Aufbruchsstimmung im Nahen Osten – doch die Türkei beschäftigt sich mit sich selbst

7. Februar 2011
Ulrike Dufner, Istanbul
Ulrike Dufner, Büroleiterin Heinrich-Böll-Stiftung Türkei

Die türkischen Stimmen über die Ereignisse in Ägypten weisen viele Parallelen mit den Diskussionen auf internationaler Ebene auf: Diktaturen und autoritäre Regime können nicht auf Dauer gegen den Willen des Volkes regieren. Irgendwann läuft das Fass über und kann in Eruptionen wie in Ägypten oder Tunesien münden. Der Aufstand in Ägypten ist auch eine Reaktion auf Armut und Elend. Moderne Kommunikationsmöglichkeiten wie die sozialen Medien sind von autoritären Regimen nicht kontrollierbar. Ähnlich wie auf der Münchner Sicherheitskonferenz beschäftigt auch die Kolumnisten in der Türkei die Frage nach der Zukunft Ägyptens und der Region nach Mubarak. Dabei fragt sich ein Teil der Kolumnisten, wie das Verhältnis von Sicherheit bzw. Stabilität zu Demokratie zu werten ist. Ein Großteil der Kommentatoren lehnt aber gerade diese Fragestellung als typisch orientalistisch ab. Im Unterschied zum westlichen internationalen Ausland berührt die gesamte Auseinandersetzung über die Ereignisse im Nahen Osten immer auch aktuelle innenpolitische Fragen der Türkei selbst.

Wie viel Demokratie unterstützen – angesichts eigener Demokratiedefizite?

Der nachhaltige Aufruf zum Rücktritt von Mubarak und politischen Reformen seitens des türkischen Premierministers Erdogan stößt in der türkischen politischen Öffentlichkeit durchaus auf zwiespältige Reaktionen. So sehr sich die politischen Parteien in der Türkei an die Seite des ägyptischen Volkes stellen wollen, so sehr sind sie mit den eigenen begrenzten Vorstellungen in Bezug auf Demokratie im eigenen Land konfrontiert.

Im Vorfeld der Parlamentswahlen in der Türkei stehen Demokratiedefizite, eine neue Verfassung und die Debatte über ein Präsidialsystem ganz oben auf der Agenda. Kontrovers ist dabei die Frage, wie viel Demokratie der türkischen Gesellschaft zugestanden werden soll. Bis auf die pro-kurdische Partei tun sich die im Parlament vertretenen großen Parteien – AKP, CHP und MHP – schwer damit, die 10%-Hürde und andere Gesetze abzuschaffen, welche das Entstehen politischer Parteien erschwert. Durch diese Gesetze ist es bisher möglich, das Gewicht oppositioneller Stimmen wie der kurdischen Bevölkerung und kleinerer Oppositionsparteien aus dem parlamentarischen Prozess weitestgehend auszugrenzen.

Ähnlich verhält es sich mit der Auseinandersetzung um Religion und Politik. Die kemalistische CHP strebte in den vergangenen Jahren mehrfach das Verbot der regierenden AKP an und findet bis heute keinen demokratisch geleiteten Ansatz zum Umgang mit Religion. Weiter setzt sie auf die Begrenzung demokratischer Rechte im Dienste der Aufrechterhaltung kemalistischer Prinzipien.

Die Reaktionen der Fraktionsvorsitzenden der im Parlament vertretenen Parteien auf die Ereignisse in Ägypten spiegeln daher die Konfliktlage in der Türkei selbst wieder: nach rund zehn-tägigem Schweigen rief Ministerpräsident Erdogan den ägyptischen Präsidenten zum Rücktritt auf und forderte demokratische Reformen. „Wir können gegenüber den Forderungen des Volkes nach Wandel nicht schweigen“, sagte Ministerpräsident Erdogan am Dienstag in seiner Rede vor der AKP Parlamentsfraktion. Nach Außenminister Davutoglu sei es jetzt aber wichtig, dass Ägypten nicht ins Chaos abrutsche, dass kein Blut vergossen werde, kein Machtvakuum entstehe und die öffentliche Ordnung nicht gefährdet werde. Die Herausforderung, vor der Ägypten stehe, sei mit dem Rücktritt einer Person nicht zu lösen. Ägypten stehe vor einer historischen Chance. Zu hoffen sei, dass diese historische Chance nicht wie schon zweimal im Nahen und Mittleren Osten – in Algerien und Palästina - vertan werde. Algerien habe in den 90er Jahren das Streben nach Demokratie nicht umsetzen können, und in Palästina wurde die durch freie Wahlen gewählte Hamas nicht anerkannt.

