auf die Agenda ihrer Jahrestagung gesetzt, die am 22. und 23. Januar 2010 in Berlin stattfand.

Am Freitagabend referierte PD Dr. Reinhard Loske, derzeit grüner Senator für Umwelt, Bau, Verkehr und Europa in der Hansestadt Bremen und zuvor u.a. Forscher am Wuppertal-Institut und dann Bundestagsabgeordneter, sowie Prof. Harald Welzer, Sozialpsychologe und Leiter des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen (KWI), der sich in jüngerer Zeit in zwei Büchern mit dem Zusammenhang zwischen Klimawandel und (fehlender) kultureller Anpassung beschäftigt hat. Die Moderation übernahm Prof. Tine Stein.

Harald Welzer versteht die Frage "Wie sollen wir leben" als eminent politisch. Dass sie in den letzten 20 Jahren kaum mehr gestellt worden sei, sieht er als eine der Ursachen für den "politischen Quietismus". Verantwortlich dafür sei das "Vakuum des visionären Denkens" nach 1989, nachdem sich die politische Rechte nun in der besten aller möglichen Welten wähnte, für die Linke aber ihr ideengeschichtlicher Referenzrahmen implodiert sei. Vor dem Hintergrund sieht er im Engagement zum Klimawandel eine politische Chance, auch wenn er vorerst mehr Fragen als Antworten anzubieten hatte.

Denken im Futur II
Die Frage danach, wie wir leben wollen, ist politisch wirksam, weil sie eine sozialpsychologisch grundlegende, eine "identitätskonkrete" Fragestellung beinhalte, was sich auf der Kollektivebene in Deutschland zum Beispiel auf dem Gebiet der Identitätspolitik gezeigt habe. Diese Frage lautet: Welche Geschichte kann man über sich bzw. über diese unsere Gesellschaft erzählen? In die Form des Futur II übertragen, lässt sich diese heuristisch nutzbringend umformulieren: Wer möchte ich gewesen sein? Angewendet auf die Herausforderung Klimawandel: Werden wir diejenigen gewesen sein, die "das Ruder herumgerissen haben"?

Ein Hindernis bei der Formulierung von Antworten sieht Harald Welzer in der Dominanz von naturwissenschaftlichen Experten bei Gegenwarts- und Zukunftsfragen (gemeint war insb. IPCC). Diese stellen sachlich-technische Diagnosen, definieren regionale Unterschiede und sich ergebende Kosten – und fordern dann wiederum technisch verstandene Governance. Es fehle, fuhr Wenzel fort, das Verständnis für gesellschaftliche Prozesse und insbesondere kulturelle Aspekte.

Hier stellen sich subjektive Hürden in den Weg wie die Resistenz und Trägheit gegenüber Veränderungen. "Man ist eben selber das Problem, über das man spricht", so der "C" Welzer, weil unser ganzes Innenleben, in Anlehnung an Norbert Elias, vom „Automobilismus“ durchprägt sei. Permanent sehe man sich vor Entscheidungen und entsprechende Aporien gestellt, mit denen man die klimaschädliche Praxis fortschreibt. Die Trägheit des Habitus sei von entscheidender Bedeutung für die Frage, wie wir leben sollen, und Hindernis für einen kulturellen Wandel, Der Übergang zur postkarbonen Gesellschaft sei mit der ersten industriellen Revolution vergleichbar – mit dem gravierenden Unterschied, dass der heute erforderliche Wandel sich nicht selbstläufig einstelle, sondern intentional, gewollt, erfolgen müsse.

Hier stellt sich dann auch die Frage nach den gesellschaftlichen und politischen Akteuren neu: Wer ist eigentlich das Subjekt des "Wir" im Titel der Debatte? "Wir" als die Weltgesellschaft sei eine Fiktion ohne homogene Interessenlage, doch auch die lagerbezogenen Großkategorien links-rechts oder konservativ-progressiv "stimmen nicht mehr". Noch drängender stelle sich die Frage hinsichtlich der am meisten Betroffenen, der Jungen und den noch nicht Geborenen. Die Herausforderung bestehe darin, Handlungsformen für die Repolitisierung, für das Narrativ unserer Geschichte zu finden. Die konventionellen Rhetoriken - vor allem die des "ganz anderen" – seinen "am Ende".

