Zuhause in Almanya: 50 Jahre Deutsch-Türkische Einwanderung in Deutschland

Vor nun 50 Jahren wurde das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei unterzeichnet. Die folgende Einwanderung führte zu Erfolgsgeschichten, Missverständnissen und realitätsfernen Integrationsdebatten. Heute suchen immer mehr gut ausgebildete junge Deutsch-Türken ihr Glück im Land ihrer Eltern. ➤ Aktuelle Beiträge zur Türkei.

Zum Wesen des kulturellen Missverständnisses gehört es ja, es gut zu meinen, aber es schlecht zu machen. So bat der deutsche Kaiser Friedrich Barbarossa im Jahre 1189 die Gesandten des oströmischen Imperators, mitsamt ihrer Dienerschaft nach der anstrengenden Anreise, doch bitte Platz zu nehmen. In der wohl groben Welt der westlichen Ritter galt das als hohe Ehrbezeugung, da der Herrscher Gäste sonst über Stunden vor dem Thron stehen ließ – schon um ihnen zu zeigen, wer hier das Sagen hat. Die Byzanter aber sahen Schmach und Schande, sie fühlten sich gedemütigt: Die Gesandten des Ostkaisers – behandelt wie ihre Knechte! Barbarossa, so behaupteten sie, gleiche „dem Sauhirten, der alle Schweine in einen Stall treibt“. Nachher sprachen die Schwerter. Aus unseren Tagen wird berichtet, ein gewichtiger Businessdeal sei in jener Sekunde geplatzt, als der US-Topmanager seinem Kollegen aus Tokio vor versammelter Mannschaft auf die Schulter schlug und vorschlug, „jetzt saufen wir uns einen“. Er wollte damit zum Ausdruck bringen: Du bist jetzt einer von uns. Der Japaner verstand: du nichtswürdige Laus. („Streiflicht“ der Süddeutschen Zeitung im Oktober 2011)

Die Geschichte der Begegnungen von Deutschen und Türken in der deutschen Einwanderungsgesellschaft ist die Geschichte eines doppelten Missverständnisses.

Erstes Missverständnis: Die Gastarbeiter kamen mit einem offenen Zeithorizont, wollten meist aber nur wenige Jahre bleiben. Sie wurden aber von der Bundesregierung mit dem Anwerbestopp 1973 schroff konfrontiert, dabei waren sie nicht selten längst zu einheimischen Inländern geworden.

Zweites Missverständnis: Der Übergang von befristen zu Daueraufenthalten zur Einwanderungssituation wurde von Teilen der Gesellschaft - etwa der Kirchen und Gewerkschaften – frühzeitig registriert. Doch die Politik übte sich defensiv in der Erkenntnisverweigerung. „Die Bundesrepublik“ ist kein Einwanderungsland hieß es sehr lange. Doch Deutschland war und ist ein Einwanderungsland. Und das nicht wider Willen, denn die Migration wurde von hier aus zumindest in den Anwerbejahren aktiv betrieben. Wider besseres Wissen wurde Jahrzehnte das Gegenteil behauptet.

Sie haben vergessen zurückzukehren

Die Trümmer waren weggeräumt, etliche deutsche Männer waren erst seit kurzem wieder zurück aus der Kriegsgefangenschaft, die Demokratie im Wiederaufbau, noch war nichts gefestigt. Zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs brauchen die Deutschen wieder Hilfe aus dem Ausland. Die eigenen Kräfte reichen nicht aus, um das Land aufzubauen und die Wirtschaft anzukurbeln, denn die Republik erlebte einen Boom, man erreichte Ende der 1950-er Jahre nahezu Vollbeschäftigung. Bereits 1953 wurde im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau der Bundeswehr über eine „Heranziehung außernationaler Kräfte“ beraten. Die Italiener waren die ersten – 1955 unterzeichneten Deutschland und Italien das Anwerbeabkommen und die ersten „Gastarbeiter“ kamen. Spanier, Griechen, Portugiesen, Jugoslawen und vor allem Türken folgten. Menschen, die ihr Land aus Armut verlassen haben, andere sind aus Abenteuerlust, zum Studium oder aus Liebe hier gelandet. Gründe für Migration gibt es viele.

