G20 Initiative für Ernährungssicherheit

6. Oktober 2010
Von Ute Straub und Sandro Gianella

Silodenken statt effektiver Regulierung von Nahrungsmittelspekulation

Von Ute Straub und Sandro Gianella

Nach dem Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise kam im November 2008 in Washington die Gruppe der 20 (G20) zum ersten Mal auf Ebene der Staats- und Regierungschefs zusammen um gemeinsam über den Umgang mit den Krisenfolgen zu beraten. Seither hat sich diese Gruppe der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer zu einem maßgeblichen - wenngleich selbst ernannten -  Koordinierungsforum in Wirtschaftsfragen entwickelt. Auf ihren regelmäßigen Gipfeltreffen werden vornehmlich globale Wirtschaftsbelange, wie z.B. die Regulierung des internationalen Finanzsystems diskutiert. 

Fast zeitgleich mit Ausbruch der Finanzkrise kam es zu einer weltweiten Ernährungskrise. In den Jahren 2007 und 2008 schnellten die Preise für Lebensmittel zeitweise bis zu 100 Prozent (Mais) oder gar 140 Prozent (Weizen) in die Höhe. Der drastische Anstieg der Lebensmittelpreise führte dazu, dass viele Menschen in Entwicklungsländern sich ihre tägliche Nahrung nicht mehr leisten konnten. In einigen Ländern wie Haiti, den Philippinen und Ägypten mündeten diese Preisexplosionen in regelrechte Hungerrevolten. Allein im Jahr 2008 stieg die Anzahl der hungernden und mangelernährten Menschen weltweit um 100 Millionen. Auch wenn die Preise bezogen auf ihren  Höchstwert 2008 wieder gefallen sind, hungern heute über eine Milliarde Menschen. Das ist fast jeder Sechste.  Neben anderen Gründen, wird Spekulation an Warenterminbörsen heute als einer der maßgeblichen Gründe für die starken Preisschwankungen bei Lebensmitteln anerkannt.

Auch die G8 bzw. G20 konnten ihren Blick vor der sich zuspitzenden Hungerproblematik nicht verschließen. Das brachte das Thema Ernährungssicherheit und Hungerbekämpfung auf die Agenda des G 8 Gipfels 2009 in L’Aquila/Italien und des G20 Gipfels im gleichen Jahr in Pittsburgh/ USA. Die Staats- und Regierungschefs der G8 sagten erhebliche Finanzmittel (20 Mrd. US-Dollar) für den Kampf gegen den Hunger zu. In ihrer Abschlusserklärung in Pittsburgh verpflichteten sich die G20 künftig in Ernährungssicherheit zu investieren.

Die Weltbank wurde damit beauftragt einen Treuhandfond für die zugesagten Gelder einzurichten, und im April diesen Jahres wurde das „Global Agriculture and Food Security Program“ (GAFSP) gestartet. Seither wurden dafür bereits 900 Mio US-Dollar von unterschiedlichen Gebern mobilisiert, darunter die Vereinigten Staaten, Kanada und Spanien, aber auch von privaten Gebern wie der Bill und Melinda Gates Foundation. Auf Empfehlung der G20 zielt das Programm vor allem auf eine Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität durch einen verbesserten Zugang zu neuen Technologien in Entwicklungsländern. Bereits 5 Länder (Bangladesh, Haiti, Ruanda, Sierra Leone und Togo) haben Kredite in einer Höhe von insgesamt 225 Mio. US-Dollar aus dem Programm erhalten.

Ernährungssicherheit wird von der G20 zu einseitig betrachtet

Es ist zu begrüßen, dass auch die größten Industrie- und Schwellennationen dem lange ignorierten und jahrzehntelang unterfinanzierten Landwirtschaftssektor erneut Aufmerksamkeit schenken und neue Gelder mobilisieren. Doch die Art und Weise wie das geschieht und wohin die Investitionen fließen, ist zu kritisieren.  So bleibt durch die Fokussierung auf die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion eine Reihe wesentlicher Faktoren unberücksichtigt.

Ernährungssicherheit ist eng mit der Ausgestaltung globaler Wirtschaftsbeziehungen verflochten, die den Zugang der Bevölkerung zu Nahrungsmitteln direkt beeinflusst. In vielen Entwicklungsländern ist daher der Ausbau der Landwirtschaft zwar ein wichtiges Ziel, um einen höheren Selbstversorgungsgrad der von Nahrungsmittelimporten abhängigen Länder zu erreichen. Doch die Auswirkungen des internationalen Handelssystems und die Verletzlichkeit von Entwicklungsländern gegenüber Preisschwankungen sind ebenfalls entscheidend im Kampf gegen Hunger und Mangelernährung.

