Von Layla Al-Zubaidi
Layla Al-Zubaidi: Herr Abdah und Herr Ablahad, im welchem Maß ist die Damascus Declaration am gegenwärtigen Aufstand in Syrien beteiligt?
Astepho Ablahad: Was in Syrien seit dem 15. März 2011 geschieht, gleicht einem Wunder. Es ist die Folge des Kampfes junger Syrerinnen und Syrer, die auf die Straße gehen und einen Wandel einfordern. Diese Bewegung wird nicht von der Damascus Declaration (DD) gesteuert. Ihre Ziele jedoch bauen auf dem auf, was die DD seit Jahren fordert. Die Forderungen der Demonstrierenden – Bürgerrechte, Demokratie, ein Ende der Notstandsgesetze – entsprechen den Forderungen der alten Opposition. Heute werden sie getragen von der Jugend Syriens, befeuert von den Revolutionen in Tunesien und Ägypten und dem Arabischen Frühling im Allgemeinen. Da die ältere Opposition und die Jugend für dieselben Ziele eintreten, unterstützt die DD die jungen Aufrührer. Die mit 200.000 Mitgliedern größte Facebook-Gruppe in Europa, beispielsweise, „The Syrian Revolution against Bashar“ wird von der DD administriert.
Syrien ist im Augenblick von der Außenwelt weitgehend abgeschnitten. Ausländische Journalisten dürfen das Land nicht betreten, und viele syrische Journalisten wurden verhaftet oder getötet. Der Internetzugang ist eingeschränkt, Satellitentelefone funktionieren nicht mehr und in vielen Gebieten sind die Handynetze abgeschaltet. Baschar al-Assads Vetter, Rami Makhluf, ist Inhaber aller syrischen Kommunikationsanbieter. Gestern sagte er etwas, was sehr an die Worte Saif al-Islams in Libyen erinnert, nämlich, der Aufstand müsse zerschlagen werden. Wir, als die DD, müssen solcher Propaganda entgegentreten.
Glauben Sie, dass unter Baschar al-Assad Reformen noch möglich sind?
Anas Abdah: Vielleicht in der Vergangenheit. Baschar al-Assad hätte die Welle von Umbrüchen in der Region als Chance nutzen können, Reformen einzuleiten. Die Syrer sind in der Regel überhaupt nicht nachtragend. Aber nach dem, was aktuell geschieht, wie kann man da erwarten, dass eine Führungsriege, die Zivilisten tötet und sie des Terrorismus bezichtigt, von den Menschen noch anerkannt wird? Der Aufstand wurde ausgelöst, als in Daraa Sicherheitskräfte 25 Jugendliche verhafteten und anschließend folterten. Man könnte das als unseren Bouazizi-Zwischenfall bezeichnen. (1) Da Daraa zu einem Stammesgebiet gehört, hat dieser Zwischenfall fast jeden dort betroffen. Das Regime hätte hier anders reagieren, es hätte sich entschuldigen und die Verantwortlichen bestrafen können. Stattdessen bekamen die Menschen Videobilder zu sehen, auf denen die Folterspuren klar zu erkennen waren – ausgerissene Nägel und Striemen auf den Rücken. Wäre Baschar al-Assad reformwillig, wie hätte er es da zulassen können, dass in Schulen und Stadien Internierungslager für Demonstranten eingerichtet wurden? Selbst Geschäftsleute zwang man dazu, ihre Lagerhallen als Internierungslager zur Verfügung zu stellen. Das Regime begreift offensichtlich nicht, was in der Region vor sich geht. Es ist unfähig, sich zu reformieren. Wir haben uns immer schon gegen rein oberflächliche Änderungen ausgesprochen und stets bezweifelt, das Regime könne sich reformieren. Heute ist diese Sicht die Norm.
Als Baschar al-Assad auf seinen Vater folgte, sahen viele in ihm einen Reformer. Wer oder was hat ihn, ihrer Meinung nach, daran gehindert, Reformen durchzuführen?