Der Mauerbau 1961 und das Abreißen des Flüchtlingsstroms aus dem Osten taten ein Übriges: Mit dem Mauerbau wurde die Arbeitsmigration zu einem wahren Massenphänomen. Es war die CDU unter Bundeskanzler Konrad Adenauer, welche die Gastarbeiter ins Land holte. Ein zweiseitiges Abkommen mit einem langen Aktenzeichen wurde am 30. Oktober 1961 zwischen dem Auswärtigen Amt und der türkischen Botschaft hin und her gesandt, ohne feierliche Zeremonie. "Die Türkische Botschaft beehrt sich, dem Auswärtigen Amt mitzuteilen, dass sich die Regierung der Republik Türkei mit den Vorschlägen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland einverstanden erklärt", fügte die Botschaft dem Schreiben hinzu und bestätigte so „die Vermittlung von türkischen Arbeitnehmern nach der Bundesrepublik Deutschland“. Mehr als zweieinhalb Millionen Türken bewarben sich zwischen 1961 und 1973 um eine Arbeitserlaubnis. Nur jeder Vierte erhielt sie. Zwischen der Gesundheitsprüfung „aus seuchenhygienischen Gründen“ wie auf dem Viehmarkt und der Abreise nach Deutschland lagen oft nur wenige Tage. Mit Sonderzügen wurden Hunderttausende Türken nach Impfung und ärztlicher Tauglichkeitsprüfung an Sammelstellen in Ankara und Istanbul über München nach Deutschland geholt und auf die Industriegebiete der Republik verteilt.

Die Ankömmlinge hielten es meist überhaupt nicht für notwendig, die fremde Sprache zu lernen. Schließlich waren sie Auswanderer auf Zeit, wozu also Energie verschwenden? Und in Deutschland wurde kaum etwas getan, um sie aus der Sprachlosigkeit herauszurufen. Schließlich waren sie nur kurzfristig hier und die Bundesrepublik kein Einwanderungsland. Wozu also Gelder verschwenden? Welche Anstrengung es kostet, neben und nach der Arbeit eine Sprache zu lernen. Welche Anspannung es bedeutet, sich ohne Worte zurechtfinden zu müssen, in den Augen der Mehrheitsgesellschaft schwer von Begriff.

Viele der Migranten lebten zunächst in Massenquartieren. Die sogenannte Baubudenverordnung von 1959 sah je eine Schlafgelegenheit in Etagenbetten vor, einen abschließbaren Spind, einen Platz am Esstisch und einen Stuhl pro Person. Im „Gastarbeiter-Lager“ – so hieß das damals wirklich – der Firma Philipp Holzmann in Frankfurt-Rödelheim kamen auf 800 Menschen nur acht Duschen und fünf Wasserhähne. Die Migranten arbeiteten vor allem als Industriearbeiter und nahmen der Mehrheitsgesellschaft die unfallträchtigen Jobs ab. Die einstigen Landarbeiter wurden als „ungelernte Arbeitskräfte“ eingestuft. Bundesregierung und Wirtschaft frohlockten: Die Ausländer seien "im besten Schaffensalter zwischen 18 und 45 Jahren", sie zahlten kräftig Steuern und Sozialversicherungsbeiträge.

Entsprechend euphorisch begrüßte der damalige Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Josef Stingl, im November 1969 auf dem Münchner Hauptbahnhof den Millionsten Gastarbeiter. Der 24-jährige Türke aus Konya bekam vor seinem Weitertransport zu den Mainzer Klöckner-Werken einen Fernseher geschenkt, und Stingl sagte dem Neuankömmling „die Deutschen sind hilfsbereit und verständnisvoll. Besonders dann, wenn der Ausländer ein fleißiger Mensch ist.“ Dass viele Ankömmlinge kaum lesen und schreiben konnten, dass ein Weg zur Teilnahme an der deutschen Gesellschaft deshalb für diese Menschen besonders weit sein würde, störte damals niemanden. Die „Gastarbeiter“ sollten ohnehin nach ein paar Jahren Arbeit wieder nach Hause fahren.