Reinhard Loske als Folge-Redner war nicht davon überzeugt, dass sich die gegenwärtige Situation grundlegend von früheren Krisen- und Umbruchzeiten durch die geforderte "Intentionalität" unterscheide, und verwies auf die langen Kondratjew-Zyklen.

Seinen eigenen Vortrag leitete Reinhard Loske mit einigen Zahlen über das Verhältnis von Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum in den letzten 2000 Jahren ein. Hielten sich diese während des ersten und zweiten Jahrtausends auf niedrigem Niveau mehr oder weniger die Waage, wandelt sich das Bild in den letzten 200 Jahren. Seit den 1820er Jahren, also dem Beginn der Industriellen Revolution, hat eine Phase des exponentiellen Wachstums eingesetzt, in dessen Verlauf sich die Verdopplungszeiten zunehmend verkürzen. In dieser Phase wuchs die Wirtschaftsleistung noch deutlich stärker als das sich ebenfalls beschleunigende Bevölkerungswachstum. Diese Zahlen illustrieren auch den Handlungszwang. Freilich, "was sei es schon, nach einer Tabelle wollen zu müssen", zitierte Loske - Dostojewski, fügte jedoch hinzu: "Wir müssen nicht nur sollen und wollen, wir müssen auch müssen!"

Dies sei umso mehr gefordert, wenn man sich Phänomen, die durch sprunghafte Entwicklungen hervorgebracht werden, vor Augen führe: Wie im Falle der Eutrophierung eines Gewässers verhält sich eine ansteigende Einwirkung (z.B. die Erhöhung der Nährstoffe durch Überdüngung) nicht linear zu ihren Folgen (z.B. Algenwuchs), vielmehr beschleunigen sich ab einem bestimmten Punkt, dem Tipping-Point, die abhängigen Prozesse durch Rückkopplungseffekte rasant, das Gewässer "kippt". Auch für die globale Erwärmung und die sie verursachenden Kohlenstoffemissionen werden Tipping-Points angenommen. Davon ausgehend stelle sich die Frage, so Loske, ob wir "springen können", wenn dieser Punkt erreicht werden sollte und schob hinterher: "Wir müssen und wollen, als gute Demokraten!"

Quellen der Wachstumskritik
Um zu zeigen, wo es Anknüpfungspunkte geben könnte und wo anzusetzen sei, zog Loske die Geschichte der Umweltbewegung heran. Die Wachstumskritik der 1970er Jahren bezog sich hauptsächlich auf zwei Quellen: zum einen die "biophysikalische Debatte", wie sie sich im Meadows-Bericht des Club of Rome oder dem an den US-Präsidenten gerichteten  Bericht "Global 2000" verdichtete; zum anderen in der Konsumkritik, exemplarisch formuliert etwa in Erich Fromms „Haben oder Sein“, die Konsum jenseits eines natürlichen Minimums als pathologisch ansah. Später trat zu diesen Quellen noch eine dritte hinzu, die sich kritisch mit der Frage befasste, ob das Bruttoinlandsprodukt/BIP als Indikator für Wohlstand geeignet sei. Der zweite Strang riss Ende der 80er Jahre ab, obwohl dieser, so Loske, „kulturell am wirkmächtigsten“ gewesen war. Exemplarisch stünden die Grünen für diesen Prozess, für die der Abschied von der Kulturkritik dem „Ablegen eines Stigmas“ gleichkam und sie gegen den Ideologievorwurf „immunisieren“ sollte.

Jedoch sei zu beobachten, dass dieser Ansatz wieder zurückkomme, auch weil der technologische zu kurz greife: wie der sogenannte Rebound-Effekt zeige, würden die durch verbesserte Technologien erzielten Effizienzgewinne vom Konsum aufgehoben. Mit einer Wiederauflage der Verzichtdebatte sei es jedoch nicht getan, vielmehr müsse man auf Möglichkeiten setzen und den Ansatz als "Entfaltungsdebatte" weiterentwickeln. Das Nachhaltigkeitsprinzip kenne zwei Wege, den kulturellen und den technischen: jener kreise um Begriffe wie Suffizienz, Verteilung oder das rechte Maß, dieser um Effizienz, Konsistenz und Risikominderung, die dann auf unterschiedliche Handlungsfelder angewendet werden (Soziales, Wirtschaft, Ökologie, etc.). Den Grünen riet Reinhard Loske, nicht nur auf den technischen Weg zu setzen, sondern die Chance für ihre Vorreiterrolle darin zu sehen, dass sie auch auf aktuelle kulturelle Fragen wieder Antworten formulierten.