Wie zu erwarten springt der Fraktionsvorsitzende der pro-kurdischen BDP, Selahattin Demirtas, auf derartige Positionen auf und fordert die türkische Regierung dazu auf, sich auch im eigenen Land den Ruf der Bevölkerung nach politischen Reformen zu eigen zu machen und endlich den Forderungen der Kurden nach Wandel nachzukommen. Genau hiervor warnt die ultra-rechte MHP: Der MHP-Vorsitzender Devlet Bahceli fordert aus innenpolitischen Stabilitätserwägungen die türkische Regierung dazu auf, nicht übereilt die Forderungen der Menschen auf den Straßen Ägyptens zu unterstützen. Derartige Sympathiebekundungen könnten hierzulande von den „Separatisten“ ausgenutzt und die Türkei in die Instabilität treiben.

Kemalistische Kreise wiederum warnen vor einem größeren Machteinfluss der Muslimbruderschaft und einem Erstarken religiös-politischer Strömungen in der Region insgesamt. Kilicdaroglu, der neue CHP-Parteivorsitzende, der sich und die an ihn gerichteten Erwartungen bezüglich einer Aufweichung der kemalistischen Verkrustungen erst noch unter Beweis stellen muss, äußert sich erwartungsgemäß: die Bevölkerungen von Ägypten und Tunesien sollen sich die Republik Türkei – aber bitte die den kemalistischen Prinzipien treue Republik des Gründers Mustafa Kemals – zum Vorbild nehmen. Dieses Modell respektiere die Menschenrechte, die Gleichheit von Mann und Frau und heiße Sozialstaat. Dieses Modell wollen wir – so Kilicdaroglu - auch im Nahen Osten.

Vor dem Hintergrund einer Diskussion über eine neue Verfassung und die Errichtung eines Präsidialsystems bleibt es natürlich nicht aus, Parallelen zu dem ägyptischen Präsidialsystem zu ziehen. So betont der CHP-Vorsitzende Kilicdaroglu, dass Erdogan heute schon deutlich mehr Machtbefugnisse habe als Mubarak oder gar Obama und spielt damit auf das begrenzte Demokratieverständnis der AKP an.

Die Zivilgesellschaft und kleine politische Parteien versammelten sich in den vergangenen Tagen vor der ägyptischen Botschaft und unterstützten die Rücktrittforderungen der ägyptischen Massen auf den Straßen. Für sie ist Ägypten eine seit Jahrzehnten von den USA gehätschelte Diktatur, gegen die sich die Bevölkerung nun endlich auflehnt. Verbreitung findet auf den Websites der diversen zivilgesellschaftlichen Organisationen gegenwärtig ein Artikel, der das kleine Einmaleins in Sachen Aufruhr darstellt: Demnach werden die Aktivisten dazu aufgerufen, sich nicht von der internationalen Debatte irritieren lassen, wonach von der Gefahr eines Erstarkens der islamisch-politischen Strömungen auszugehen sei. Es sei das „Volk“, das sich gegen das diktatorische Regime und den Wirtschaftsliberalismus aufwende. Ägypten sei in einer revolutionären Phase. Man müsse sich mit dem „Volk“ solidarisieren.

Türkei – Modell für den Aufruhr im Nahen Osten?

Zahlreiche Kommentatoren sehen die Bedeutung der Türkei genau darin, dass der türkische Weg – mit der AKP als Regierungspartei - ein Modell für den Nahen Osten sei. Die AKP sei durch freie Wahlen an die Regierung gekommen und habe sich nicht vor dem Westen, den USA oder Israel verbeugt. Dies habe im Nahen Osten die Hoffnung auf eine Alternative zu den vom Westen gestützten autoritären Regimen genährt. Erst die Existenz einer derartigen Alternative habe die Menschen in den arabischen Staaten zum Aufstand gegen die Diktatoren ermutigt.

In eine ähnliche Richtung argumentiert der bekannte Kommentator Hasan Cemal in seiner Orientalismus-Kritik: Als orientalistisch bezeichnet er die Angst zahlreicher westlicher aber auch arabischer Staaten und Israels vor Demokratie. Diese Angst sei mit der Position auf den Nenner zu bringen, dass aus demokratischen Wahlen im Nahen Osten Islamisten als Sieger hervorgingen, die dann westliche Interessen gefährden könnten. Aus dieser Angst heraus habe man die Demokratie geopfert und autoritäre Regime gestützt. Insofern kann man die Position von Hasan Cemal unterstützen, dass die Türkei unter der AKP-Regierung nicht zu einem „zweiten Iran“ oder dergleichen umgebaut wurde. Tatsächlich stellte sie einige Jahre lang den Reformmotor in Richtung Demokratisierung dar.

Die aktuellen Entwicklungen - nicht nur in Tunesien und Ägypten – sondern in der Türkei selbst stellen aber nicht nur „den Westen“, sondern auch die AKP-Regierung hinsichtlich ihrer Demokratiefähigkeit vor eine Herausforderung: wird sie in der Lage sein, die Forderungen der Menschen auf den Straßen zu unterstützen?