Aber die Rechnung auf eine frei verfügbare und vollkommen kontrollierbare „industrielle Reservearmee“ (Historiker Ulrich Herbert) ging nicht auf. Zwar verfügte wegen der sich eintrübenden Wirtschaftslage die sozial-liberale Regierung Willy Brandts 1973 einen Anwerbestopp, die „Gastarbeiter“ wurden zum ökonomischen Ballast erklärt. Doch viel Ausländer verfestigten ihren Aufenthalt, weil ihnen klar wurde, dass eine abermalige Einreise nicht möglich sein würde, und holten ihre Familien nach. Auch ein Gesetz Anfang der Achtziger zur Förderung der Rückkehrbereitschaft, welches jedem ausreisewilligen „Gastarbeiter“ eine Prämie versprach, brachte nichts, denn in der Türkei gab es immer wieder Militärputsche, Wirtschaftskrisen, Inflationsschübe.

Zum Zeitpunkt des Anwerbestopps lebten etwa 800.000 Türken in Deutschland. Heute leben rund 2,5 Millionen türkischstämmige Menschen in der vierten Generation hier. Die große Mehrheit von ihnen ist entweder auf dem Weg des Familiennachzugs hergekommen oder hier geboren. Denn Migration ist nicht nur eine Sache des Einzelnen, ganze Familien hängen daran. Wer geht, der verlässt auch ein lebendiges Netz Beziehungen, welches er sich neu zusammennähen muss und welches im folgt. Doch die erste Generation hat den Traum von der Rückkehr nie aufgegeben, sie haben ihn nur immer weiter aufgeschoben – 30 Prozent der damals eingewanderten Türken sind wieder zurück in die Türkei, und mittlerweile folgen ihnen auch ihre Urenkel.

Von Einbeziehung und Ausgrenzung

Die Selbstverständlichkeit und Gelassenheit türkischen Lebens in Deutschland war ein langer und steiniger Weg, der zu vielen Höhepunkten führte und dennoch an manch schmerzhafte Grenze stößt. Vor allem die Wende war für viele Türken ein einschneidendes Erlebnis. „In Auseinandersetzungen und Debatten um den Mauerfall 1989 und die deutsche Einheit 1990 ist die Perspektive verengt auf die Erfahrungswelten des deutschen Bevölkerungsanteils diesseits und jenseits der ehemaligen Grenze“, kritisiert Necim Cil vom Institut für Europäische Ethnologie an der Humboldt Universität in Berlin. „Der Wiedervereinigungsslogan 'Wir sind ein Volk' zielte auf die Einheit der Angehörigen des Volkes mit einem deutschen Hintergrund, nicht etwa auf die Einheit der Bevölkerung in Deutschland. Der Mauerfall und die deutsche Wiedervereinigung veränderten das gesellschaftliche Gefüge. Die Zwei-Gruppenkonstellation (Westdeutsche-Einwanderer) wurde zu einer Drei-Gruppen-Konstellation (Westdeutsche-Ostdeutsche-Einwanderer) und drängte zu einer Neupositionierung der einzelnen Gruppen“, sagt Cil.

Nach der Wiedervereinigung und im Zuge einer politischen Debatte um das Asylrecht kam es in Deutschland immer häufiger zu rassistisch unterlegten Gewalttaten. Die Pogrome und Brandanschläge von Hoyerswerda (1991), Rostock (1992), Mölln (1992) und schließlich Solingen (1993), bei dem Rechtsextreme das Haus einer türkischen Familie in Brand setzten und fünf Menschen starben, führten dazu, dass Migranten sich aus Angst zurückzogen. Verheilt sind diese Wunden bis heute nicht.