Verzicht vs. Entfaltung?
Inwiefern stehen sich Verzicht und Entfaltung, Zwänge gegen Möglichkeiten tatsächlich und sich ausschließend gegenüber? Mit einer Reihe von Beispielen aus seiner Erfahrung als Senator in Bremen zeigte Reinhard Loske, dass vom Klimawandel abverlangten Anpassungen in konkreten Maßnahmen der Stadtpolitik auch Potential zur Veränderung freisetzen. Für die Bereiche Bauen und Infrastruktur formuliert Bremen z.B. als Ziel eine klimafreundlichere Mobilität - der Anteil des ÖPNV am Verkehrsaufkommen soll verdoppelt, der Radverkehr von 25 auf 40 Prozent erhöht und Car-Sharing Angebote durch privilegiertes Parken attraktiver gemacht werden. Statt Bauen auf der grünen Wiese wird vermehrt auf Verdichtung und gemeinschaftliche Wohnformen gesetzt. Um dies zu erreichen - Brachen und Baulücken zu schließen -, müsse er im Einzelfall auch in Kauf nehmen, als "Baummörder" tituliert zu werde. Gleichzeitig warnte er davor, nur auf den "LoHaS-Approach" zu setzen, da dies die Gefahr der Klientelpolitik und Segmentierung in sich berge und die Zuständigkeit "fürs Ganze" aufgebe.
Verzicht oder Entfaltung? Sicher sei, dass es in Zukunft nicht um "es wird alles besser" gehen werde, sondern eben auch in erster Linie um „es möge nicht schlechter werden.“ Gegenüber Harald Welzer, der eine neue Politisierung fordert, vertrat Reinhard Loske damit eher einen Ansatz des pragmatischen "Maßhaltens".

In der anschließenden Diskussion plädierte Peter Siller für einen emphatischen Fortschrittsbegriff gerade hinsichtlich des technologischen Fortschritts, um die kulturellen Fragestellungen "zu entlasten". Nötig sei eine Begeisterung für eine "dritte industrielle Revolution", wie sie etwa die Raumfahrt in den 50er und 60er Jahren hervorbringen konnte. Er warnte vor einer "Kulturalisierung" der ökologischen Debatte und vor einer "Pathologisierung“ von Positionen, die nicht mit dem LoHaS-Modell konform gehen. Auch Winfried Maier zeigte sich skeptisch und fragte, ob man sich nicht eher auf die Konsequenzen des Klimawandels vorbereiten müsse, anstatt auf eine intentionale kulturelle Wende zu setzen. Kommunalpolitische Anpassungen, wie Reinhard Loske sie vorschlage, können aber höchstens "Aufwärmübungen" darstellen. Auf Suffizienz und das rechte Maß zu setzen, helfe nicht weiter, weil die sie früher regulierende Macht der Tradition nicht mehr greife. Angesichts der Pluralisierung der Lebensstile kann "das Ausreichende nur noch gesetzt" werden, was auf Einschränkung und Rationierung hinauslaufe. Entfaltung könne es dann allenfalls im "nichtstofflichen Bereich" der Kommunikation geben. Ralf Fücks sieht den Schlüssel darin, wirtschaftliches Wachstum und Naturverbrauch zu entkoppeln. Zentral sei dafür die Frage, auf welcher Energie-Basis die Transformation stattfinde und ob Europa und ob die Grünen dabei Vorreiter sein werden.

(K)Eine neue Fortschrittsvision?
Dem Ruf nach einer neuen Fortschrittsvision erteilten sowohl Loske als auch Welzer eine Absage. Für Harald Welzer ist der Begriff zu stark mit den Fehlentwicklungen der Industrialisierung verknüpft. Reinhard Loske plädiert für ein positives Zukunftsbild, das nicht mit Fortschrittsglauben gekoppelt  ist. Eher brauche es "Mut zur Entschlossenheit", ein Plädoyer, mit dem er sich ein weiteres Mal als Anhänger einer Tugendethik zu erkennen gab, die sich auch in seiner Verteidigung von "traditionalen Beständen" und Gemeinsinn als Quellen der notwendigen Anpassungsleistungen widerspiegelte. Diese Position unterstützt auch Tine Stein, die daran erinnerte, dass religiöse Normen eher auf Langfristigkeit angelegt seien und damit eine Ressource für einen nachhaltigen Wandel darstellen können.

