Sieben Jahre nach der Aufhebung des Gesetzes über den Befehlsnotstand und des Schlusspunkt-Gesetzes (Ley de Punto Final) in Argentinien sind nun endlich unzählige Verfahren gegen diejenigen, die am Völkermord der Diktatur beteiligt waren, an verschiedenen Orten des Landes eingeleitet worden.
Im August dieses Jahres zeigte sich der Staatsanwalt Felix Crous noch empört über die Verschleppungstaktik und die Komplizenschaft der verschiedenen Akteure der Justiz, die die Verurteilung des im Juli verstorbenen Adel Vilas verhindert hatten. Solcherlei Verhalten war einer der Gründe für die Verzögerungen der Verfahren, insbesondere am Obersten Strafgerichtshof und bei Bundesrichtern aus Mendoza. Die Schwierigkeiten bei den Prozessen machten deutlich, dass die Einleitung der strafrechtlichen Verfolgung nicht einherging mit der Schaffung von gesetzlichen - vor allem richterlichen - Instrumenten zur Beschleunigung und Neuordnung der Verfahren.
Trotz separater Verhandlungen beachtenswerte Ergebnisse
Das Justizsystem hätte schon längst die Zuständigkeit der Gerichte für die einzelnen Fälle klären müssen, um die Verfahren stärker zu bündeln. Die Aufteilung hätte nach Vernichtungszentren oder deren Verbindungen erfolgen sollen, um auf diese Weise eine größere Zahl von Verantwortlichen und Opfern zu erfassen. Stattdessen wurden die von den Klägern eingereichten Fälle von den Staatsanwälten und Richtern voneinander getrennt verhandelt. Dies wird der Schwere der Verbrechen nicht gerecht.
Trotzdem sind die bisherigen Ergebnisse beachtenswert. Es ist zu vielen Verurteilungen gekommen. In Santa Fé gab es ein Strafverfahren für Mario Facino wegen Entführung und Mord im Falle eines Mitglieds der Bauernverbände "Ligas Agrarias". In Rosario ist die Anklage gegen die Beschuldigten - darunter Ramón Díaz Bessone - wegen der im Folterzentrum des Polizeipräsidiums begangenen Verbrechen verlesen worden. In San Martin beginnt das Verfahren gegen Reynaldo Bignone, Santiago Riveros und Luis Patti, die sich für zehn Opfer zu verantworten haben. Am 9. August beginnt in Mar del Plata ein Prozess wegen neun Morden im Marinestützpunkt. Unter den Beschuldigten befindet sich der damalige Chef des Geheimdienstes, Alfredo Arrillaga. In La Plata findet der Prozess wegen der in der Strafvollzugseinheit 9 begangenen Verbrechen statt. Im August werden die Plädoyers des international beachteten Prozesses über die Verbrechen in den Vernichtungszentren Atlético, Banco und Olimpo gehört werden. Die Zeugenaussagen der Überlebenden in den Verfahren ESMA, Vesubio und Automotores Orletti (1) laufen weiter. Im September beginnt das Verfahren über die Existenz eines systematischen Plans zur illegalen Aneignung von Kindern. In San Rafael, Mendoza, stehen sechs Beschuldigte vor Gericht, die sich für vier Opfer zu verantworten haben. In Córdoba sind Anklagen gegen Jorge Videla, Luciano Menéndez und weitere siebenundzwanzig Personen wegen Verbrechen in Vernichtungszentren in der Provinz erhoben worden. In Santiago del Estero beginnt am 10. August das Verfahren gegen Videla, Menéndez und Domingo Bussi im Fall Kamenetsky; in der Chaco-Region werden Zeugenaussagen zum Massaker von Margarita Belén gegen neun Beschuldigte gesammelt; in La Pampa beginnt am 2. August das Verfahren wegen Entführung und Folter von dreißig Personen in verschiedenen Polizeistationen. Und die Liste geht noch weiter.
Der Fall „Papel Prensa“
Ein weiterer Fortschritt sind die Prozesse gegen Zivilpersonen wie José Alfredo Martínez de Hoz, angeklagt wegen Entführung der Unternehmer Gutheim, der ebenfalls international bekannt wurde. Im Falle "Papel Prensa" (2) ermittelt die Bundesgerichtsbarkeit von La Plata wegen der Entführung von Personen aus dem Umfeld der 'Grupo Graiver' (3) und deren Folterung in den Einrichtungen des Circuito Camps. Diese waren einst zur Zielscheibe der Machthaber geworden, weil sie Aktien besaßen, die den späteren Inhabern des Unternehmens - Eigentümer großer Medienkonzerne – zugute kommen sollten.