2008 zeigten Ergebnisse einer Umfrage im Auftrag der „Zeit“, wie zweigespalten die Deutschtürken heute noch sind. So sagte jeder zweite Türkischstämmige, er habe immer noch das Gefühl, hierzulande nicht willkommen zu sein. Dennoch sagten zwei Drittel auch, dass es gut gewesen, dass ihre Familien hierhergekommen seien. Die überwältigende Mehrheit der Türken in Deutschland wünscht sich, dass auf ihre Eigenheiten mehr Rücksicht genommen wird. Zwar betonte Bundeskanzlerin Angela Merkel, sie sei auch die Regierungschefin der hier lebenden Türken. Doch bei der Studie kam heraus: 78 Prozent der Deutschtürken empfinden Angela Merkel nicht als ihre Kanzlerin. Bei den Frauen sind es sogar 83 Prozent.

Doch woher kommt dieser Zwiespalt? Warum fühlen sich Menschen hier in der vierten Generation noch immer nicht angenommen? Ein Beispiel für die andauernde Ablehnung ist die Biografie von Serdar Gül (Name geändert): Der junge Mann hat türkische Wurzeln, ein beachtliches Strafregister und sollte deswegen abgeschoben werden. De facto ist Serdar in Berlin geboren, dennoch wurde er im Dezember 2007 von der Ausländerbehörde dazu aufgefordert, seine Heimat im Februar 2008 zu verlassen. Er sollte aus Berlin in die Türkei abgeschoben werden. Ein Land, das er kaum kennt, von dem die Behörde aber behauptet, es sei seine Heimat.

Der heute 37-Jährige saß zu diesem Zeitpunkt in der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel. Seit seiner Kindheit ist er Stammgast bei den Behörden. Sein Strafregister hat zahlreiche Eintragungen wegen Diebstahl, Körperverletzung und Drogendelikten. Serdar hat viele Stationen hinter sich, begonnen hat alles in Berlin. Seine Großmutter kam 1963 aus Ankara in die Stadt und holte erst später ihre Tochter, Zehra Gül, nach. Gemeinsam arbeiteten sie in Fabriken, standen am Fließband und hatten sich Deutschland irgendwie anders vorgestellt. Weil das Sortieren im Akkord nicht alles sein konnte, begannen Mutter und Tochter, gemeinsam auf kleinen Bühnen zu schauspielern und zu singen. Zehra verliebte sich und bekam mit ihrem Ehemann drei Kinder. Gülay, Tülay und Serdar. Die Ehe hielt nicht lange, und irgendwann war die Türkin eine alleinerziehende Mutter.

Mit dreizehn kam Serdar in ein Jugendheim, das war der Bruch in seiner Biografie. Es folgten Diebstähle, ständiger Ärger mit den Lehrern, irgendwann der erste Joint. Mit sechzehn muss er eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen, vorher war sein Status über die Eltern gedeckt. Seine Betreuer versäumen es, seine Papiere einzureichen. Deswegen bekommt er nur noch befristete Aufenthaltsgenehmigungen. Mal für ein Jahr, mal für wenige Wochen.

Er befand sich in einer Endlosschleife: vom Heim in eine Wohngemeinschaft, zwischendurch die Gänge in die Ausländerbehörde. Mit zwanzig der erste Heroinkonsum und Beschaffungskriminalität - dann 1996 das Urteil: "Raub in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung". Es folgen drei Jahre Gefängnis, und er bekam den ersten Ausweisungsbescheid. Weil Serdar in der Zelle versuchte, sich umzubringen, konnte er aber nicht in die Türkei abgeschoben werden. Nach seiner Haftentlassung wieder eine befristete Aufenthaltserlaubnis, er war clean und motiviert. Alles soll gut werden. Aber nichts wurde gut, im Gegenteil: Die Abstände zwischen den Abstürzen werden immer kürzer.

Etwas sarkastisch könnte man sagen: "Selbst Schuld!" Es gab ausreichend Hilfsangebote, er hätte doch einfach nur etwas Durchhaltevermögen haben müssen. Er hätte doch einfach einen deutschen Pass beantragen können. Dann könnte ihn niemand mehr abschieben. Man könnte aber auch sagen, er ist ein Produkt der deutschen Gesellschaft. Hier wurde er gezeugt, hier wurde er geboren, Serdar hat sich nie als Migrant gefühlt. Seine Freunde sind überwiegend Deutsche, sein Werdegang ist deutsch, er träumt auf Deutsch und verdeutlicht, dass "Deutschsein" anders aussieht als blond und blauäugig. Aber diese Argumente zählen kaum bei der Ausländerbehörde.