Mehrfach wurde die dichotome Gegenüberstellung von Technik und Kultur kritisiert. Georg Krücken wies darauf hin, dass z.B. in Innovations-, Kreativitäts- oder Kulturforschung der jeweils andere Teil mittlerweile eine feste Größe sei. Effizienz und Suffizienz gehören zusammen; am Beispiel des Emissionshandels erscheint der Kulturwandel quasi in ökonomische Instrumente "verpackt".

Skeptisch äußerte sich Helmut Wiesenthal: Die Option eines kulturellen Wandels kommt in der öffentlichen Debatte kaum vor. Zudem sei der Einfluss Deutschlands, ob positiv oder negativ, weltweit gering, selbst wenn die ambitioniertesten Ziele erreicht würden. Gefordert wird ein neues europäisches Prosperitätsmodell. Ein industriepolitisches Beispiel ist Bremerhaven mit seinem Hoffnungsträger Offshore-Windenergie.

Sybille Volkholz brachte die Debatte auf die Frage nach dem "Wir" zurück. Wo sind die Akteure des Kulturwandels? Ihrer Meinung nach ist es richtig, bei den "subjektiven Einstellungen" anzuknüpfen und sich gesellschaftliche Organisationen und Wirtschaftsakteure als Partner zu suchen. Harald Welzer sieht vor allem junge Menschen als Akteure, die in letzter Zeit gezeigt haben, dass es politische Themen – wie Proteste gegen Überwachung und Gor-leben oder die Erfolge der Piratenpartei – gibt, die viele Leute mobilisieren können, aber die sich – auch in ihrer Suche nach Aktionsformen – oft genug nicht in der offiziellen Politik wiederfinden. Gibt es (neue) Subjekte mit klaren "Wir"-Identitäten – oder Ausdifferenzierung und Konflikt im Zuge des Klimawandels? In der lokalen Praxis können Naturschützer und grüne Stadtplaner_innen an Projekten von Nahverkehr, Fernwärme oder Windrädern in Konflikt kommen: Konstellationen, die jenseits gegenseitiger Überheblichkeit zum Nachdenken darüber auffordern, wie klimapolitische Betroffenheit und Suche nach Handlungsoptionen die künftige politische Kommunikation herausfordern.

Wider die Klimadiktatur
Kritisch wurde wiederholt die Rolle des International Panel on Climate Change (IPCC) bewertet, der das Problem und seine Lösungen rein technisch definiert. Der Ansatz einer "Steuerung von oben" mit sichtbar mangelnder sozialer und kultureller Kreativität und mangelndem Verständnis gesellschaftlicher und politischer Prozesse lässt das Gespenst der "Klimadiktatur" aufscheinen. Rebecca Harms übte in diesem Kontext auch Selbstkritik: In der Zeit der rot-grünen Regierung habe man das Feld IPCC oder UNEP überlassen, und heute habe die deutsche Regierungspolitik den Willen zur Vorreiterrolle aufgegeben und demonstriere die Haltung, jetzt seien erst einmal die Anderen dran.

Greenomics?
Der folgende Samstagvormittag wollte die Generaldebatte des Vorabends in einer Weise fortsetzen, dass eine konkrete Perspektive auf den real sich vollziehenden Kulturwandel und unser So-Leben zur Debatte gestellt wurde. Wie weit greift die Perspektive eines "kritischen Konsums"? Ist "Konsumentendemokratie" eine gesellschaftspolitisch taugliche Sicht – oder ist ökologisch verantwortliches Konsumbewusstsein nicht zu allererst eine Neuauflage des Distinktionsbegehrens der Mittelschicht? Welche Relevanz hat heute "bewusster Konsum"?
Hierzu sprachen Dr. Eike Wenzel/ Zukunftsinstitut, die Autorin Katrin Hartmann und die Politikwissenschaftlerin Dr. Gülay Caglar unter Moderation durch Peter Siller.
 