Naher Osten im Umbruch - aktive Außenpolitik der Türkei

Wenn die Türkei, so Fuat Keyman in der Tageszeitung Radikal, tatsächlich eine auf wirtschaftlicher Entwicklung und Demokratie basierende sowie Frieden stiftende aktive Außenpolitik verfolgen wolle, dann müsse sie einen ernsthaften Beitrag in Bezug auf Opposition – Wandel und Demokratie in Ägypten – leisten. Die vielseitige Außenpolitik der AKP werde in diesem Punkt gegenwärtig einem Test unterzogen.

Dies gelte genauso auch für die CHP: sie müsse ihren vermeintlichen Wandel zu einer Partei für Demokratie und sozialen Ausgleich unter Beweis stellen. Der in der CHP für Außenpolitik zuständige stellvertretende Parteivorsitzende Osman Korutürk warnt aber davor, dass in Ägypten die Muslimbruderschaft die Oberhand gewinnen könne. Dies würde in der Region insgesamt die islamisch-politischen Kräfte wie z.B. die Hamas in Palästina stärken.

Zahlreiche Kommentatoren kritisieren, dass die CHP nicht begreife, dass die Ereignisse nicht von der Muslimbruderschaft ausgegangen seien, und dass hinter der Bewegung in Ägypten etwas ganz anderes als die Instrumentalisierung durch die Muslimbruderschaft stehe. Die CHP scheint, so die Ansicht zahlreicher Kommentatoren, die Zeichen der Zeit noch immer nicht verstanden zu haben. Ihre Demokratiefähigkeit wird nicht erst seit dem Aufbruch im Nahen Osten angezweifelt; daran scheint der Führungswechsel in der Partei bisher wenig geändert zu haben.

Interessanterweise kritisiert gerade die CHP den Verlust der aktiven Außenpolitik der türkischen Regierung in der Region.

Türkei – Verlust der Rolle im Nahen Osten?

Die türkische Regierung wurde von den Oppositionsparteien allen voran der CHP dafür kritisiert, sich erst nach zehn Tagen zu den Entwicklungen in Ägypten geäußert und auf die Seite der Demonstrant/innen gestellt zu haben. Die türkische Regierung habe abgewartet, bis sich die USA zu den Ereignissen äußerten. Sie habe sich erst mit den USA und der EU abgestimmt, bevor sie zu einer Positionierung in der Lage gewesen sei. Damit werde deutlich, dass die Türkei zu keiner Führungsrolle im Nahen und Mittleren Osten in der Lage sei. Denn dies erfordere eine eigenständige Außenpolitik.

Hiergegen wendet sich Außenminister Davutoglu, der Architekt der zunehmend proaktiven Außenpolitik. Der stellvertretende AKP-Vorsitzende Ömer Celik bringt die neue Außenpolitik im Kontext der Ereignisse auf den Punkt: Früher hätten wir die Ereignisse beobachtet, heute fordern wir demokratische Reformen und bieten unsere Unterstützung hierzu an.

Ausblick

Die Türkei befindet sich innenpolitisch gegenwärtig selbst in einer Umbruchphase. Zunehmend zeigt die AKP als Reformmotor in der Gesellschaft Erosionserscheinungen. Dringend anstehende Reformen, um einen wesentlichen Schritt weiter in Richtung Demokratie in diesem Lande zu kommen, scheut auch die AKP. Durch den Wechsel an der Führungsspitze der größten Oppositionspartei CHP flackert eine erste Hoffnung auf eine Alternative zur AKP auf, die den eingeleiteten Weg fortsetzen könnte. Die CHP selbst ist jedoch noch nicht dazu in der Lage, vollends die kemalistischen Verkrustungen abzustreifen und Antworten auf die geänderten Herausforderungen in der Türkei zu geben. Ob die neuen Persönlichkeiten in der CHP es dauerhaft schaffen werden, die Partei aus ihren bisherigen Umklammerungen herauszuführen oder aber hiervon zerrieben werden, ist offen.

Angesichts einer solchen Gemengelage ist es gegenwärtig unwahrscheinlich, dass die Türkei eine wegweisende Rolle im Nahen Osten spielen könnte, welche einen konstruktiven Beitrag zur Demokratisierung der dortigen Gesellschaften leistet. Zu sehr ist das Land in seine internen Debatten verstrickt. 

Dossier

Die Bürgerrevolution in der arabischen Welt

Die Massenproteste in Tunis und Kairo haben die alten Regime in Tunesien und Ägypten hinweggefegt. Die Demokratiebewegung in Tunesien und Ägypten hat eine politische Wende herbei geführt, die das Tor zu einer demokratischen Entwicklung in der Region weit aufgestoßen hat. Aus dem Funken ist ein Lauffeuer geworden, in Algerien, Marokko, Jemen, Bahrain, Jordanien und Libyen gehen Bürgerinnen und Bürger auf die Straße und fordern die Machthaber heraus. Die Heinrich-Böll-Stiftung begleitet die aktuellen Entwicklungen mit Analysen, Kommentaren und Interviews: