In Guatemala werden die Gesetze von Drogenkartellen gemacht und der Staat ist zu schwach, ihnen das Handwerk zu legen. Er wird es bleiben – solange in reichen Industrienationen zu hohen Preisen Drogen gekauft werden. Ein Gespräch mit Tom Koenigs, dem Vorsitzenden des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe des Bundestages.
Das heißt, die Menschen können sich kaum frei bewegen?
Es gibt in Guatemala City nur ein Reichenviertel, in dem es so viele Sicherheitskräfte gibt, dass das möglich ist. Das zeigt sehr eindrücklich, wie sehr die Kriminalität die Gesellschaft gespalten hat. Die Reichen können sich Sicherheit leisten, die Armen nicht. Die müssen den Bus benutzen, der sehr oft überfallen wird. Und natürlich können sich die Reichen vor Strafverfolgung sicher fühlen, das spaltet das Land dann noch mehr, als es bereits der Fall ist.
Warum hat sich die Lage in Guatemala so zugespitzt?
Der Bürgerkrieg in Guatemala hat mit seiner selektiven Repression von sozialem Engagement eine bestimmte Ebene von Öffentlichkeit ausgelöscht. Nach dem Friedensschluss in den 1990er Jahren erwachte wieder so etwas wie ein öffentliches Leben. Das ist jetzt erneut bedroht. Und zwar von einer Macht, die sehr viel unorganisierter – und damit weniger greifbar – ist, als es das Militär war. Die Drogenmafia ist stärker denn je. Sie nutzt Guatemala als Durchgangsroute und überzieht das Land mit Gewalt.
Und warum ist es so schwer, gegen diese Kartelle vorzugehen?
Wenn die Polizei zu einer Finca gerufen wird, trifft sie dort auf private bewaffnete Sicherheitskräfte. Und die sagen: Hier geht es nicht weiter. Jeder Versuch der Strafverfolgung scheitert spätestens an so einer Barriere. Und langsam stehen auch immer mehr Richter und Staatsanwälte unter einem gewaltigen moralischen und auch physischen Druck – ausgeübt von Leuten, die sehr viel Geld zur Verfügung haben, um ihnen nachzustellen.
Das heißt, Verbrechen werden kaum bestraft?
Fragen Sie in Lateinamerika, was passiert, wenn Menschenrechte verletzt werden, erhalten Sie die Antwort: Impunidad, Straflosigkeit. Das betrifft die Verbrechen früherer diktatorischer Regime – sie werden nicht verfolgt, bis ins Gefängnis hat es in Guatemala nur ein einziger Militär gebracht. Das betrifft aber auch alle anderen Straftaten, bis hin zum Mord. Nur zwischen zwei und fünf Prozent der Auftragsmorde, die schon für lumpige 200 Dollar begangen werden, werden überhaupt aufgeklärt. Die Impunidad hat heute ein anderes Gesicht, von ihr profitieren heute die ganz großen Kartelle auf dem Land. Es gibt Großgrundbesitzer, die Drogenflugzeuge bei sich landen lassen und mit keinerlei Strafverfolgung rechnen müssen. Letztlich zerstört die Straflosigkeit die Institutionen des Staates.
Hat der Staat kein Interesse, diese Verbrechen aufzuklären?
Er ist schwach und wird von den Reichen, die den Staat weniger brauchen, auch schwach gehalten. Die Steuerquote hat zehn Prozent in Guatemala nie erreicht, damit kann man keine Polizei so ausrüsten, dass sie Kartellen entgegentreten kann. Und was die Justiz betrifft: Kommt es überhaupt mal zu Prozessen, werden sie immer wieder durch Androhung oder Anwendung von Gewalt oder durch Korruption gestört.
Warum ist es für Jugendliche so attraktiv, in die Strukturen organisierter Kriminalität einzusteigen?
Ich glaube, in einem Viertel, das von zwei Maras (Jugendbanden) beherrscht wird, haben Jugendliche gar keine Chance, sich rauszuhalten. Man muss zu der einen oder anderen Mara mindestens locker dazugehören. Es gibt immer wieder Leute, die sich entziehen können, das aber ist eine ungeheure Anstrengung. Ich glaube, es geht hier nicht mehr um den Reiz, dazuzugehören. Jugendliche werden dazu gezwungen, sie haben keine andere Wahl.
Welche Chance sehen Sie, dass sich die Situation in Guatemala wieder in eine andere Richtung entwickeln kann?
Die ganze Region – von Kolumbien bis Mexiko – ist heute stark vom Drogenkrieg bestimmt. Um diesen Krieg zu beenden oder zumindest einzudämmen, muss die Nachfrage nach Drogen aufhören. Jedes Geschäft wird von der Nachfrage angeheizt. Und die kommt von uns, den reichen Ländern. Wenn es nicht gelingt, sie in den Griff zu kriegen oder in andere Bahnen zu lenken, wird das Problem nicht gelöst. Wenn der Drogenhandel entkriminalisiert würde, würde sich der Blutzoll, den die Drogenwirtschaft fordert, gewaltig verringern. Die Riesenprofite müssen aus diesem Verbrechen raus. Es ist zu leicht, viel Geld zu machen für jemanden, der nichts gelernt hat und der sich nur in diesen Gewaltstrukturen auskennt. Und dann kann man anfangen, soziale Strukturen neu aufzubauen. Es gibt Beispiele, wie Medellin in Kolumbien, wo man das durch eine gezielte, gute Jugendarbeit schafft. Das dauert sehr lange.
Muss man nicht trotzdem auch die Sicherheitskräfte stärken?
Die Drogenwirtschaft militärisch oder durch eine Aufrüstung der Polizei zu bekämpfen, ist komplett zum Scheitern verurteilt. Erst wenn das Drogengeschäft nicht mehr bringt als das Geschäft mit Weizen oder Medikamenten, hat man ihm den Boden entzogen. Ich glaube, dass man die drei Elemente Konsum, Handel und Produktion von Drogen gesondert analysieren muss. Der Treiber, der Brandbeschleuniger ist der Konsum. Der bleibt in der Höhe vermutlich relativ konstant. Der militärische Druck auf Handel und Produktion, also die Prohibition, steigert zwar die Preise, hat aber sonst eigentlich keinen Effekt. Hohe Preise bringen die Konsumenten nur stärker in die Kriminalität, die Händler zu gewaltigen Handelsprofiten und diejenigen, die anbauen, zu einer Rendite, die beim Zehnfachen von normalem Getreide liegt.
Was ist mit den anderen Verbrechen, die mit dem Drogenhandel verbunden sind?
Menschenhandel, Waffenhandel – all diese Formen der Kriminalität werden natürlich auch nach einer Entkriminalisierung des Drogenhandels bestehen. Aber die hohen Gewinne, die gerade mit Drogen leicht und schnell gemacht werden können, fielen weg. Und das würde sich auswirken.
Sie haben in Zusammenhang mit Guatemala den Begriff der niedrig organisierten Kriminalität eingeführt. Sehen Sie das auch in anderen Ländern?
Ich sage niedrig organisierte Kriminalität, weil es in die Breite aufgebaute Organisationen sind. Beim Begriff Drogenkartell stellt man sich meist eine säulenartig aufgebaute, hierarchische Organisation vor. Aber es sind Banden, in die letztlich alle mit einbezogen sind. Und dieses Phänomen nimmt auch über Guatemala hinaus zu. Erleichtert wird das Agieren dieser Banden durch meist schwache Staatsstrukturen. Guatemala zum Beispiel ist ein schwacher Staat. Auch die Produzentenländer sind oft schwache, von Kriegswirtschaften geprägte Staaten: Kolumbien oder Afghanistan, jeweils mit sehr unterschiedlichen Ausprägungen.
Wir haben heute auch hier in Berlin Viertel, in denen sich Menschen nicht mehr sicher fühlen. Sehen Sie, dass es auch hier Veränderungen gibt, die wir genau beobachten müssen?
Die Dimensionen sind völlig anders: Bei uns werden 98 Prozent der Morde aufgeklärt. In Guatemala fünf Prozent. Schwere Kriminalität wird bei uns in aller Regel aufgeklärt. Öffentliche Verkehrsmittel sind sicher. Es gibt Bandenbildungen und entsprechende Ängste, aber die Mittel der Jugendarbeit oder der Bildungsinitiativen sind absolut geeignet, dieser Entwicklung entgegenzusteuern. Aber auch für uns gilt: Es wäre gut, den Drogenkonsum und -kleinhandel zu entkriminalisieren, anstatt die Jugendlichen in die Illegalität zu drängen.
Annette von Schönfeld ist Publizistin und seit 2006 Leiterin des Lateinamerikareferates der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin. Von 2004–2006 leitete sie die Kampagne « Menschenrecht Wasser » bei Brot für die Welt. Mit den thematischen Schwerpunkten Demokratie, Menschenrechte und Stadtentwicklung hat sie mehr als 10 Jahre staatliche und nichtstaatliche Projekte der Entwicklungszusammenarbeit in Lateinamerika (Chile, Nicaragua, Guatemala und Brasilien) koordiniert.
Tom Koenigs ist seit 2009 Abgeordneter des Deutschen Bundestages für Bündnis 90/Die Grünen. Er ist Vorsitzender des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe sowie Mitglied des Verteidigungsausschusses. Als Sondergesandter der Vereinten Nationen war er in mehreren Ländern unterwegs, unter anderem von 2002 bis 2004 in Guatemala.