Eike Wenzel wandte sich von der Frage "Wie sollen wir leben" hin zur Perspektive: Welcher "Megatrend" von kulturellem Wandel und Lebensweise ist bereits beschreibbar? Die Fragerichtung der Trend- und Zukunftsforschung wollte er hier klar unterschieden wissen von Methoden und Zielen der Marktforschung. In sogenannten Megatrends werden langfristige Entwicklungen von 20-30 Jahren beschrieben, die in alle gesellschaftlichen Bereiche hineinwirken und, so eine These, gesellschaftlich breit streuen und nicht allein in umreißbaren Milieugruppen wirksam sind. Seit den 90er Jahren wird der Lifestyle of Health and Sustainability beobachtet, der als Gesellschafts- und Konsumtrend wirkmächtig sei, nicht zuletzt deshalb, weil die ihn tragenden LoHaS Träger eines seit längerem anhaltenden Wertewandels sind hin zu einer "Ökonomie der Erfahrung" auf Basis einer neuen Konsum-Skepsis. Dieser, so skizzierte Eike Wenzel, erstrecke sich von der Pflichtkultur der 50er/60er Jahre über den Hedonismus der 70er/80er Jahre hin zu den gegenwärtigen Leitwerten der LoHaS, darunter Authenzität, Erfahrung, Natürlichkeit, Engagement und einem breit verstandenen Konzept von Spiritualität. Unter anderem an der Frage, ob Spiritualität als neuer Indikator zu werten sei und was darunter zu fassen sei, schieden sich in der Diskussion die Geister, da nicht klar war, was gemeint sei, außer "etwas anderes als der schnöde Mammon" (Wenzel). Lebenspraktisch erscheint für das LoHaS-Konzept charakteristisch, Ansätze zu verbinden, die zuvor als sich ausschließend verstanden worden waren: Hierfür stehen Schlagworte wie "moralischer Hedonismus" oder "idealistischer Pragmatismus". Widersprüche müssen demnach nicht mehr in Verzweiflung, Ironie oder Verzicht führen, sondern können in einen produktiven Zusammenhang überführt werden: "Wo die Gewissheiten versagen, beginnt das Zeitalter der Verantwortung"...

Der "Wertewandel auf den Konsummärkten" mit seiner neuen Aufmerksamkeit für Belange von Natur, Umwelt und pragmatischer Versöhnung bringt die neuen "Sinnmärkte" hervor: Das Konsumprodukt soll als Bereicherung erfahrbar werden und ein Mehr an Bewusstsein mit sich bringen. Beispiele für solche Sinnmärkte finden sich in Bildung oder Tourismus – mit Firmen wie der holländischen Kuyichi, die aus einer NGO entstand und heute z.B. Outdoor-Artikel aus recycelten Fischernetzen produziert. Die harte ökonomische Basis der beschriebenen Trends illustrierte der Referent in Zahlen: Die LoHaS-Domäne der Kultur- und Kreativwirtschaft ist demnach in USA und Europa ein veritabler wirtschaftlicher Faktor. Auch die Marktforschung bestätige diese Erkenntnisse mit eigenen Studien, in denen bereits bis 30 Prozent der Bevölkerung zu den LoHaS zählen. Dennoch wollte sie Wenzel nicht als milieuartig abgrenzbare Zielgruppe, sondern als gesellschaftlich-kulturelle, durchaus marktvermittelte Veränderungsbewegung verstanden wissen und folgt darin ihrem "Erfinder" Paul Ray, dessen 2000 erschienenes Buch den Titel trug "How 50 Million People will change the world" (auch wenn er mit "World" wohl die USA meinte).
Das Wissen, dass viele Firmen verkaufstaktisch "die grüne Welle reiten" und durchaus die Konsument_innen hinters Licht führen, schmälert nicht den Optimismus, dass die wirtschaftlich-kulturelle Zukunft zumindest hierzulande den auf moralisches und nachhaltiges Wirtschaften verpflichteten Unternehmen und den LoHaS gehöre. In einer repräsentativen Spiegel-Online-Umfrage von September 2009 sprachen sich fast 40 Prozent für eine greenomics-Wirtschaft aus. 

"Märchenstunde"
Katrin Hartmann nahm in ihrer Replik eine überaus kritische Position gegenüber dem guten Konsum ein, wie sie sie schon in ihrem Buch "Märchenstunden: Wie die Industrie die Lohas und Lifestyle-Ökos vereinnahmt" vorgetragen hat. Ein Konsumtrend werde nicht die Logik der Profitwirtschaft umkrempeln, und gewisse Änderungen im Konsumverhaltens seien nicht gleichbedeutend mit wirklich neuen Verhaltensmuster sind. Gesund und nachhaltig zu konsumieren sei zwar nicht falsch, doch eben weil die Lohas keine homogene Gruppe darstellten, blieben sie  ohne Ziele und politischen Anspruch und blieben unfähig, politischen Druck auszuüben und zum Beispiel verbindliche soziale und politische Standards durchzusetzen.

