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Wiedergelesen: Solidarität und Selbstbehauptung

Die Leitbegriffe Solidarität und Selbstbehauptung für ein neues europäisches Narrativ stellen sich inzwischen anders dar als im Frühjahr 2009, als mein Spotlight Europe: «Europas neue Story» erschien. Aus zwei Gründen: Zum ersten ist der Vertrag von Lissabon in Kraft getreten; und zum zweiten liefert die Krise der Währungsunion jede Menge Anschauungs- und Denkstoff für die beiden Leitbegriffe.

Zunächst zur Vertragsvorgabe und Vertragsauslegung. Der heute gültige Schlüssel- und Leitsatz findet sich in Artikel 3, Abs.3 des EU-Vertrags (EUV): Die Union «fördert den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten». Wer also in populistischer Selbstherrlichkeit am liebsten Griechen, Portugiesen, Iren, Spanier oder Italiener aus der Union verstoßen will, der begeht Vertragsbruch.

Der Vertrag wendet den Solidaritätsbegriff freilich nicht nur im Inneren der Union an. Artikel 3, Abs.5 bezieht ihn ausdrücklich auch auf die Welt: « In ihren Beziehungen zur übrigen Welt schützt und fördert die Union ihre Werte und Interessen und trägt zum Schutz ihrer Bürgerinnen und Bürger bei. Sie leistet einen Beitrag zu Frieden, Sicherheit, globaler nachhaltiger Entwicklung, Solidarität und gegenseitiger Achtung unter den Völkern...».

Dieser Paragraph ist hilfreich auch bei der Definition und Anwendung des Prinzips der Selbstbehauptung, das im Englischen am treffendsten mit «strength» wiedergegeben werden sollte. «In ihren Beziehungen zur übrigen Welt schützt und fördert die Union ihre Werte und Interessen und trägt zum Schutz ihrer Bürgerinnen und Bürger bei» – diese Worte beschreiben nichts anderes als jenes Prinzip. Der Vertrag scheut also vor einer selbstbewussten Interessenvertretung und Wertepolitik der Union auf der Weltbühne beileibe nicht zurück. Die Inhalte sind dabei nicht beliebig, sondern werden genau aufgezählt. Die Union «leistet einen Beitrag zu Frieden, Sicherheit, globaler nachhaltiger Entwicklung, Solidarität und gegenseitiger Achtung unter den Völkern, zu freiem und gerechtem Handel, zur Beseitigung der Armut und zum Schutz der Menschenrechte, insbesondere der Rechte des Kindes, sowie zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts, insbesondere zur Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen» (Art.3, Abs.5)

Gleiches gilt auch für die Füllung des Solidaritätsbegriffes nach innen, wie sie Art. 3, Abs. 3 liefert: «Die Union errichtet einen Binnenmarkt. Sie wirkt auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität hin. Sie fördert den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt. Sie bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes. Sie fördert den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten. Sie wahrt den Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt und sorgt für den Schutzund die Entwicklung des kulturellen Erbes Europas.»

Nun zur Deutung der Krise der Währungsunion im Lichte des Vertrags. In der öffentlichen Debatte wird bis vors deutsche Verfassungsgericht heftig über die Auslegung der Artikel 125, Abs.1, und Art.122, Abs. 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) gestritten – vulgo: über das sogenannte Bail-out-Verbot im erstgenannten Paragraphen (Haftungsbegrenzung) und sodann über einen Beistand in Notlagen, wie sie im zweitgenannten Artikel festgehalten wird. Nur selten wird dabei auch auf Artikel 3 (3) verwiesen, der gleichsam den ideellen Überbau für die nachfolgenden Artikel liefert.

Unter Politikern, Kommentatoren und Juristen ist die Sachlage gleichermaßen umstritten. Ich folge hier jener Deutung des Begriffes «Haftung», die eine
«bedingungslose, automatische Übernahme einer Schuld durch einen Dritten» meint. Demnach kann, muss aber nicht im Notfall für andere Mitgliedsstaaten eingetreten werden. Es gibt im Vertrag kein Unterstützungsverbot – aber eben auch kein automatisches Unterstützungsgebot. Solidarität wird beim Stichwort Schuldendienst somit zur politischen Ermessenssache. Damit sind wir wieder bei meiner Definition von Solidarität als wohlverstandenem Eigennutz, die mit der Regel der Musketiere «Einer für alle, alle für einen» die nötige Stärke erzeugen will, die Europas Selbstbehauptung erst ermöglicht.

Die möglichen Gläubiger unter den Mitgliedsstaaten haben erst allmählich begriffen, dass ein im Stich gelassener Schuldner auch das Unglück der Gläubiger sein wird. Dieser Gedanke wird gestützt durch Art. 4, Abs.3 EUV3. Der Vertrag wörtlich: «Nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit achten und unterstützen sich die Union und die Mitgliedsstaaten gegenseitig bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben. Die Mitgliedsstaaten ergreifen alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Organe der Union ergeben. Die Mitgliedsstaaten unterstützen die Union bei der Erfüllung ihrer Aufgabe und unterlassen alle Maßnahmen, die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten.»

In unserem Kontext ist es – anders als im politischen Alltagsgeschäft – nebensächlich, ob die Hilfe an Bedingungen geknüpft wird, wer diese kontrolliert (im Falle Griechenlands z.B. die Troika aus Internationalem Währungsfonds, Europäischer Zentralbank und Europäischer Kommission) oder ob Bedingungen und Kontrolle am Ende tatsächlich den Griechen den Weg zu neuer Wettbewerbsfähigkeit und stabilem Wachstum weisen.

Die Hilfe wird zur Bedingung der Möglichkeit einer neuen Chance nicht nur für die Griechen, die unter Kuratel und bei eingeschränkter Souveränität
wirtschaften müssen (was allerdings bereits bei Eintritt in die Währungsunion der Fall war, nur sagen das nationale Politiker ihren Wählern ungern). Auch die Union als ganze bekommt so die Möglichkeit einer neuen Chance – des nötigen und überfälligen Umbaus der Währungsunion in eine politische Union. Erst diese politische Union mit föderaler Struktur und erweiterter demokratischer Kontrolle wird die eingangs genannten Ziele – «wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität der Mitgliedsstaaten» – mit der nötigen Kraft verfolgen und gestalten können.

Dafür bedarf es allerdings der umfassenden und offensiven Anwendung der Vertragsprinzipien auf die kommenden politischen Entscheidungen. Ein neuer Vertrag wäre erst dann nötig, wenn bewiesen ist, dass der Vertrag von Lissabon tatsächlich ausgeschöpft wurde. Bisher ist das Gegenteil der Fall. Solidarität und Selbstbehauptung bleiben darum Ziele, die diese Union noch lange nicht erreicht hat. Das neue Narrativ, die neue Story beschreibt darum eine nahe und mögliche Zukunft der Europäischen Union.


Der Autor leitet die Europa-Projekte der Bertelsmann-Stiftung. 

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