Die Dynamik der Bürgerbewegungen
Werner Schulz, geboren 1950 in Zwickau, Lebensmitteltechnologe und Politiker (Bündnis 90/Die Grünen)
Das komplette Interview kann hier nachgelesen werden (pdf-Datei).
Auszüge aus dem Interview:
Was war der Pankower Friedenskreis?
Der Pankower Friedenskreis war einerseits eine bewusste Verbindung aus den Eindrücken und Erfahrungen der Charta 77 (ČSSR), also Wohnungsopposition, die es ja auch in der DDR im Prenzlauer Berg in Ostberlin oder Leipzig gab, und der Erfahrung der Solidarnosc, also Polen, dass eine Gewerkschaftsbewegung entsteht, die den öffentlichen Raum einnimmt und sich im Schutz der katholischen Kirche bewegt und bewegen kann. Bei uns war das in Pankow das glückliche Zusammentreffen, dass mit Ruth Misselwitz eine junge Pastorin nach Pankow gekommen war und wir überlegt hatten, dass jetzt etwas passieren muss in dieser kritischen Situation der Raketenstationierung in Ost und West. Dann gab es im Oktober 1981 eine Veranstaltung in der Pankower Kirche, wo wir gemerkt haben, es gibt ja noch diesen öffentlichen Raum, wo man Veranstaltungen durchführen kann, und das ist die evangelische Kirche. Etliche von uns waren ja getauft und konfirmiert, obwohl wir mehr im eigentlichen Sinne des Wortes Protestanten waren und uns aus der Kirche entfernt hatten. Aber für diesen Zweck haben wir entdeckt, dass es in der Deutschen Demagogischen Republik mit ihren Verfechtern der Räte-Republik noch einen Rat gab, der nicht in den Händen der SED war, und das war der Gemeinde-Kirchenrat. Deswegen haben wir versucht, diesen Gemeinde-Kirchenrat zu besetzen, uns in den Gemeinde-Kirchenrat wählen lassen, einen evangelischen Kindergarten gegründet und dergleichen, damit unsere Kinder nicht dem staatlichen Erziehungsdruck ausgesetzt sind.
Was ist Wohnungsopposition?
Wohnungsopposition waren die Kreise, die sich in Ostberlin im Labyrinth der Altbauten und Hinterhöfe getroffen haben, um kritische Texte auszutauschen, zu diskutieren oder Kultur miteinander zu erleben, also das, was sich im Umfeld von Wolf Biermann, Gerd Poppe, Werner Fischer, Rainer Flügge und anderer ereignet hat.
Und das war in Wohnungen?
Ja klar. Sie konnten ja kein Kino oder Theater mieten oder so etwas. Am Ende war es eine Zahl von schätzungsweise 3.000 Leuten, die bei den Friedenswerkstätten zusammenkamen. Erstaunt war die DDR-Öffentlichkeit im Herbst 89, dass es so viele Oppositionelle gab und dass sie an verschiedensten Stellen aktiv waren. Für mich war das nicht ganz so überraschend, weil es jährlich ab Mitte der 80er Jahre die Treffen „Frieden konkret“ gab im Rahmen der Kirche. Da trafen sich Basisgruppen, Friedensgruppen, Ökologiegruppen, Frauengruppen.
Wussten Ihre Arbeitskollegen, was Sie in Ihrer Freizeit machen?
Unterschiedlich. Ich habe im Institut für Sekundärrohstoffwirtschaft dafür geworben. Ich habe auch Leute gefunden, die mitgekommen sind, gelegentlich zu thematischen Veranstaltungen.
Sie haben es also nicht geheim gehalten?
