Die Wiederaufnahme der Gerichtsprozesse zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Argentinien

Oberster Gerichtshof Argentiniens in Buenos Aires. Foto: barbutti (Brian Barbutti). Dieses Foto steht unter einer Creative-Commons-Lizenz.

26. September 2010
Von Daniel Eduardo Rafecas
Von Daniel Eduardo Rafecas  


2005 wurde vom Obersten Gerichtshof Argentiniens im Fall „Simón“ entschieden, die Strafprozesse zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit wiederaufzunehmen. Damit wurde eine umfassende Wiederaufnahme von Fällen eingeleitet, die im Zusammenhang mit dem zwischen 1976 und 1983 herrschenden Staatsterrorismus stehen. In diesem Kontext wurden von 2005 bis heute ca. 150 Verfahren im ganzen Land eröffnet, die fast 1.500 Angeklagte betreffen. Einige von ihnen wurden bereits rechtskräftig verurteilt; in der Mehrzahl handelt es sich um passive Subjekte von mündlichen, öffentlichen Verhandlungen, die im Verlauf der nächsten Jahre fortgesetzt werden sollen (1).

Umfassende Ermittlungen

In der mir obliegenden Strafsache als zuständiger Richter im Bundesgericht Nr. 3 der Stadt Buenos Aires, bekannt als Fall „Erstes Heereskorps“, wurden in den letzten fünf Jahren eintausend Opfer gerichtlich anerkannt und ca. einhundertzwanzig Verdächtige verhaftet und strafrechtlich verfolgt, unter ihnen Angehörige der Heeres und der Luftwaffe, Mitglieder der Sicherheitskräfte, der Geheimdienste und des Strafvollzuges.

Die Anklagen richten sich gegen Personen aller Ebenen: vom obersten Chef (de facto Ex-Präsident und Chef des Generalstabs der Armee Jorge Rafael Videla), über die mittleren Führungskräfte bis zu den Entführern und Folterern selbst, von denen die Mehrheit in mündlichen und öffentlichen Verhandlungen verurteilt werden soll.

Die Ermittlungen wurden ausgehend von den Geheimzentren für Verhaftungen und Folter (centros clandestinos de detención y tortura – CCDT) geführt, da diese das Herz der ungesetzlichen Repression bildeten. Von dort schwärmten die „Grupos de tarea“ (“Aufgabengruppen”) aus, um ihreOpfer zu entführen, dort presste man Informationen mit systematischer Folter aus den Gefangenen heraus, dort wurden die Häftlinge festgehalten, die mehr tot als lebendig auf das ihnen zugedachte Schicksal warteten, von dort gingen die „Transporte“ aus, d.h. der Abtransport von Opfern aus dem CCDT zu ihrer kaltblütigen Exekution: durch Erschießung, Todesflüge oder andere Methoden.

Schutz- und Unterstützungsprogramme für Zeugen

In diesen Prozessen, sowohl in der Ermittlungsphase als auch in der der mündlichen und öffentlichen Verhandlungen, haben Tausende von Zeugen ausgesagt. Dafür wurden auf nationaler, Provinz- und kommunaler Ebene eine Reihe von Schutz- und Unterstützungsprogrammen für Zeugen und Opfer dieser Verfahren organisiert, mit einem angemessenen Grad an Effizienz und Koordination zwischen den verschiedenen Programmen und den verschiedenen Akteuren des Justizverwaltungssystems.

Angesichts der massiven Präsenz von Zeugen und Geschädigten im ganzen Land und der hohen Anzahl von Verhaftungen, Verfahren und Verurteilungen der Verbrechen, die wir in den letzten Jahren erleben durften, ist meiner Meinung nach der Grad an Gewalt gegen erstere relativ niedrig. Abgesehen von dem fürchterlichen Fall des Verschwindens des Strafprozesszeugen Julio López in der Stadt La Plata, über dessen Schicksal bis heute nichts bekannt geworden ist.

Wiederaufnahme der Prozesse nach streng verfassungsrechtlichen Prinzipien

Wir sind Zeitzeugen dessen, was momentan in Argentinien geschieht: einem Land, dem es – nicht ohne Anstrengungen – gelungen ist, die vielfältigen materiellen und juristischen Hindernisse zu überwinden, die der Durchführung dieser Verfahren im Weg standen. Das Land ist dabei, den immer noch schmerzhaften und schwierigen Weg der Rückerlangung der Erinnerung und der ehrlichen Aufarbeitung seiner jüngsten blutigen Vergangenheit zu beschreiten.

Dieser Prozess wird durch eine solide, kohärente und kontinuierliche Koordination zwischen den drei republikanischen Gewalten vorangebracht. Dank dieser wird Tag für Tag unter großen Anstrengungen Licht ins Dunkel gebracht, die Wahrheit aufgedeckt und das Justizwesen gefestigt. Grundlage dafür ist die uneingeschränkte Achtung der Gültigkeit aller Verfassungsgarantien des Rechtsstaates: von der Unschuldsvermutung über das Recht auf Verteidigung im Verfahren und die doppelte Instanz bis hin zu den strikten Prinzipien der Gesetzlichkeit und Schuldfähigkeit.

Der generelle Eindruck, den dieser historische Prozess der Erlangung von Gerechtigkeit und Wahrheit in Argentinien mit Hilfe von juristischen rechtsstaatlichen Instrumenten hinterlässt, ist der einer sehr klaren und sehr entschiedenen Staatspolitik. Alle involvierten staatlichen Akteure - insbesondere der Justizapparat - sind darauf bedacht, die Ermittlungen und mündlichen Verhandlungen unter Einhaltung aller den Angeklagten zustehenden strafrechtlichen und verfahrensrechtlichen Garantien voranzubringen.

Das Verstärkungspotenzial des gegenwärtigen Prozesses

Man könnte – in Analogie zum Begriff „Teufelskreis“ – von einem “Engelskreis” sprechen, der die Rechtmäßigkeit dieser Gerichtsprozesse verstärkt:

  • Die drei Gewalten des demokratischen Staates beschließen die Wiederaufnahme der Gerichtsprozesse bei uneingeschränkter Achtung aller Verfassungsgarantien.
  • Prozesse und mündliche (Haupt-)Verhandlungen werden im ganzen Land eröffnet.
  • Tageszeitungen, Fernsehsender und andere Medien informieren täglich über den Verlauf der Strafverfahren und Gerichtsverhandlungen und prangern so die Verbrechen des Staatsterrorismus an.
  • In der öffentlichen Meinung entsteht eine Strömung von Empörung, Identifizierung mit den Opfern und Ächtung der Täter.
  • Der Diskurs von Leugnung oder Rechtfertigung der ungesetzlichen Repression (die „zwei Teufel“, der „schmutzige Krieg“ etc.) geht eindeutig zurück.
  • Die öffentliche Legitimation des Wahrheits- und Gerechtigkeitsprozesses wird verstärkt, und der Kreis schließt sich.
  • Die Zivilgesellschaft entfernt sich vom autoritären Modell und wird auf ihrem demokratischen Weg bestärkt.

Alles tun, damit solche Verbrechen nie wieder geschehen

Die Perspektive für die kommenden Jahre ist die Fortsetzung und Konsolidierung der Staatspolitik und der Überzeugung von der Notwendigkeit dieses überfälligen legalen Prozesses. Und genau durch die Verbreitung der Fakten über den Weg der Strafverfahren kommt es wiederum zu einer Änderung in der öffentlichen Meinung, der Anerkennung der Wichtigkeit und Unverzichtbarkeit dieses juristischen Prozesses für die Konsolidierung der Demokratie.

Argentinien entfernt sich mit diesen – meines Erachtens beispielhaften – Verfahren definitiv vom autoritären Modell des Staates, das die politische Szenerie während eines erheblichen Teils des 20. Jahrhunderts dominieren konnte. Demokratische Kultur und Rechtsstaat werden endgültig gefestigt. Die universelle Botschaft angesichts solch ungeheuerlicher Verbrechen, wie sie während der Militärregierung begangen wurden, wird bekräftigt: „Nunca más - Nie wieder!“.

(1) Die Zahlen zeigen eine große Dynamik im Hinblick auf den Fortschritt der Verfahren und der Eröffnung neuer Ermittlungen. Um diesbezüglich auf dem aktuellen Stand zu bleiben, siehe www.cij.gov.ar oder www.cels.org.ar.

 


Daniel Eduardo Rafecas

Daniel Eduardo Rafecas ist Doktor der Strafrechtswissenschaft und arbeitet als Bundesstrafrichter in Buenos Aires. Er ist u. a. zuständig für Prozesse zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die während der Militärdiktatur begangen wurden, u.a. mit bekannten Fällen wie dem des „Ersten Heereskorps“ („Primer Cuerpo de Ejércitio“). In diesem Zusammenhang wurden 120 Täter angeklagt und Fälle von tausenden Opfern in Dutzenden geheimen Gefängnissen und Folterzentren bearbeitet. Im Moment werden fünf verschiedene Hauptverhandlungen vom Bundesgerichtshof geführt.

Daniel Eduardo Rafecas lehrt außerdem als ordentlicher Professor Strafrecht an der Universidad de Buenos Aires, Universidad de Palermo (Buenos Aires) und der Universidad Nacional de Rosario. Er ist Autor diverser Bücher und wissenschaftlicher Arbeiten über Strafrecht in Argentinien. Er war in der Vergangenheit tätig als wissenschaftlicher Mitarbeiter in Yad Vashem, Jerusalem und ist heute Mitglied des akademischen Rates des Holocaust-Museums in Buenos Aires.

E-Mail: drafecas@gmail.com


Daniel Eduardo Rafecas ist einer der Referenten der Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung "Erinnerungskulturen - Kampf gegen die Straflosigkeit in Argentinien" am 28. September 2010, 18:30.