Entgegen den Zahlen Wenzels hob Hartmann hervor, dass Produkte aus fairem Handel derzeit gerade 2 Prozent, Bioprodukte knapp 4 Prozent des Gesamtmarktes ausmachen. Und obwohl immer mehr Stromkunden den Anbieter wechseln, wählt nur eine kleine Minderheit Ökostrom. Ähnlich sehe es beim konstant hohen Fleischkonsum (50 Prozent der Klimagase stammen aus der Tierhaltung), bei der Überfischung oder beim Billigflieger-Boom aus. Zudem werde der gute Glauben der Konsumenten immer wieder ausgenutzt, wenn Firmen ihre zerstörerischen Herstellungsprozesse mit PR "grünwaschen" wollen, wie z.B. Iglus Fischstäbchen. Die negative Folge ethischen Konsums liege in der Täuschung der Konsument_innen und der Produktion verbraucherpolitischer Bequemlichkeit. 

Katrin Hartmann ließ sich auf das Argument marktvermittelter Veränderungen nicht ein, sondern wiederholte ihr Argument, dass Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten struktureller Art sich nicht mit Konsum begegnen ließen und offensichtliche Widersprüche der Produktionsbedingungen damit nicht auflösbar seien. Die Gewinner des "Biobooms" seien die Discounter, die ihre Profite mit teueren Bioproduktion steigern konnten, doch auf die deutsche Landwirtschaft habe er keinen Einfluss. Tatsächlich stagniert die Anbaufläche von Biobauern in Deutschland bei 5 Prozent. Das viel gebrauchte EU-Bio-Siegel frage auch nicht nach fairen Arbeitsbedingungen oder ob Biorindfleisch per Flugzeug importiert werde und von Tieren stammt, die auf abgeholztem Regenwaldboden weiden. Der Perspektive einer besseren nachhaltig-gesunden Konsumwelt hielt Hartmann entgegen, dass die tatsächlichen Verhältnisse auf der Welt nicht besser, sondern schlechter geworden seien. Der gute Konsum fungiere als  "Privatablasshandel" gegenüber einer ausbeuterisch strukturierten Weltwirtschaft.

Die Moralisierung der Märkte
Die Runde der Referent_innen schloss Dr. Gülay Çağlar, die die Perspektiven der beiden Vorredner_innen neu verknüpfte durch den Rekurs auf die These von der "Moralisierung der Märkte" (Nico Stehr 2007, Suhrkamp).  Sie besagt, dass Konsumentscheidungen in der Tat auch die Produktion beeinflussen und dass moralische Werte gehandelt werden. Dennoch bleibt durchaus offen, ob die Moral die erhoffte weit- und tiefgreifende Wirkung entfaltet.

Gülay Çağlar hielt zunächst fest, dass die Annahme, dass durch Konsumentenentscheidung auf die Produktion Einfluss genommen werde und nicht nur ökonomische, sondern auch moralische Werte (wie Fairness, Nachhaltigkeit oder Solidarität gehandelt werde) im Widerspruch zum neo-klassischen Mainstream der Angebotsthese in den Wirtschaftwissenschaften stehe. Vertreten wird hier, dass Präferenzbildung und Markthandeln institutionell eingebettete kollektive Praktiken darstellen – eine Sicht, die bestätigt wird durch das tatsächlich gestiegene Angebot von Öko- und nachhaltigen Produkten. Allerdings sage das Angebot selbst nichts darüber aus, wie sich die Produktion der Nachfrage stelle und welche Wirkungen diese wiederum entfalte. Beispiel Biosprit: Er war als regenerative Energiequelle alternativ zu fossilen Brennstoffen entwickelt worden. Während der Ernährungskrise 2008 stellte sich aber heraus, dass nicht zuletzt die Forcierung des Zuckerrohranbaus zu einer massiven Verknappung der Anbauflächen für Nahrungsmittel geführt und die Krise dadurch beschleunigt hatte. Ökologische und soziale Motive der Produktion und ihrer Folgen entsprechen sich durchaus nicht zwangsläufig.