Die internationale Handelspolitik der letzten Jahrzehnte ist maßgeblich verantwortlich dafür, dass die Abhängigkeit vieler Entwicklungsländer von Nahrungsmittelimporten beträchtlich angestiegen ist. Immense Subventionen für die Landwirtschaft in Industrieländern und gleichzeitig forcierte Marktöffnung in Entwicklungsländern haben dazu geführt, dass viele lokale Produzenten aus dem Markt gedrängt wurden. Anstatt sich für eine grundlegende Reform des aktuellen Handelsregimes mit sozial gerechten und ökologisch nachhaltigen Regeln einzusetzen, pochen die G20 auch in ihrer Abschlusserklärung des letzten Gipfels im Juni dieses Jahres in Toronto weiterhin auf einen „schnellstmöglichen“ Abschluss der Doha-Runde.

Die aus Nahrungsmittelimporten resultierende Verwundbarkeit von Entwicklungsländern gegenüber Preisschwankungen bei Nahrungsmitteln macht deutlich, wie dringend notwendig die Stabilisierung der Agrarpreise ist. Ein erster wichtiger Schritt ist die Regulierung der globalen Märkte für landwirtschaftliche Produkte und Rohstoffe (Commodity Markets). Das zeigen auch die aktuellen Preisschwankungen. Obwohl sich Experten einig sind, dass das globale Weizenangebot mehr als ausreichend ist, führten die Waldbrände in Russland in den letzten Wochen zu alarmierenden Weizenpreissteigerungen. Ein deutlicher Hinweis auf die einflussreiche Rolle von Spekulanten auf den globalen Nahrungsmittelmärkten.

Die effektive Bekämpfung von Hunger braucht nachhaltige, ressortübergreifende Maßnahmen. Daher ist die fehlende Kohärenz der G20-Regierungen hier besonders zu beklagen. Intellektuelle Silos (1) und Schubladendenken dominieren, anstatt die politischen Bemühungen für Ernährungssicherheit mit der Regulierungsagenda der G20 zusammenzubringen (2) und eine entwicklungsfreundliche Handelsreform und die Regulierung bzw. das Verbot von Preisspekulation auf Agrarprodukte anzugehen.

Alleingang der G20

Zu der oben beschriebenen Inkohärenz kommt hinzu, dass die Initiative der G20 sich nicht in bereits bestehenden Initiativen zur Verbesserung der internationalen „Food Security Governance“ - also der Steuerung und Koordination im Bereich der Welternährung -  einfügt.

Die Welternährungskrise hat deutlich gezeigt, wie schwach die internationale Steuerung im Bereich Welternährung und Weltagrarentwicklung ist. Deshalb wurde bereits 2009 die Stärkung und Reform des in die Strukturen der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganidation (FAO) der Vereinten Nationen integrierten „Committe on World Food Security“ (CFS) initiiert. Ziel ist und war es, das CFS zum zentralen multilateralen Gremium zur Steuerung internationaler Ernährungspolitik auszubauen. Erstmals sollten alle am Ernährungssystem beteiligten Akteure – insbesondere auch die von Ernährungsunsicherheit am stärksten betroffen Gruppen – weitgehende Mitspracherechte erhalten. Explizit genannt werden Kleinbauern, Kleinfischer, Hirtenvölker, Landlose, städtische Arme, Frauen und indigene Völker. Dieser Anspruch an Inklusivität und Partizipation unterscheidet das CFS wesentlich von anderen Strukturen und wird von Betroffen und der Zivilgesellschaft deshalb als große Chance wahrgenommen (3). Internationale Ernährungspolitik ist in den letzten Jahrzehnten vor allem daran gescheitert, dass sie an den Interessen der Betroffenen vorbei ging.

Inwieweit sich das CFS jedoch als ernstzunehmendes zentrales Steuerungsorgan der internationalen Ernährungs- und Landwirtschaftspolitik durchsetzen kann, hängt u.a. von seiner finanziellen Ausstattung und damit verbundenen politischen Autorität ab. Es bedürfte einer soliden Finanzierung und einer institutionell verankerten Einflussmöglichkeit auf ernährungsrelevante Programme anderer zwischenstaatlicher Organisationen, wie zum Beispiel dem GAFSP (4). In den Programmstatuten des GAFSP wird das CFS bisher jedoch nicht einmal erwähnt. Sollten nun die kompletten von der G20 zur Ernährungssicherung zugesagten 20 Mrd. US-Dollar ohne lenkende Einflussnahme und Kontrolle des CFS umgesetzt werden, würde das den Reformprozess stark unterminieren. Dies wäre eine weitere verpasste Chance für eine dringend notwendige, grundlegende  Reform des Welternährungssystems.
Viel sinnvoller wäre es dagegen, die Finanzmittel der G20 der Steuerung des reformierten CFS zu unterstellen. Da es über demokratischere Strukturen als die Weltbank verfügt , bei der die Stimmrechte sich nach der Höhe der geleisteten finanziellen Einlagen jedes Landes bestimmen und dessen partizipative Strukturen eine den Bedürfnissen der Betroffenen gerechte Umsetzung der Mittel sicherstellt.

Der einseitige Blick der G20 bei der Förderung von Ernährungssicherheit und die fehlende Koordination ihrer Aktivitäten mit dem CFS machen deutlich, dass die G20 sich  primär auf ihre globale Einflussmöglichkeit konzentrieren sollte, die nötigen Reformen des internationalen Finanzsystems durch eine effektive Regulierung der Spekulation mit Nahrungsmittelpreisen zu ergänzen.

Was hat Finanzmarktreform mit Ernährungssicherheit zu tun?

In den letzten Jahren waren folgenreiche Veränderungen an den Rohstoff- und Agrargütermärkten zu beobachten. Ihre wachsende Verflechtung mit den Finanzmärkten und die Zunahme des Handels mit neuen Finanzinstrumenten, wie z.B. Derivaten, erhöhten die Volatilität von Lebensmittel- und Agrarpreisen. Am härtesten treffen Preisausschläge die Armen, die einen viel größeren Anteil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben. So liegen die durchschnittlichen Ausgaben für Ernährung in den ärmsten Ländern der Welt (LDCs) bei 60-80 Prozent des Einkommens, während in den meisten Industrieländern lediglich 10-20 Prozent dafür aufgewendet werden müssen.

Obwohl die Spekulation an den Getreidebörsen bei weitem nicht der einzige Faktor für Preisschwankungen ist, beschleunigen sie eindeutig die Preisspirale. So stellt die Handels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen (UNCTAD) in einem aktuellen Bericht fest, dass “die Finanzialisierung des Rohstoffhandels zu erhöhten Preisschwankungen geführt hat, die nicht direkt mit den Marktgrundlagen von Angebot und Nachfrage zusammen hängen”(5). Mit anderen Worten, wird der Markt vermehrt von Akteuren dominiert die nicht an dem eigentlichen Handel der Rohstoffe interessiert sind, sondern lediglich nach erhöhten Renditen für Finanzinvestitionen suchen.

Wie ist es zu dieser Entwicklung gekommen?

Seit der Einführung von sogenannten Rohstoff-Indexfonds, die es Großinvestoren wie Goldman Sachs ermöglichen in den Preis von Grundnahrungsmitteln zu investieren, ist zwischen 2002 und 2008 die Anzahl von Derivaten und Terminverträgen um mehr als fünfhundert Prozent gestiegen. Die jüngste Finanzkrise hat ihrerseits dazu geführt, dass Rohstoffe und landwirtschaftliche Produkte bei Anlegern immer beliebter wurden und Nahrungsmittelpreise verstärkt den Trends auf den weltweiten Finanzmärkten aussetzt werden.

Dabei haben Finanzinstrumente wie Terminverträge und Derivate an sich eine wichtige Marktfunktion, die sowohl Käufern als auch Verkäufern ermöglicht, sich vor Preisschwankungen in der Zukunft zu versichern (Futures). Experten sind sich jedoch einig, dass Händler, die nicht direkt an den Rohstoffen interessiert sind, sondern hauptsächlich durch Marktfluktuationen und damit verbundenen erhöhten Renditemöglichkeiten angezogen werden, die Märkte aus dem Gleichgewicht bringen. Dazu kommt, dass ein wesentlicher Anteil dieser Transaktionen über sogenannte over the counter derivatives (OTC-Derivate) abläuft. Das sind Derivate die nicht an einer Börse, sondern direkt zwischen den Händlern „über den Schalter“ gehandelt werden. Dadurch wird ein Großteil des Handels nicht erfasst und bleibt somit unreguliert und intransparent.

Während es für die Regulierung der Finanzmärkte vielfältige Vorschläge gibt, um die exzessive Spekulation zu regulieren, bleiben Warenbörsen für Rohstoffe und Agrarprodukte bisher davon weitgehend unberührt. Zivilgesellschaftliche Akteure verlangen schon lange konkrete Maßnahmen zur ihrer Regulierung.

Aktuelle Regulierungsmaßnahmen der USA

Die Regierung Obama hat angesichts des Fehlens von greifenden multilateralen Vorschlägen eine Vorreiterrolle übernommen und hat mit der Dodd-Frank Wall Street Reform und dem Consumer Protection Act ein weitreichendes Gesetz zur Einschränkungen der  Spekulationen verabschiedet.
Das Gesetz ist von weitreichender Bedeutung, da mit dem Chicago Board on Trade die größte Rohstoff- und Warenbörse unter diese gesetzliche Regulierung fällt. Steve Suppan, der Forschungsleiter des Institute for Agriculture and Trade Policy (IATP) in Washington lobte das Gesetz: „es wird exzessive Spekulation mit Derivaten auf Nahrungsmittelmärkten gravierend einschränken und ist ein erster Schritt um die enormen Preisschwankungen in Agrar- und Energiemärkten einzudämmen.“ Es verpflichtet die US-Aufsichtsbehörde Commodity Futures Trading Commission  (CFTC) eine Höchstgrenze für die Anzahl von Derivaten eines bestimmten Rohstoffes zu setzen, die von einer Institution gehalten werden kann.

Zusätzlich verlangt das Gesetz, dass die meisten der undurchsichtigen OTC-Derivate von nun an auf öffentlichen und regulierten Börsen gehandelt werden müssen. Es wird erwartet, dass die Umsetzung dieser Reformen auf harte Opposition von Wall Street Lobbyisten und Industrieverbänden stoßen wird.

Was kann die G20 leisten?

Die jüngsten amerikanischen Reformen haben gezeigt, dass es möglich und notwendig ist Finanzmarktregulierung und Ernährungspolitik effektiv zusammenzudenken. Die französische Finanzministerin hat unlängst vorgeschlagen, dass die Europäische Union eine Aufsichtsbehörde nach amerikanischem Vorbild schaffen soll.(6) Die G20 hat die Möglichkeit Reformen anzustoßen, die weltweit zu stabilen Agrarpreisen führen können.  Bis jetzt hat sich die G20 zwar dafür stark gemacht, die übermäßige Volatilität der Ölpreise zu beheben, landwirtschaftliche Produkte standen aber bisher noch nicht auf der Agenda. Die Ankündigung des französischen Präsidenten Sarkozy und der Bundeslandwirtschaftsministerin Aigner die starken Schwankungen von Energie- und Rohstoffpreisen explizit auch mit Blick auf Spekulationen mit Nahrungsmitteln und Agrarprodukten in einer gemeinsamen Initiative während der französischen G20- Präsidentschaft 2011 anzugehen, war daher längst überfällig.(7

Das ist ein erstes Signal in die richtige Richtung. Es bleibt jedoch abzuwarten inwieweit die anderen G20 Staaten dazu bereit sind, aus der Finanz- und der Welternährungskrise die nötigen Konsequenzen zu ziehen. Die Heinrich-Böll-Stiftung wird gemeinsam mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren diesen Prozess kritisch begleiten.


Fußnoten:
(1) Jennifer Clapp and Eric Helleiner. Troubled Futures? The Global Food Crisis and the Politics of Agricultural Derivatives Regulation. University of Waterloo. Forthcoming (2011)
(2) vgl. Jennifer Clapp and Eric Helleiner. Troubled Futures? The Global Food Crisis and the Politics of Agricultural Derivatives Regulation. University of Waterloo. Forthcoming (2011)
(3) Kolmans/Paasch. Welternährungsgipfel 2009 – Neues internationales Ernährungsregime in Sicht? (2009)
(4) Michael Windfuhr. Viele Intitiativen wenig Koordination (Brot für die Welt) (2009)
(5) Trade and Development Report 2009 – Chapter II The Financialization of Commodity Markets. United Nations Conference on Trade and Development
(6) CFTC Set to Limit Oil Speculation With Senate Backing. Bloomberg.com
(7) Afghanistan, G20 presidency top Sarkozy’s foreign policy agenda. France24.

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