Nein, das war für mich sehr wichtig. Ich hatte mich bewusst für diesen Friedenskreis entschieden. Ich hätte auch andere Möglichkeiten gehabt, in der Opposition zu arbeiten, doch weil ich darauf bedacht war, möglichst in einem geschützten Umfeld zu wirken und nicht gleich ins Gefängnis zu kommen, kam für mich dieser Friedenskreis infrage. Wenn man Kinder hat, überlegt man sich das sehr gut, was man tut und wie weit man geht. Es war trotzdem nicht ungefährlich, selbst in diesem evangelischen Friedenskreis. Wir hatten ja auch Verhaftungen und Zuführungen und dergleichen.
Was lässt sich noch zum Stichwort Kirche in der DDR sagen?
Es war auch eine politische Sozialisation. Ich bin ein Anhänger der These, dass es auch eine protestantische Revolution war, was sich 1989 im Oktober ereignet hat. Die Leute sind aus der Nikolaikirche aufgebrochen in Leipzig. Ich habe es am 9. Oktober in Leipzig selbst miterlebt. Es hat sich dort zugespitzt, wo die Montagsgebete, die Fürbittandachten und Friedensgebete stattfanden, die Christian Führer und Christoph Wonneberger dort anboten. In der Nikolaikirche, seit 1982. Sie waren anfangs gar nicht so stark besucht. Sie haben sich erst im Laufe der Zeit, vor allem 1989, zu solchen Massenveranstaltungen entwickelt, weil dort die Ausreiseantragsteller dazugekommen sind. Im Unterschied zu vielen Berliner Kirchenkreisen, wo man eher ein kritisches Verhältnis zu den Ausreiseantragstellern hatte und sie abgewehrt hat mit der Begründung, sie bringen uns nichts, sie sind zwar radikal und zu allem entschlossen, sie mischen verschiedenes auf, sie haben sich in die Luxemburg-Demo eingemischt, das mag zwar alles sehr tapfer sein, aber es bringt uns ja nichts, weil sie nur weg wollen und im nächsten Moment weg sind. Dieses kritische Potenzial baut sich auf und dann ist es verschwunden, und der Widerstand bricht immer wieder zusammen.
Und es gab ja auch leider diese Zusammenbrüche. Wir haben sie nach den Verhaftungen im Zusammenhang mit dem Stasi-Überfall auf die Umwelt-Bibliothek und den Verhaftungen im Umfeld der Luxemburg-Demonstration erlebt. Danach war die Opposition deprimiert, weil man das Gefühl hatte, auf diese Weise wird der Impuls des Aufbegehrens immer wieder erstickt. Deswegen hat man die Ausreiseantragsteller in Berlin, vor allem in Friedrichsfelde, wo es auch einen wichtigen Friedenskreis gab, eher abgewehrt.
Die Sozialisation der Kirche hat dazu beigetragen, dass das friedlich verlaufen ist. Sie randalieren nicht in der Kirche. Die Stasi hat versucht, in Leipzig diese Montagsandachten durch ihre eigenen Leute zu besetzen, also die Kirche vorher zu füllen mit treuen Kampfgenossen aus den Kampfgruppen, den Parteiaktiven und der Staatssicherheit. Sie hatten sich vorgenommen, da mal ordentlich Zoff zu machen in der Kirche. Aber wenn man dann drin sitzt und die Orgel hört und der Pastor redet und dieses Beschauliche, atmosphärisch auf Ruhe und Frieden und Sanftheit Einstimulierende erlebt, dann neigt man nicht mehr dazu. Zwar haben sie vielen die Plätze weggenommen, doch der Effekt war: Sie saßen drinnen und die wirklich rein wollten, standen draußen und konnten sich zur Demo sammeln. Für mich ist klar: „Keine Gewalt“ – dieser Begriff, der in Leipzig die Montagsdemo bestimmt hat, ist die prägnanteste und kürzeste Zusammenfassung der Bergpredigt. Begleitet von Kerzen. Als man mit Kerzen auf die runde Ecke in Leipzig marschiert ist, dort, wo die Bezirksverwaltung der Staatssicherheit war und die Tschekisten an ihren Monitoren diese Demonstration auf sich zukommen gesehen haben und auf der Basis ihrer leninistisch geschulten Revolutionstheorien natürlich dachten, jetzt wird die Tür eingetreten und jetzt werden wir aufgehängt oder jetzt werden sie Feuer legen, jetzt werden sie uns lynchen, und dann sahen sie dieses Feuer in Form von Kerzen auf sich zukommen, die auf den Treppen abgestellt wurden, da waren sie völlig fassungslos, weil sie das in ihren Instruktionen und auch in ihrem Kopf nicht hatten, dass so etwas passieren könnte, dass Konterrevolutionäre Kerzen abstellen und nicht zur Attacke übergehen. Insofern standen sie zwar Gewehr bei Fuß, aber sie waren irgendwo entwaffnet, ideologisch entwaffnet.
Hatten Sie Angst?
Ja. Ich hatte Angst am 9. Oktober, das Falsche gemacht zu haben. Ich hatte am 9. Oktober früh morgens damit gerechnet, dass wir verhaftet werden, weil es der letzte Moment war, wo sie die Situation noch in den Griff bekommen konnten. Denn in Berlin gab es am 7. Oktober bereits Prügelorgien auf dem Alexanderplatz. Das hing mit den Protesten zur Kommunalwahl am 7. Mai zusammen, dass an jedem 7. der nachfolgenden Monate Protestveranstaltungen stattfanden. Nun fiel das am 7. Oktober mit dem Republikfeiertag zusammen. Erich Honecker und seine Genossen hatten eine große Party im Palast der Republik mit Swing-Dance-Band und dergleichen. Michail Gorbatschow war gekommen. Draußen standen die Leute, riefen „Gorbi“ und protestierten gegen die gefälschte Kommunalwahl. Die Polizei griff ein, verprügelte die Leute, die flüchteten in die Gethsemane-Kirche im Prenzlauer Berg. Die Gethsemane-Kirche wurde daraufhin hermetisch abgeriegelt. Es kam zu brutalen Verhaftungen. Ich rechnete damit, dass nach diesen Exzessen am Montag, dem 9. Oktober richtig abgeräumt wird. Heute wissen wir, dass es Internierungslisten und -lager gab, dass alles vorbereitet war. Ich hatte früh meine Papiere und was ich so hatte, von dem ich dachte, dass man es nicht finden sollte, aus dem Haus gebracht, und sah vor dem Haus den üblichen Wartburg, den man kannte, mit zwei jungen Männern drin, die früh morgens nichts anderes zu tun hatten, als im Auto zu sitzen und Zigaretten zu rauchen. Ich ahnte, was jetzt ablaufen würde. Ich bin dann über das Hinterhaus, über die Gärten raus, um nach Leipzig zu fahren. Als ich vormittags in Leipzig ankam, sah die Stadt aus wie Wallensteins Lager, wie ein Manövergebiet und nicht wie eine Messestadt. Und dann kam mir in den Sinn: Oh Gott, du Idiot, jetzt bist du in Berlin halbwegs davon gekommen und nun gerätst du richtig in den Schlamassel. Wir alle hatten die Furcht, dass es die chinesische Lösung geben könnte.
Wieso sind Sie denn nach Leipzig gekommen?
Also das war ein Zufall. Wir hatten in Berlin beim Neuen Forum damit gerechnet, dass die Ereignisse sich in Berlin zuspitzen werden, und hatten dann durch den Aufruf des Neuen Forums erlebt, dass überall in der DDR das Neue Forum gegründet wurde oder Leute dem Neuen Forum beitreten wollten. Wir hatten beim Neuen Forum nichts außer einem anderthalbseitigen Aufruf für ein Neues Forum. Das Neue Forum hatte ja ganz bewusst kein Programm. Das sollte erst in einem basisdemokratischen Prozeß entstehen. Die später gegründeten Organisationen und Parteien waren programmatisch aufgestellt. Das Neue Forum hatte mit diesem Aufruf allerdings den Nerv der Zeit getroffen. Dass es nicht so weitergehen kann, dass darüber öffentlich geredet werden muss, was im Lande schief läuft. Dieser Unmut, dieses Nicht-mehr-mitmachen-Wollen war allenthalben spürbar. Das überwältigende Echo war: Ich möchte da mitmachen; wir wollen, dass das Neue Forum zugelassen wird. Wir beim Neuen Forum waren überfordert, diesen Ansturm zu kanalisieren, zumal klar war, dass wir an der Programmatik arbeiten müssten. Aus Leipzig gab es Signale, dass es sich dort zuspitzt. Wir hatten das im West-Fernsehen gesehen. Es war Leipziger Messe, und da konnte man sehen, wie dort ein Transparent niedergerissen wurde von der Staatssicherheit. Es gab massive Übergriffe und anschwellenden Protest. Es gab dann in der Initiativgruppe des Neuen Forums die Überlegung, dass jemand als Verbindungsmensch dahin geht. Wir hatten keine Telefone oder diese schicken Handys und Faxgeräte. Die Kommunikation lief noch per Rauchzeichen oder von Mund zu Mund. Alle zogen die Köpfe ein, niemand wollte gehen. Das war klar in dieser spannenden Situation. Bärbel Bohley fragte dann, wer denn den Dialekt da unten versteht. Darauf habe ich mich gemeldet, weil ich ja nun mal gebürtiger Sachse bin und mich auch in Leipzig gut auskenne. Von da an hat es mich nach Leipzig verschlagen.
Sie haben davon gesprochen, dass es für Sie eine Revolution ist, nicht Wende. Warum?
Wie definiert man Revolution? Es sind radikale Umwälzungen, radikale Umbrüche. Die Entmachtung der Herrschenden. Die damalige Elite hat komplett die Macht verloren. Sie ist allerdings auf eine demokratische und gewaltlose Weise abgewählt worden. Der Hauptanspruch dieser Revolution waren freie und geheime Wahlen. Das ist etwas, was wir am Runden Tisch auch erreicht und durchgesetzt haben. Das war der entscheidende Punkt. Wir hatten im Neuen Forum eine herzhafte Diskussion mit Rolf Henrich darüber, der der Meinung war, man müsse jetzt richtig Revolution machen. Man müsse den Generalstaatsanwalt stellen bzw. diese Position besetzen, um die Verantwortlichen aus Partei und Staatsführung hinter Schloss und Riegel zu bringen. Das fand keine Mehrheit im Neuen Forum, weil die meisten gesagt haben: Um Gottes Willen, wohin soll das führen? Wir haben noch nicht einmal Büros oder Telefone, geschweige denn Waffen – der Staat war ja bis an die Zähne bewaffnet. Diese bewaffneten Organe unterstanden alle noch der Partei bzw. dem Ministerrat oder Staatsratsvorsitzenden, also den bisherigen Entscheidungsträgern. Es war sinnlos, so etwas zu tun; und hätte alles gefährdet. Ich glaube, auf so etwas hat man gewartet, auf so etwas war man eingerichtet. Wir hatten eine Versammlung beim Neuen Forum, da gab es ein Fernschreiben aus der MfS-Bezirksverwaltung Gera, wo die Genossen der Staatssicherheit den Aufruf gestartet hatten, dass man doch jetzt endlich zurückschlagen müsse, um diese Konterrevolution zu unterbinden. Das heißt, wenn es einen Anlass gegeben hätte, wenn auf unserer Seite das gewaltsame Vorgehen erkennbar gewesen wäre, dann hätte es einen anderen Verlauf der Ereignisse gegeben. Aber so ist man eben nicht auf die Barrikaden gegangen, sondern an die Runden Tische. Das ist eine enorme Leistung, eine enorme zivilisatorische Leistung.