Die Prozesse finden ein vielversprechendes Echo in den Nachbarländern, wie in Chile und Uruguay. In Europa laufen die Verfahren gegen argentinische Unterdrücker weiter. Die internationalen Organisationen beobachten den Verlauf der Prozesse. Das Europäische Parlament wird am 30. September in Brüssel eine Veranstaltung über die argentinische Erfahrung durchführen.
Fehlende Zeugenschutzprogramme, Schweigepakt und fragwürdige Richter
Besorgniserregend ist die Situation der überlebenden Zeuginnen und Zeugen und die fehlende Information über Jorge Julio López, der 2006 Kronzeuge im Fall des ehemaligen Polizeioffiziers Miguel Etchecolatz war und seitdem spurlos verschwunden ist. Der Staat muss seine Bemühungen verdoppeln, um zu garantieren, dass die Zeugen keinerlei Repressalien ausgesetzt sind und ihnen der notwendige Beistand geleistet wird, damit sie so unbehelligt wie möglich aussagen können.
Der Schweigepakt und der Mangel an Information von Seiten der Streitkräfte geben ebenfalls Anlass zur Besorgnis. Dies schlägt sich nicht nur in der fehlenden Aufklärung des Schicksals vieler Verschwundener und in Gefangenschaft geborener Kinder nieder, sondern auch in Auszeichnungen, Ämtern und hohen Gehältern für Personen, die die schrecklichsten Gräueltaten begangen haben.
Der Richterrat sollte so schnell wie möglich die Komplizen des Militärregimes unter den Richtern aus dem Amt entfernen. Die Richter von Mendoza haben die Beschuldigten freigelassen; erst mit Beginn der Verhandlung in San Rafael hat das dortige Bundesgericht Untersuchungshaft angeordnet und damit ein klares Zeichen gesetzt, nicht nur für die Zeugen, sondern für das ganze Justizsystem. Die Kassationsrichter Guillermo Yacobucci und Luis María García haben in den letzten Monaten Dutzende von Beschuldigten im Fall ESMA auf freien Fuß gesetzt mit dem Argument, es bestünde kein Fluchtrisiko, und damit die Zeugen gefährdet.
Der Vorwand vom „Kriegszustand“
Das von den Verbrechern vorgebrachte Argument, es habe Kriegszustand geherrscht, ist plump und armselig zugleich, denn erstens gab es nie eine Kriegserklärung des Kongresses, zweitens gibt es selbst im Krieg Konventionen, die geachtet werden müssen und drittens wurden die Opfer in den allermeisten Fällen von ihrem Arbeitsplatz, ihrer Wohnung, von der Straße weg entführt, im allgemeinen nachts, wenn sie völlig wehrlos waren, von Personengruppen, die in so genannten "zonas liberadas" (4) agierten, ohne Rechtsschutz. Die in den Vernichtungszentren angewandten Foltermethoden und diversen Misshandlungen hatten die Zerstörung der Persönlichkeit der Gefangenen zum Ziel. Das alles geschah im Geheimen und ohne jegliche gesetzliche Grundlage. Diese illegalen Machenschaften waren nicht etwa eine Reaktion auf bewaffnete Aktionen, sondern in geheimen militärischen Anweisungen im Voraus geplant. Kürzlich hat einer der Angeklagten im Prozess von San Rafael gestanden, dass er 1967 zusammen mit zweihundert Soldaten eine Ausbildung in Foltertechniken bei US-amerikanischen Militärs erhalten habe.