Ein weiteres Problem für die Frage danach, wie weit moralische Märkte steuernd wirken, bildet die Fragmentierung der Lieferketten. Zertifizierungen können dabei nur teilweise Transparenz schaffen, die Kontrolle bleibt häufig unklar und der Manipulation ausgesetzt. Die Einhaltung sozialer Standards ist vergleichsweise schwerer zu zertifizieren.

Gibt es dennoch Wege, ökologische und soziale Verhaltensmaßstäbe für die Produktion zu verallgemeinern? Immer noch werden nur 3,5-4 Prozent der Ausgaben für Bioprodukte getätigt, damit sind diese nach wie vor nur ein Nischenprodukt. Angesichts dieser Tatsache skizzierte Çağlar drei Ebenen des Handelns. Auf einer volkswirtschaftlichen Ebene könne man über ökonomische Anreize, den Preis, die Mehrwertsteuer oder ökologische Kundenkarten nachdenken. Das Beispiel der Marke Kuyichi zeige jedoch, dass zu fairen Bedingungen und nach ökologischen Kriterien hergestellte Kleidung eher teurer und damit für breite Käuferschichten nicht attraktiv sei. Ein anderer, zentraler Bereich betrifft Fragen des Alltagsverhaltens und entwickle die größten Beharrungskräfte, z.B. bei Fragen der Mobilität. Auf einer allgemeinen politischen Ebene biete insbesondere die öffentliche Skandalisierung einen wirkungsvollen Ansatzpunkt. Voraussetzung insgesamt sei eine gelingende gesellschaftliche Politisierung des Themas.

In der anschließenden Debatte zeigte sich, dass eine Vielzahl von Aspekten angesprochen wurde, die mehr Gesprächszeit hätten haben dürfen. Da war die skeptische Überlegung vom Vorabend, in welchem Maß sich gerade Lohas-Konsument_innen infolge eines intensiven Lebensstils durch einen hohen Umweltverbrauch auszeichnen. Auch die These der aufeinanderfolgenden Wertetrends verbunden mit der Frage, was an Diagnosen tatsächlich neu und was konjunkturell wiederkehrend sei, blieb angerissen. Die Perspektive der ökologiepolitisch intervenierenden Bürgergesellschaft zu verbinden mit der Konsumentenperspektive erwies sich als Herausforderung, nicht zuletzt, was Sprachgebrauch und kulturelle Praxis anbelangte. Rebecca Harms erinnerte daran, dass die Anfänge der ökologischen Landwirtschaft nichts mit "Wohlfühlkonsum" zu tun gehabt hätten, vielmehr seien viele Produkte schlicht nicht mehr gegenüber den Verbrauchern bzw. der Umwelt zu verantworten gewesen. Heute sei ein globaler politischer Blick unverzichtbar, der auch ein Verständnis dafür braucht, dass es beim Klimawandel auch um eine handfeste Gerechtigkeitsfrage im globalen Maßstab geht.

Kosteninternalisierung und argentinische Flug-Steaks
Wie können wir handeln im Hinblick auf den Klimawandel? Die Haltungen zur Frage, ob individuelle Konsumentenentscheidungen in der Masse signifikante ökonomische und kulturelle Wirkungen entfalten, blieben kontrovers. Auch auf die Einschätzung, dass wir veränderten – und auch eingeschränkten – Konsum brauchen (Rebecca Harms), wurde wenig reagiert. Um eine Alternative "Konsum oder Politik" jedenfalls geht es nicht, konstatierte Krista Sager: Politische Intervention bleibt gefragt, auch staatliches Handeln bleibt aufgefordert, das Klima als Kollektivgut zu schützen. Die von Harald Welzer aufgeworfene Frage nach den politisierten Handlungsoptionen kann sich bewegen zwischen dem Vorschlag, ökologische Kosten z.B. für das argentinische Flug-Steak in seinen Preis zu internalisieren, der Arbeit an Zertifikaten und dem Instrument der Skandalisierung, das Gülay Caglar angesprochen hatte – und das nicht zuletzt Katrin Hartmann mit ihrer Herangehensweise praktiziert.

Mehr zur Grünen Akademie

Dieser Beitrag ist auf die Arbeit der Grünen Akademie der Heinrich-Böll-Stiftung zurückzuführen. Die Grüne Akademie ist ein Netzwerk von Wissenschaftler_innen und an Theorie interessierten Politiker_innen, die sich mit grundlegenden gesellschaftlichen Fragen an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik auseinandersetzen.