Anas Abdah: Ich denke, es war falsch in Baschar al-Assad einen Reformer zu sehen. Im Jahr 2000 begann der ‚Frühling von Damaskus’ mit der Erwartung, Baschar würde Reformen einleiten. Es gab zahlreiche Dialogforen und einige öffentliche Diskussionen. Nur ein Jahr später, 2001, kam es zu einem harten Durchgreifen. Die französische Journalistin Caroline Donati sprach von dem „syrischen Sonderweg“. Der Ausdruck „arabischer Sonderweg“ beschrieb die Tatsache, dass die Welle der Demokratisierung in aller Welt an der arabischen Welt scheinbar spurlos vorbei gegangen war. Innerhalb dieses Sonderwegs scheint Syrien noch einmal ein Sonderfall zu sein. Die Grausamkeit des Regimes ist nicht neu. Schon in der Vergangenheit wurden Tausende Syrer verhaftet und misshandelt.
In der Region hat das Regime in Syrien wegen seiner Ablehnungshaltung gegen die israelische Aggression und westlichen Imperialismus lange eine gewisse Legitimität genossen.
Anas Abdah: Dieser Ablehungsdiskurs funktioniert nicht mehr. Die Stimmung in der arabischen Welt wandelt sich. Wenn die Menschen sehen, wie syrische Panzer Zivilisten angreifen, dann greifen solche Phrasen nicht länger.
Sowohl in der Region als auch international haben Viele eine zwiespältige Haltung zum möglichen Sturz des Regimes. Warum diese Angst vor einem Wandel in Syrien?
Anas Abdah: Das Regime hat eine Botschaft ständig wiederholt: „Wir sind ein säkulares Regime – wir schützen die Minderheiten.“ Der logische Umkehrschluss ist, dass jede Alternative nicht säkular ist und Minderheiten verfolgen wird. Die Revolution hat klargestellt, dass sie nicht sektiererisch ist. Die EU und die USA sind mittlerweile auch dabei, ihre Haltung zu überdenken. Dennoch hat diese Behauptung des Regimes immer noch eine gewisse Wirkung.
Sie ist also unwahr?
Astepho Ablahad: In dieser Behauptung steckt auch nicht ein Funken Wahrheit. Die Assyrer, zum Beispiel, haben unter dem Assad-Regime sehr gelitten, sehr viele von ihnen sind ausgewandert. Die Lage der Kurden ist noch schlimmer. Mubarak hat in Ägypten übrigens dasselbe behauptet – und dabei war die Lage der Kopten in Ägypten erbärmlich.
Dennoch stimmt es doch, dass die syrischen Christen in Sorge sind?
Anas Abdah: Ja, sie machen sich große Sorgen. Das bedeutet, wir müssen umso mehr beweisen, dass eine wahre Demokratie nur dann möglich ist, wenn Minderheiten zur Gänze daran teil haben und geschützt werden. Das gilt nicht nur für die Christen, sondern gleichermaßen für die Alawiten. (2)
Glauben Sie, die Demonstranten können das Regime stürzen?
Anas Abdah: Die Diktatur in Syrien ruht auf drei Säulen: auf Baschar al-Assad, den Eliteeinheiten der Armee und den Eliteeinheiten der Sicherheitskräfte. Diese wiederum sind von anderen Gruppen abhängig: von der Armee, den Sicherheitskräften, der Baath-Partei, den religiösen Führern, der Verwaltung, den Geschäftsleuten usw. Auf sich gestellt ist es für gewaltfrei vorgehende Gegner des Regimes nicht möglich, das System zu stürzen. Es muss ihnen entweder gelingen, Teile des Establishments auf ihre Seite zu ziehen oder sie zumindest zur Neutralität zu bewegen. Aus eben diesem Grund ist es so entscheidend, dass die internationale Gemeinschaft sich unmissverständlich positioniert.
Unter welchen Bedingungen kann die Demokratiebewegung in Syrien siegen?
Anas Abdah: Vor allem muss die Bewegung vollständig gewaltfrei bleiben. Das ist sehr wichtig – nicht nur aus taktischen Gründen. Zweitens muss sie sich als nationale Bewegung verstehen und für alle Menschen offen sein. Bricht die Bewegung mit diesen Grundsätzen, dann ist das ihr Aus. Das Regime versucht natürlich, eben hier anzusetzen. Es versucht, durch Gewalt Gegengewalt zu provozieren, und es behauptet, die Bewegung sei sektiererisch, soll heißen, konfessionell. Es ist von äußerster Bedeutung, dass die Bewegung in Syrien an ihren Grundsätzen festhält.
In den vergangenen Jahren haben wir Hunderte syrischer Aktivistinnen und Aktivisten im Land in den Grundlagen des gewaltfreien Widerstands ausgebildet. Gewaltfreier Widerstand ist wie Krieg, nur ohne Waffen und Kugeln. Es war schwierig, die Aktiven davon zu überzeugen, dass das möglich ist. Den Leuten hat zwar die Vorstellung gefallen, aber ob das wirklich Erfolg haben könnte, schien fraglich. Nachdem sie erlebt haben, was in Tunesien und Ägypten passiert ist, wurde ihnen auf einmal klar, friedlicher Wandel ist möglich. Die Medien haben dabei eine entscheidende Rolle gespielt.
Astepho Ablahad: Ich sehe das genauso. Es ist entscheidend, dass die Bewegung friedlich und für alle offen bleibt. Wir erreichen momentan den entscheidenden Punkt – das Regime reagiert sehr irrational. Es versucht Spaltungen zu provozieren, und entsprechend müssen wir sehr wachsam sein. Syrien ist, da gibt es kein Drumherum, nicht Tunesien oder Ägypten. Wir werden Vermittler benötigen, beispielsweise eine gemeinsame Anstrengung der EU und der Türkei.
Mit welchen wesentlichen Herausforderungen hat die Bewegung zu kämpfen?
Anas Abdah: Zwar hat sich der Aufstand sehr rasch ausgebreitet, aber in den Städten gibt es immer noch Probleme, speziell in Aleppo und Damaskus. Die Bewegung ist stärker in der Provinz, da die städtischen Zentren Bastionen der religiösen und der Wirtschaftselite sind.
Was könnte möglicherweise weiter geschehen?
Anas Abdah: Ein möglicher Fall ist, dass das Regime untergeht. Das könnte auf mehrerlei Art geschehen: A) Elemente innerhalb des Militärs und des Sicherheitsapparats kündigen Baschar al-Assad die Treue auf. Je eindeutiger sich die EU verhält, desto schneller könnte dies passieren. Das wäre die beste Variante. B) Einige Säulen der Macht beginnen nachzugeben, beispielsweise die Wirtschaftselite. Das wäre auch eine gute Variante, würde aber mehr Zeit in Anspruch nehmen. C) Das Regime könnte auf chaotische Art kollabieren, mit Spaltungen, Gewalt usw.
Ein anderer Fall ist der, dass das Regime überlebt und den Aufstand niederschlägt. Zwar fürchten wir diese Möglichkeit, aber wir müssen ihr ins Auge sehen. Dies wäre die iranische Variante, denn im Iran hat das Regime die so genannte „Grüne Revolution“ zerschlagen. Allerdings unterscheidet sich der Iran sehr stark von Syrien, denn das Regime im Iran genießt im Inneren viel größere Legitimität, ist viel stärker. Das Regime in Syrien bezieht einen Großteil seiner Legitimität von außen, einerseits durch Unterstützung aus dem Westen und andererseits durch seine Ablehnungshaltung im Nahen Osten.
Eine dritte Variante wäre ein „weißer Putsch“, das heißt, Teile des Regimes würden Baschar al-Assad zum Rücktritt drängen um den Weg für Runde Tische und Verhandlungen über Reformen frei zu machen. Das wäre keine schlechte Variante, allerdings wäre dies nur unter drei Bedingungen hinnehmbar: Erstens, die Gewalt müsste eingestellt werden; zweitens, Untersuchungen über die Verbrechen müssten eingeleitet werden; drittens, das Recht zu demonstrieren müsste gewährleistet werden. Diese Variante scheint nicht allzu wahrscheinlich.
Stimmt es, dass sich Angehörige des Regimes, beispielsweise Baschar al-Assads Politik- und Medienberaterin Bouthaina Shaaban, bereits mit Vertretern der Opposition treffen?
Anas Abdah: Bouthaina Shaaban hat sich nur mit unabhängigen Personen getroffen, nicht mit Vertretern der Opposition. Die DD wird keinen Treffen mit Vertretern des Regimes zustimmen, solange das brutale Vorgehen andauert. Wir müssen sehr darauf achten, uns nicht spalten zu lassen. Das Regime versucht immer wieder, sich Einzelne herauszugreifen.
Die Kurden haben seit langem sehr zu leiden gehabt. Gehen die Sicherheitskräfte besonders scharf gegen Demonstrationen in den Kurdengebieten vor?
Anas Abdah: Als es 2004 zu Demonstrationen in Qamishli kam, gingen auch in Aleppo und Damaskus Kurden auf die Straße. Gegenwärtig scheint das Regime sehr behutsam mit den Kurden umzugehen – um zu verhindern, dass sich dergleichen wiederholt. In den Kurdengebieten kommt es zu großen Demonstrationen, teils mit acht- bis zehntausend Teilnehmenden. Dennoch haben sich die Sicherheitskräfte weitgehend zurückgezogen. Man scheint Zusammenstöße mit Kurden verhindern zu wollen. Das Regime weiß genau, schon ein toter Demonstrant könnte hier einer zu viel sein. Bislang wurde aus den Kurdengebieten von noch keinem einzigen Todesfall berichtet.
Sollte das Regime in Syrien stürzen, was wären die Folgen für seine Verbündeten, die Hisbollah im Libanon und den Iran?
Anas Abdah: Der Sturz des Regimes in Syrien wäre sowohl für die Hisbollah als auch für den Iran schlecht. Der Einfluss des Irans auf die Arabische Welt läuft wesentlich über Damaskus. Sollte dieser Weg versperrt werden, müsste der Iran sich neu orientieren.
Hisbollah hat wiederholt die Revolutionen in der arabischen Welt begrüßt – außer in Syrien. Glauben Sie, dass im Laufe der Zeit das Fußvolk der Hisbollah Druck auf seine Führung ausübt, auch den Aufstand in Syrien gutzuheißen?
Anas Abdah: Das glaube ich nicht. Die Hisbollah ist zu ideologisch, ihren Führern allzu treu ergeben. Hassan Nasrallah, der Generalsekretär der Hisbollah, und die iranische Führung unterstützen Baschar al-Assad uneingeschränkt.
Unterstützen die Hisbollah und der Iran das syrische Regime aktiv beim Versuch, den Aufstand niederzuschlagen?
Anas Abdah: Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Hisbollah die syrischen Sicherheitskräfte unterstützt; der Iran tut das jedoch sehr wohl. Zwar sind Iraner nicht in erster Reihe dabei, aber im Hintergrund arbeiten sie für das Regime, unterstützen es logistisch, in IT-Fragen usw.
Was wird der Iran tun, sollte das Regime in Syrien stürzen?
Anas Abdah: Der Iran wird alles in seiner Macht stehende tun, das zu verhindern. Dem sind allerdings Grenzen gesetzt. Der Iran kann den Sturz des Regimes hinauszögern. Sollten sich die Menschen in Syrien aber unnachgiebig zeigen, dann kann er ihn nicht verhindern. Die Hisbollah wird sich wahrscheinlich vorrangig darum bemühen, im Libanon ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen.
Einige Beobachter vermuten, es gebe ein Geheimabkommen zwischen den USA und Syrien, dem zufolge die USA über die Untaten des Regimes hinwegsehen, für den Fall, dass Syrien seine Verbindungen zum Iran kappt. Glauben Sie, dass da etwas dran ist?
Anas Abdah: Ich glaube nicht, dass es für den Moment eine derartige Absprache gibt. Syrien und den Iran auseinanderzubringen ist lange schon ein strategischer Ansatz. Syrien hat eine entscheidende geopolitische Lage, ist Nachbar von Israel, der Türkei, dem Irak und Jordanien. Weder die USA noch die EU werden es hinnehmen, sollte diese Gegend politisch labil werden. Solange sie für Stabilität sorgen konnte, haben sie deshalb die Diktatur in Syrien unterstützt. Jetzt gibt es aber ernstzunehmende Zweifel daran, ob das Regime auch weiterhin für stabile Verhältnisse sorgen kann.
Wie, denken Sie, sollte sich Syrien in Zukunft Israel gegenüber verhalten?
Anas Abdah: Das wichtigste Ziel Syriens war es immer, die Kontrolle über die Golanhöhen zurückzubekommen. Das sollte auch weiterhin angestrebt werden – mit friedlichen Mitteln. Selbst für die Palästinenser wäre der Sturz des Regimes eine gute Sache. Jetzt, da die palästinensische Einheit wieder hergestellt ist, hat sich der Anführer von Hamas, Khalid Maschal, aus Damaskus zurückgezogen, da Baschar al-Assad alles andere als glücklich darüber war, dass er das Versöhnungsabkommen zwischen Fatah und Hamas unterzeichnet hat. Das Regime hat so eine weitere Trumpfkarte eingebüßt.
Welche Länder haben in Syrien den größten Einfluss?
Anas Abdah: Momentan haben drei Regionalmächte der größten Einfluss: der Iran, Katar und die Türkei. Der Iran ist ein strategischer Verbündeter Syriens, und jeder der glaubt, die beiden ließen sich entzweien, ist verblendet. Katar ist vor allem im Rahmen der internationalen Diplomatie von Einfluss, sowie durch seine Medien: Der katarische Satellitensender Al-Jazeera hat den Aufstand in Syrien unterstützt. Und schließlich die Türkei. Seit Syrien seine Unterstützung für die PKK eingestellt hat, haben die Türkei und Syrien enge wechselseitige Beziehungen aufgebaut. Die beiden Staaten arbeiten inzwischen auf vielen Ebenen zusammen, und Erdogan hat zu Baschar al-Assad ein enges Verhältnis.
Wie steht die Türkei zu dem Aufstand in Syrien?
Anas Abdah: Sowohl Tayyip Erdogan als auch Scheich Hamad bin Chalifa Al Thani, den Emir von Katar, hat Baschar al-Assads harte Linie überrascht. Dass sich Baschar al-Assad weigerte, zu verhandeln, hat Erdogan erzürnt. Er hat mehrere Delegationen nach Syrien gesandt, und als sich die Syrer beständig weigerten, Verhandlungen einzuleiten, begann Erdogan, das Regime öffentlich zu kritisieren. Die Türkei hat in der Region viel zu verlieren und wird deshalb alles daran setzen, dass in Syrien niemand an die Macht kommt, der der AKP feindlich gesonnen ist.
Wie schätzen Sie die Reaktionen der EU-Staaten ein?
Anas Abdah: Einige EU-Staaten haben sehr gute Statements abgeliefert. Im Allgemeinen hält sich die EU aber zurück und überlässt das Feld der Türkei.
Welche praktischen Schritte erwarten Sie von der EU?
Anas Abdah: Es ist gut, dass die EU Baschar al-Assad auf ihre Sanktionsliste gesetzt hat. Es war gewieft, das nicht gleich zu Beginn zu tun und ihm so die Chance zu geben, Zugeständnisse zu machen. Da er das aber nicht tat und bei seiner harten Linie blieb, war es notwendig, ihn auf die Liste zu setzen.
Heute finden, wie jeden Freitag, wieder große Demonstrationen statt. Von einer Quelle wissen wir, dass Baschar al-Assad strikte Anweisungen gegeben hat, nicht auf Zivilisten zu schießen. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass es zuvor solche Anweisungen gab. Das zeigt, dass die Sanktionen der EU Eindruck auf das Regime gemacht haben.
Des Weiteren sollte die EU dazu beitragen, dass vor dem Internationalen Strafgerichtshof Anklage gegen das syrische Regime erhoben wird, da es eindeutig Kriegsverbrechen gegen Zivilisten begangen hat.
Schließlich sollte die EU in aller Deutlichkeit klarstellen, dass sie Baschar al-Assad nicht länger als legitimen Führer Syriens anerkennt. Damit wird nicht nur dem Präsidenten Syriens klargemacht, woran er ist, sondern es kann auch Menschen aus seinem Umfeld dazu ermutigen, zu ihm auf Abstand zu gehen.
Astepho Ablahad: Wir begrüßen die Sanktionen, die die EU verhängt hat. Allzu viel Wirkung werden sie jedoch nicht zeigen. Lieber wäre uns eine Herangehensweise, wie sie Deutschland gegenüber dem Iran gezeigt hat, das heißt eine Mischung aus Diplomatie und Drohungen. Die EU könnte entschieden die UN-Mission unterstützen, die nach Daraa geschickt werden soll, um die Vorfälle dort zu untersuchen. Man könnte ein „liberty boat“ nach Banias entsenden, das dort humanitäre Hilfe leisten könnte. Und die EU könnte den in die Nachbarstaaten Syriens Geflohenen zur Seite stehen.
Die moralischen Aspekte der aktuellen Lage sind sicher wichtig. Um sich aber die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft zu sichern, wird man ihr erklären müssen, warum sie einen politischen Wandel in Syrien unterstützen soll. Wie sieht Ihre Antwort aus?
Anas Abdah: Die internationale Gemeinschaft wünscht sich in erster Linie Beständigkeit. Für die kann das Assad-Regime aber nicht mehr sorgen. Eben wegen seiner Unmenschlichkeit ist das syrische Regime von Natur aus labil. Die Menschen in der arabischen Welt und in Syrien haben die Lage verändert. Einst war der Weisheit letzter Schluss: Erhalte den Status quo und nimm es mit der Einhaltung der Menschenrechte nicht allzu genau – da die Menschen dort sowieso nicht so recht wissen, wozu Freiheit und Demokratie taugen. Mittlerweile haben Araber und Syrer jedoch gezeigt, dass ihnen Freiheit und Demokratie wichtig sind. Die entscheidende Frage ist deshalb: Gibt es eine Alternative zum Regime von Baschir al-Assad? Aufgabe der Opposition ist es nun, zu zeigen, dass Wandel nicht gleich Unbeständigkeit ist. Innerhalb der DD ist konfessionelle Politik, sind Gegensätze zwischen den Glaubensgruppen kein Thema. Wir haben eine gemeinsame Sprache, und das wird uns ungeheuer helfen.
Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass seit dem Arabischen Frühling nicht mehr viel von al Qaida zu hören ist? Die Gruppe ist im Niedergang begriffen, denn die Menschen haben verstanden, dass es andere, bessere Formen des Widerstands gibt.
Welche Formen meinen Sie?
Anas Abdah: Gegenwärtig gibt es in der arabischen Welt zwei Richtungen des Widerstands. Die erste ist Al-Qaida; die zweite ist der gewaltfreie Widerstand. Diese zweite Richtung wird immer wichtiger. Diktaturen waren Brutstätten des Terrorismus. Der Westen sollte deshalb an mehr Demokratie in der Region interessiert sein – besonders, weil der Krieg gegen den Terror ein komplettes Desaster war. Für den Westen ist es von allergrößter Bedeutung, sich auf die Seite der Revolutionen zu stellen und die demokratischen Bewegungen in der arabischen Welt zu unterstützen. Innerhalb der arabischen Welt, wie auch international, ist Ägypten das wichtigste Land. Syrien jedoch ist wegen seiner geopolitischen Lage und seiner Bündnisse ebenfalls von großer Bedeutung.
Sie sagten, die Internationale Gemeinschaft sei vor allem an Beständigkeit interessiert. Hat sie noch weitere Interessen?
Anas Abdah: Ja, ein weiteres Interesse ist es, die Einwanderung aus der arabischen Welt zu begrenzen. Im Libanon, der Türkei, Jordanien, der EU usw. befinden sich syrische Flüchtlinge. Erdogan spricht sogar davon, es sei notwendig, Schutzzonen innerhalb Syriens einzurichten. Ablahad und ich sind beide seit über 30 Jahren im Exil. Während der vergangenen Jahrzehnte hat über eine halbe Million Syrer aus politischen Gründen das Land verlassen.
Sagen Sie uns mehr über die Erklärung von Damaskus.
Anas Abdah: Die DD ist die größte Koalition syrischer Oppositionsparteien, der Zivilgesellschaft, unabhängiger Intellektueller und von Personen des öffentlichen Lebens. Die Mehrheit der Mitglieder bilden Unabhängige. Gegründet wurde die DD im Oktober 2005, als sich, erstmals, arabische, kurdische und assyrische Parteien zu einer Koalition zusammenschlossen. Die Strukturen der Organisation wurden 2007 auf einer Konferenz in Damaskus festgelegt. Etwa 170 Personen nahmen an der Konferenz teil und wählten einen Generalsekretär, eine Präsidentin und einen Nationalrat. Wir sind stolz darauf, dass wir als erste arabische Oppositionsgruppe eine Präsidentin haben, Dr. Fida Hourani. Riad Seif, ein bekannter Reformer, wurde zum Vorsitzenden des Generalsekretariats gewählt.
Wie haben die syrischen Behörden auf die Gründung der Erklärung von Damaskus reagiert?
Astepho Ablahad: Eine Woche nach der Konferenz von 2007 wurden sämtliche führenden Mitglieder verhaftet. Insgesamt landeten 43 Personen im Gefängnis. Von diesen blieben bis vor etwa sechs Monaten zwölf inhaftiert. Im Allgemeinen lautete die Anklage, sie hätten „das Nationalgefühl untergraben“.
Ist die Erklärung von Damaskus in erster Linie eine Organisation aus Damaskus? Wie sind sie in anderen Teilen des Landes vertreten?
Astepho Ablahad: Die DD ist weder eine Vertretung der Exilopposition, noch eine nur in Damaskus aktive Gruppe. Zwei Drittel der Mitglieder des 2007 gewählten Nationalrats waren syrische Oppositionelle, die im Lande leben; der Rest waren Syrer im Exil. Für jedes syrische Gouvernment (muhafazah) wurde ein Rat eingesetzt, und wir haben Mitglieder aus allen Teilen des Landes. Der aktuelle Vorsitzende des Generalsekretariats, Samir Naschar, lebt in Aleppo. Die Koalition spiegelt das Mosaik wider, das die syrische Gesellschaft ist. Wir haben Mitglieder aus sämtlichen religiösen und ethnischen Gruppen, Moslems, Christen, Assyrer, Drusen, Kurden usw. Wir haben auch eine ganze Reihe alawitischer Mitglieder. In dieser Koalition ist das gesamte politische Spektrum vertreten, von Linken und Liberalen, bis hin zu gemäßigten Islamisten und Nationalisten. Auch die meisten kurdischen Parteien sind vertreten.
Wie sind sie in der arabischen Welt und international organisiert?
Anas Abdah: In mehreren Ländern außerhalb Syriens haben wir Komitees, beispielsweise in Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Kanada, den Niederlanden, Österreich, Spanien und den USA. Im August 2010 wurde der Vorsitzende des deutschen Komitees, Ismail Abdi, ein niederländischer und deutscher Staatsbürger, auf dem Flughafen von Aleppo verhaftet. Erst vor Kurzem wurde er wieder freigelassen. In vielen arabischen Staaten können wir keine Komitees einrichten, entweder, weil dort jeder politischen Betätigung generell enge Grenzen gesetzt sind, oder weil diese Länder es sich mit dem Regime in Syrien nicht verderben wollen.
Aktuell gibt es zahlreiche syrische Aktive in Tunesien, Ägypten und der Türkei. Vor einem Monat haben wir an einem Treffen der syrischen Opposition in Istanbul teilgenommen. Die Ägypter sind derzeit recht nervös, da sie sich selbst in einer Phase des Übergangs befinden und Angst davor haben, andere zu irritieren. In der Zukunft hoffen wir, auch ein Komitee in den Vereinigten Arabischen Emiraten gründen zu können.
Welche Kriterien gibt es, um der Koalition beitreten zu können? Lehnen Sie bestimmte Parteien oder Personen ab?
Anas Abdah: Ich halte nichts davon, Einzelne oder Organisationen nicht zuzulassen. Dennoch haben wir natürlich bestimmte Grundsätze: Erstens lassen wir niemanden zu, der an der Tötung syrischer Bürgerinnen und Bürger beteiligt war; zweitens lassen wir niemanden zu, der nachweislich korrupt war; drittens nehmen wir nur Einzelne oder Organisationen auf, die zur Einheit Syriens stehen. Die kurdischen Parteien, die der DD beigetreten sind, haben erklärt, dass sie eine Abspaltung der Kurdengebiete nicht verfolgen.
Ist es richtig, dass sie gewissen Personen, die einst dem Regime nahe standen und jetzt gegen es sind, nicht zulassen – beispielsweise Rifaat al-Assad (3) und Abd al-Halim Chaddam (4)?
Anas Abdah: Das stimmt, hat jedoch keine persönlichen Gründe. Sie werden nicht zugelassen, da sie an der Tötung von Bürgerinnen und Bürgern beteiligt, beziehungsweise, weil sie korrupt waren. In der Regel sind Syrer ausgesprochen nachsichtig, und sie hätten ihnen vergeben können. Aber weder Rifaat al-Assad noch Abd al-Halim Chaddam haben sich je entschuldigt. Das ist nicht hinnehmbar.
Die Syrischen Moslembrüder, langjährige Gegner des Regimes, sind ebenfalls Teil der Koalition. In welcher Rolle sehen Sie sie?
Anas Abdah: Die Syrischen Moslembrüder haben sich ziemlich verändert. Heute lehnen sie Gewalt als politisches Mittel ab und treten für einen weltlichen Staat ohne geschlechtsbedingte oder religiöse Benachteiligungen ein. Ich glaube, dass Religion auf dauerhaften Werten basiert, während Politik sich dauernd verändert. Eben deshalb ist es gefährlich, die beiden Sphären miteinander zu vermischen. Im Besonderen in unserer Weltgegend führt diese Mischung sehr leicht in die Katastrophe. Die Revolution, deren Zeuge wir heute werden, ist derart fortschrittlich, dass das auch auf die Moslembrüder und weitere religiöse Parteien nicht ohne Folgen bleiben und zu einer weiteren Modernisierung führen wird.
Herr Abdah, außer dem Vorsitz der Erklärung von Damaskus haben Sie auch den Vorsitz des Movement for Justice and Development inne. Wie sieht diese Partei die Zukunft der Demokratie in Syrien?
Anas Abdah: Diese Partei ist die syrische Version der türkischen AKP. Das bedeutet aber nicht, dass wir alles, was in der Türkei gemacht wird, nachahmen wollen. Das Modell muss an die syrischen Verhältnisse angepasst werden, an die Bedürfnisse und Traditionen des Landes. Im Unterschied zu herkömmlichen islamistischen Bewegungen bietet unsere Partei ein sehr liberales Modell. Ich glaube, dieses Modell passt gut zu Syrien, und dass die syrische Bevölkerung dies auch so sieht.
Wie sehen Sie, nach den jüngsten Ereignissen, die jungen Menschen Syriens?
Anas Abdah: Ich will nicht prahlen, aber die jungen Syrerinnen und Syrer sind so kreativ, sie gehen derart viele Risiken ein – mehr noch als in den anderen Staaten, die momentan ihre Revolutionen durchleben. Sie müssen verstehen, dass die Aktiven in Syrien, bevor sie zu Demonstrationen gehen, ihren Verwandten Lebewohl sagen. Dazu kommt, dass sie nicht nur auf der Straße in Gefahr sind, sondern auch zuhause. Leute werden entführt und verhaftet. Man könnte sich fragen, warum solche Risiken eingehen – vor allem, da klar ist, das Regime wird nicht von einem Tag auf den anderen verschwinden. Warum gehen sie diese Risiken ein? Ich glaube, dass manchmal drastische Gewalt unerwartete Ergebnisse haben kann. Sie kann wie ein Elektroschock wirken – Körper und Geist werden stimuliert. Eben das geschah mit dem syrischen Volk, als die gewaltige Maschinerie staatlicher Gewalt auf sie losgelassen wurde. Die Menschen sind stimuliert, sie haben Würde, Hoffnungen, fühlen sich frei. Und sie sind wütend. Entsprechend denken sie nicht viel über Risiken nach.
Astepho Ablahad: Verstehen Sie uns nicht falsch. Es gibt dieses Klischee, dass die Menschen dieser Region gerne den Märtyrertod sterben. Das ist falsch. Wir lieben das Leben, wir sind keine Kamikaze-Piloten. Syrer gehen nicht auf die Straße, um zu sterben, sondern um zu leben. Diese jungen Menschen sind wie Sie und ich. Nur dass sie noch bessere Menschen sind, Menschen, die den Mut haben, auf die Straßen zu gehen und zu demonstrieren.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview wurde von Layla Al-Zubaidi am 13. Mai 2011 in Berlin geführt.
Anas Abdah ist Vorsitzender des Auslandssekretariats der Damascus Declaration for National Democratic Change und Vorsitzender des Movement for Justice and Development. Astepho Ablahad ist Vorsitzender der Assyrian Democratic Organisation, Europa.
Aus dem Englischen übersetzt von Bernd Herrmann.
- Die Die Demonstrationen in Tunesien, die zum Sturz des Dikators Zine el-Abidine Ben Ali führten, wurden ausgelöst durch die Selbstverbrennung des Straßenhändlers Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010.
- Die Die Familie Assad gehört der alawitischen Glaubensrichtung an, und Alawiten sind in Militärführung und Geheimdienst überdurchschnittlich vertreten. Die Alawiten machen rund 10 Prozent der Bevölkerung Syriens aus.
- Rifaat Rifaat al-Assad ist ein Onkel von Baschar al-Assad. In den 1980er Jahren ging er, nach einem versuchten Staatsstreich gegen seinen Bruder Hafiz al-Assad, nach Europa ins Exil. Er war 1982 an der brutalen Niederschlagung der Unruhen in der Stadt Hama beteiligt.
- Abd Abd al-Halim Chaddam war von 1984 bis 2004 Vizepräsident von Syrien. Er galt als führender Hardliner, behauptet jedoch, zurückgetreten zu sein, da Reformen ausblieben. Aus seinem Exil in Paris hat er Baschar al-Assad bezichtigt, beim Mord an dem ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten Rafiq al-Hariri, die Hände im Spiel gehabt zu haben.