"Ich habe nie verstanden, dass mich Deutschland nicht will", sagt Serdar. Er sei doch ein Deutscher. Dass er sich nicht immer richtig verhalten habe, weiß er. Eigentlich müsste er Deutschland verfluchen, aber das kann er nicht, dann wäre er heimatlos. Den Wunsch, als Deutscher unter Deutschen zu leben, will er nicht aufgeben. "Ich habe versucht, böse auf die deutsche Gesellschaft zu sein, aber es hat nicht funktioniert", erzählt Serdar, "das ist doch hier meine Heimat".

Aber so einfach ist das alles nicht. Wer Teil dieser Gesellschaft ist, das definiert das hiesige Recht sehr genau. "Nach dem Staatsangehörigkeitsrecht ist deutscher Staatsangehöriger, wer die deutsche Staatsangehörigkeit erworben und nicht wieder verloren hat. Jeder Person, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, stehen in der Bundesrepublik Deutschland die gleichen Rechte und Pflichten zu, unabhängig davon, auf welche gesetzlich vorgesehene Weise die Staatsangehörigkeit erworben wurde", so definiert es das Bundesinnenministerium. Menschen mit Migrationshintergrund, die hier geboren werden, müssen ihre Einbürgerung beantragen. Wer das nicht macht, dem kann es praktisch wie Serdar ergehen. Der junge Mann wurde letztlich nicht abgeschoben, weil seine Schwester Gülay alles Menschenmögliche in Bewegung setzte. Dennoch zeigt der Fall, dass das Menschenrecht auf Heimat, welches in anderen Zusammenhängen häufig hervorgehoben wird, hier ein wenig diffus geraten ist.

Debatten von der Leitkultur bis hin zu den Kopftuchmädchen

"Es kennzeichnet die Deutschen, dass bei ihnen die Frage, was ist deutsch, niemals ausstirbt", stellte schon einst Friedrich Nietzsche fest. Seit Menschen aus anderen Ländern nach Deutschland einwandern, wird über sie gestritten, leidenschaftlich und polemisch debattiert und natürlich werden die Ausländer auch instrumentalisiert.

Roland Koch, einst Ministerpräsident in Hessen, sprach von der größeren "Anpassungserwartung" an "diejenigen, die zusätzlich ins Land kommen". Im Landtagswahlkampf 1999 des damaligen hessischen Unions-Chefs gegen die doppelte Staatsbürgerschaft konnten die Wähler an CDU-Stände kommen, um "gegen die Ausländer zu unterschreiben". Binnen weniger Wochen sammelte Koch in seinem ersten Wahlkampf fünf Millionen Unterschriften gegen die geplante Staatsbürgerschaftsreform der rot-grünen Bundesregierung. Wolfgang Schäuble wünschte sich die "Eingliederung fremder Kulturen", und der frühere CSU-Chef Edmund Stoiber hatte schon immer vor dem multikulturellen "Mischmasch" gewarnt. Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl bat die Ausländerbeauftragte Cornelia Schmalz-Jacobsen nicht ein einziges Mal zu einem offiziellen Gespräch über Ausländer. Und die Bundesregierung weigerte sich in den 90er-Jahren konsequent, sich zum längst real gewordenen Status als Einwanderungsland zu bekennen, ja betonte sogar, dass Deutschland nach wie vor kein solches sei.

Kurze Zeit später hielten neue Reizvokabeln Einzug in die Öffentlichkeit. Der Begriff "deutsche Leitkultur" war im Jahr 2000 erstmals von Friedrich Merz verwendet worden. Der damalige Unions-Fraktionschef löste damit eine heftige Debatte aus. Trotzdem nahm die CDU 2007 den umstrittenen Begriff der „Leitkultur“ in ihr Grundsatzprogramm auf.

Und dann betrat ein ganz neuer Migrationsexperte die Bühne: Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ steht seit dem Erscheinen im August 2010 auf der Spiegel-Bestsellerliste. Seine Thesen sind schnell zusammengefasst: Sarrazin sagt, er habe nichts gegen Muslime, er finde sie nur meist dumm. Er sieht sich als Sozialdemokrat, der ausspricht, was sich sonst angeblich keiner zu sagen traut: dass sich Deutschland abschafft und Muslime Europa unterwandern. Am 17. Oktober 2010 erklärte Kanzlerin Angela Merkel dann, dass der multikulturelle Ansatz des Zusammenlebens gescheitert sei. Dennoch gratuliert Merkel dem türkischstämmigen deutschen Fußballnationalspieler Mesut Özil nach einem 3:0 gegen die Türkei öffentlichkeitswirksam in der Umkleidekabine.

Bei der Diskussion um den Sozialdemokraten Sarrazin wurde sein Parteigenosse, der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt, übergangen. Schmidt hat sich zwar nie für angeblich genetisch bedingte Intelligenzunterschiede interessiert, sich aber mehrfach kritisch über die Zuwanderung geäußert.

Eine „kulturelle Einbürgerung“ der ausländischen Einwohner sei bisher nur „sehr unzureichend gelungen“, schreibt er zum Beispiel in „Außer Dienst“, seinem vor drei Jahren erschienenen politischen Vermächtnis, und folgert: „Wer die Zahlen der Muslime in Deutschland erhöhen will, nimmt eine zunehmende Gefährdung unseres inneren Friedens in Kauf.“ Als damaliges Kabinettsmitglied wirkte er am Anwerbestopp von 1973 mit, den die Regierung Willy Brandt erließ.

Das Eigene und das Fremde: zu Hause in Almanya

Der erste, der als Türke prominent wahrgenommen wurde, war der Journalist Günter Wallraff. Dunkelhaarig und mit Schnäuzer getarnt, begab sich Wallraff als „Ali“ in die Welt der Gastarbeiter und malochte unter Tage. Sein daraus folgendes Buch „Ganz unten“ ist seit seinem Erscheinen 1985 millionenfach verkauft worden.

Die deutsch-türkische Migrationsbewegung ist eine Geschichte von Trennung und Wiederbegegnung, von Fremde und Heimat, von Zusammenleben und Zusammenwachsen. Das „Land der Arbeit“ wurde von Jahr zu Jahr zum „Land des Lebens“. In den vergangenen 50 Jahren hat es neben all den Schwierigkeiten auch überall deutsch-türkische Erfolgsgeschichten gegeben. Lebensläufe von Menschen, die hierhin gekommen sind und Familien gründeten, die hier geboren wurden und sich in vielfältiger Form einbringen. Sie prägen das kulturelle, gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Leben dieses Landes massiv mit. Die einstigen Fremden haben die Republik verändert, das Land ist bunter geworden. Und die Mehrheitsgesellschaft musste einen Perspektivwechsel annehmen: Aus den „Gastarbeitern“ wurden Mitbürger, die nicht mehr nur unter Tage arbeiteten und die das Leben in zwei Kulturen für sich nutzten.

Doch was bedeutet der Spagat zwischen zwei Kulturen? Die türkischstämmige Schauspielerin Renan Demirkan schildert, sie sei immer und überall die Exotin gewesen. Deutsche Regisseure wollten ihr Klischeerollen verpassen, türkische Regisseure mochten ihr angeblich holpriges Türkisch nicht. In der Tageszeitung „Hürriyet“ war einst über die zierliche Künstlerin zu lesen, sie sei „eine Türkin, die von der Türkei keine Ahnung hat.“ Der deutsch-türkische Anwalt Mehmet Daimagüler aus Berlin beschreibt in seinem eben erschienen Buch, wie er in der Schule schikaniert wurde, Lehrer ihn diskriminierten und er nach der Grundschule trotz guter Noten nicht aufs Gymnasium konnte. Der Jurist musste sich seinen Weg freikämpfen, um nach dem Haupt- und Realschulabschluss studieren zu können. Er hat es bis nach Harvard geschafft, war Berater bei Boston Consulting und Mitglied des Bundesvorstands der FDP. Diese zwei Kurzbiografien zeigen, dass das Aufwachsen in zwei Kulturen nicht immer einfach ist, es kollidieren Wertvorstellungen und Unwissen miteinander. Doch es ist auch eine wunderbare Chance, dass Leben aus mehreren Blickwinkeln betrachten zu können und trotz aller Widrigkeiten gibt es deutsch-türkischen Biografien, die so viel Mut machen.