Hat diese Besonnenheit etwas damit zu tun, dass es eine Revolution war, die von Leuten um die 30, also nicht von ganz jungen Leuten gemacht wurde?
Sie meinen, weil die etwas älter und besonnener sind und ihre Jugendhitze schon hinter sich haben. Ja, ich glaube, es hatte einen Einfluss, dass es vielfach 68er waren, die sich 89 in der Opposition, auf den Demonstrationen und am Runden Tisch wieder trafen. Viele von uns sind durch 68 politisiert worden. Mit 68 meine ich nicht Westberlin, sondern Prag. Uns stand Dubček näher als Dutschke.
Sollte etwas nach der DDR kommen oder haben Sie gedacht, dass die DDR in sich zu verändern ist?
Ich habe in der Familie die deutsche Teilung hart zu spüren bekommen, weil mein Vater aus Baden stammt. Ich habe als elfjähriger Junge den 13. August auf der westdeutschen Seite erlebt. Mein Vater war Berufsoffizier bei der Wehrmacht und hat damals intensiv überlegt, ob er überhaupt zurückgeht in die DDR. Ich habe das nicht alles verstanden damals, aber die Männer um mich herum, alles alte Offiziere wie mein Vater, haben leidenschaftlich darüber diskutiert. Und ich habe als kleiner Junge gemerkt, dass es offensichtlich etwas ganz Einschneidendes und Schwerwiegendes ist, weil sie sich massiv darüber gestritten haben. Und plötzlich kam dieser 13. August. Ich habe das abends in einer Kneipe in Hemsbach im Fernsehen gesehen und habe gedacht, jetzt gibt es diesen Krieg, worüber die Männer gerade geredet haben. Man konnte Panzer sehen in Berlin. Ich kannte Berlin nicht und dachte, um Gottes Willen, das war’s. Und dann habe ich einen Vater erlebt, der 14 Tage außer Rand und Band war, der am Tag drei Schachteln Zigaretten geraucht hat. Wir sind dann landauf, landab gefahren. Er hat mit seinen alten Kriegskameraden gesprochen, was er denn tun sollte. Und sie haben ihm wohl alle geraten, er solle nicht zurück fahren. Nun sind wir aber doch zurückgefahren. Und das war ein so einschneidendes Erlebnis, weil die Interzonenzüge von Leipzig in den Westen und zurück rappelvoll waren. Da hat man selbst in den Gängen kaum einen Platz bekommen. Und plötzlich saß ich in einem völlig leeren Zug. Das hat mich damals schlagartig als Elfjährigen politisiert. Dann ist meine Schwester wegen Republikflucht ins Gefängnis gekommen, mein Schwager hat wegen Republikflucht acht Jahre Zuchthaus bekommen. Die Teilung habe ich sehr einschneidend und schmerzhaft erlebt. Sie ging mitten durch die Familie. Ich konnte meine Großmutter nicht mehr besuchen.
Deswegen hat mich die nationale Frage sehr interessiert. Es war mir klar, wenn die DDR reformiert wird, wird als nächstes die nationale Frage stehen. Denn eine reformierte DDR mit Mauer: wie sollte das gehen? Aufmachen oder Reiseerleichterungen bzw. Reisefreiheit zu gewähren, würde das Grundproblem von 1961 wieder aufwerfen.
Insofern war mir schon klar, dass wir dem nicht ausweichen können, aber es war nicht das erste Thema. Das wichtigste Thema war zunächst: Wie könnten die Reformschritte aussehen, wie kommen wir ein Stück weiter, dass wir uns im eigenen Land frei bewegen können, endlich frei reden können, frei organisieren können, das lesen und machen können, was wir wollen und was wichtig ist? Die Vorstellungskraft darüber hinaus, dass es diese DDR nicht mehr geben würde und statt dessen dann ein völlig freies Land, ist so nie konkret diskutiert worden. Es ist dann im Galopp gegangen. Wir sind den Ereignissen hinterher gehechelt, so wie alle. Dabei dachte ich, dass wir mithalten könnten, denn wir haben eine ganz ordentliche Verfassung am Runden Tisch entworfen. Diese Verfassung hätte auch einen sehr guten verfassungsmäßigen Weg zur deutschen Einheit hergegeben.