Zeuginnen und Zeugen berichten über systematischen Vergewaltigungen und sexuellen Missbrauch an den Entführten – in erster Linie an den Frauen - in den verschiedenen Folterzentren. Sie betonten, das dies keine von ein paar Exaltierten begangenen Einzelfälle waren, sondern eine übliche und systematische Praxis, d.h. eine ausgewiesene Foltermethode, die dazu dienen sollte, die Persönlichkeit eines Menschen aufs Äußerste zu erniedrigen. Die Frauen sollten begreifen, dass der politische Kampf in jedweder Form allein auf Grund der Tatsache, dass sie Frauen waren, für sie verboten war. Man wollte den Willen des politisch Aktiven brechen, ihn beseitigen oder zerstören, um ihn als solchen zu deaktivieren und seine Rückkehr in die Politik zu verhindern. Eine Frage der Klassenunterschiede, wobei der Unterdrückte das Objekt und der Unterdrücker der Privilegierte ist.
Vorbild Nazi-Praktiken
Die Gewalt und die Erniedrigung, die Juden und Behinderten während des deutschen Naziregimes zuteil wurde, dienten hier als Vorbild. Das wahre Gesicht der argentinischen Henker zeigt sich in der getreuen Nachahmung dieser Praktiken. Der systematische Raub bei jeder Entführung, die ungesetzliche Aneignung von Fahrzeugen und Wohnungen, der Streit zwischen den damaligen Machthabern um die Beute als ein Akt des Dienstes am Vaterland, all dies ist tagtäglich bei den Gerichtsverhandlungen zu hören.
Nur die Angeklagten - Videla und Menéndez, zum Beispiel - werden darauf bestehen, dass es sich um einen Krieg handelte. Gewonnen haben sie nur die ganze Verachtung der Völker und der Geschichte. Wer zu ihnen halten möchte, sollte wissen, dass die demokratische Gemeinschaft ihnen mit Ablehnung und Widerstand begegnen wird. Die Prozesse werden - ganz nebenbei - auch die unterschiedlichen Sichtweisen in Sachen Ethik aufzeigen: die der Verfolgten des Militärregimes auf der einen Seite und die der Henker und ihren zivilen Helfer auf der anderen.
Anmerkungen des Übersetzers:
1. Geheime Haft- und Folterzentren; ESMA steht für Escuela de Suboficiales de Mecánica de la Armada (Mechanikerschule der Marine)
2. Größter Zeitungspapierlieferant des Landes
3. Damaliger Besitzer von "Papel Prensa"
4. Gemeint sind Gebiete, in die sich die Polizei auf Grund ihrer Gefährlichkeit nicht traut oder sie nach Absprachen mit den Kriminellen meidet und wegschaut, bzw. allgemeiner: Gebiete, in denen Recht und Gesetz nicht gelten.
Rodolfo Yanzón
Rodolfo Yanzón arbeitet als Anwalt und ist Präsident der Organisation “Fundación Liga Argentina por los Derechos Humanos”. Seit mehreren Jahren befasst er sich mit Fragen zu bestimmten Aspekten der Menschenrechte: der Situation in den argentinischen Gefängnissen, der Verteidigung von politischen Gefangenen. Ein weiterer Schwerpunkt seiner Arbeit sind Menschenrechtsverletzungen, die durch staatliche Stellen ausgeübt werden und solche, die in Verbindung mit dem Arbeitsrecht (z.B. Textilindustrie, Landarbeit) stehen.
Seit 2000 ist er der Anwalt von Familien deutscher Opfer der argentinischen Miltärdiktatur. In diesem Kontext arbeitete er auch am Prozess der argentinischen und chilenischen Fälle mit, der in Spanien geführt wurde.
Seit der Wiederaufnahme der Strafverfolgung 2003 vertritt er seine Organisation nach außen und bildet eine Gruppe mit anderen Anwält/innen, Überlebenden der Diktatur und Familienangehörigen, die zu bestimmten Prozessen zu den begangenen Menschenrechtsverletzungen arbeiten: darunter auch der Fall der “Escuela de Mecánica de la Armada“ (ESMA, Ausbildungseinrichtung der Marine), dem “I Cuerpo de Ejército” (Erster Heereskorps) und dem “Campo de Mayo”. Die Gruppe ist außerdem Kläger im Prozess um Jorge Rafael Videla und seinen seinen Innenminister, Albano Harguindeguy, und Tätern aus der Wirtschaft, wie beispielsweise José Alfredo Martínez de Hoz, einem ehemaligen Wirtschaftsminister.
Rodolfo Yanzón ist einer der Referenten der Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung "Erinnerungskulturen - Kampf gegen die Straflosigkeit in Argentinien" am 28. September 2010, 18:30.