Wie hätte der aussehen können?
Ab einer bestimmten Zeit war uns sonnenklar, dass die „Sonne schön wie nie über Deutschland scheint“, wie es in unserer Nationalhymne hieß, die nicht mehr gesungen werden durfte, und dass man die deutsche Einheit gestalten muss. Wir haben deswegen im Verfassungsentwurf am Runden Tisch vor allem den Weg favorisiert, über Artikel 146 Grundgesetz zu gehen. Der Streit war damals zwischen Artikel 23, also Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes, oder Artikel 146 (dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tag, an dem sich das Deutsche Volk in freier Selbstbestimmung eine Verfassung gibt). Wir haben ja streng genommen heute noch keine Verfassung, sondern immer noch ein Grundgesetz.
Wir wollten, dass die Verfassung des Runden Tisches noch für die DDR angenommen wird. So war es am Runden Tisch vereinbart. Es war das Vermächtnis des Runden Tisches. Wir haben den Verfassungsentwurf auch in die Volkskammer eingebracht. Wir wollten, dass er im Verfassungsausschuss diskutiert wird, dass die Volkskammer den überarbeiteten Entwurf verabschiedet und zur Diskussion stellt in der Bevölkerung, dass eventuelle Veränderungen, Anregungen und sonstige Präzisierungen noch mit aufgenommen werden können, dass der Entwurf noch mal überarbeitet wird und dass der überarbeitete Entwurf am 17. Juni 1990 der DDR-Bevölkerung zur Volksabstimmung vorgelegt wird. Auf der Grundlage dieser Verfassung und des Grundgesetzes sollte eine gemeinsame deutsche Verfassung entstehen. Der Anspruch war nicht, dass man halbe-halbe oder so etwas macht. Wir haben uns auch sehr stark am Grundgesetz orientiert.
Wir wollten auch eine andere Hymne haben. Wir wollten, dass Brecht und Beethoven zusammenkommen, der Bonner und der Berliner. Das klingt heute scherzhaft. Aber wir waren ernsthaft der Meinung, wenn das deutsche Volk eine neue Hymne singen muss, dann müssen wir gemeinsam etwas Neues machen, also ein neues Lied einstudieren, wobei die Melodie vertraut gewesen wäre, denn „Freude schöner Götter Funken“ – die Europäer haben diese Hymne freigegeben, weil Europa keine Hymne hat – war bis 1960 die Hymne der gemeinsamen Olympiamannschaft. Das heißt, es war schon einmal eine deutsche Nationalhymne. Es wäre also kein Novum gewesen. 1960 in Rom wurde, wenn die deutsche Flagge hochging – die dort auch keinen Hammer-Zirkel-Ährenkranz hatte, sondern sie war nur schwarz-rot-gold – und man hatte eine gemeinsame Mannschaft, „Freude schöner Götter Funken“ gespielt. Dazu passt der Text von Brechts Kinderhymne. Das wäre besser gewesen als das, was wir heute haben.
Wäre es gut, jetzt noch einmal über eine gemeinsame andere deutsche Verfassung zu diskutieren?
Ich würde es mir wünschen, aber ich kann es mir schwer vorstellen. Ich sehe diese verfassunggebenden Mehrheiten oder verfassungändernden Mehrheiten nicht. Man hat es ja bisher vermieden. Der Hauptgrund dafür war und ist, dass man keine Volksabstimmungen haben will. Man will keine direkte Demokratie, also keine plebiszitären Elemente, obwohl die Verfassung das ausdrücklich vorsieht.
Das Interview führte Vera Lorenz, Pressesprecherin der Heinrich-Böll-Stiftung