Ob Informatikbranche oder Finanzwelt – es gibt viele türkische Erfolgsgeschichten und Deutschland. Denn die Menschen sind mehrsprachig und motiviert, sie schaffen neue Jobs und sind eine wichtige Stütze der Wirtschaft, türkische Unternehmer sind längst nicht mehr auf gastronomische Nischen fixiert. Rund 80.000 deutsch-türkische Unternehmer beschäftigen 400.000 Arbeitskräfte und setzen jährlich rund 35 Milliarden Euro um. Sie sind Anwälte, Ärzte und Unternehmensberater, sind Herrenfriseure und Änderungsschneider, Lebensmittelimporteure und Computerspielentwickler. Und nicht mehr nur Gemüsehändler und Dönerbudenbesitzer. Seit den zaghaften Anfängen in den 70er-Jahren mit Lebensmittelläden, Reisebüros und Dolmetschern hat sich das deutschtürkische Unternehmertum ausdifferenziert. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers (PwC) hat 150 türkischstämmige Unternehmer zu ihren Erfolgsrezepten befragt hat. Ergebnis: Die Geschäftsleute sehen den Mix deutscher und türkischer Eigenschaften als ihren großen Trumpf. Die allermeisten von ihnen verstehen sich, der PwC-Studie zufolge, als deutsche Geschäftsleute mit türkischen Wurzeln, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben und behalten wollen. Diese Menschen sind mittendrin und nicht allein oder unter sich.

Auf der politischen Bühne ist der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir nicht mehr wegzudenken. Bilkay Öney (SPD) ist von der Berliner Abgeordneten zur baden-württembergischen Integrationsministerin aufgestiegen. Vural Öger hat sich zu einem der größten Reisenunternehmer der Republik hochgearbeitet. Kemal Sahin hat ein milliardenschweres Textilunternehmen aufgebaut. Sibel Kekili spielt seit neuestem im „Tatort“. Und als 2004 zum ersten Mal seit 18 Jahren der Hauptpreis der Berlinale nach Deutschland ging, gewann der Regisseur Fatih Akin den Goldenen Bären. Die Soapdarstellerin Sila Sahin zog sich kürzlich als erste Türkin für den Playboy aus und Feridun Zaimoglu schreibt auf Deutsch. „Die erste Generation, sie hat so gekämpft. Man soll diesen großartigen Menschen ein Denkmal setzen, um ihre Arbeit zu würdigen“, forderte Zaimoglu kürzlich und schiebt hinterher: „Achtet sie, diese schönen Menschen! Sonst werde ich zum Pitbull.“

Zurück in die Fremde: Tschüss Deutschland - Merhaba Türkiye

Wenn es nach dem CSU-Chef Horst Seehofer ginge, dann würde Emin Capraz gar nicht im Gerichtssaal stehen. Der 36-Jährige ist Anwalt und arbeitet in einer Kanzlei in Köln. Er hat einen deutschen Pass, hat seine Ausbildung und auch das Studium im Rheinland absolviert, fließend Deutsch spricht er natürlich sowieso. Emin Capraz ist also das perfekte Beispiel für gelungene Integration.

Aber da sind seine türkischen Wurzeln, nach den Worten des Politikers sind seine Eltern "Zuwanderer aus einem fremden Kulturkreis", die hier nichts so recht zu suchen haben. Gerade Türken und Araber, befand der bayerische Ministerpräsident im Winter letzten Jahres, täten sich schwer mit der Integration und sollten doch bitte lieber in ihrer Heimat bleiben. Emin Capraz liebt Deutschland, seine Heimat - aber er fühlt sich hier nicht mehr gewollt. Und geht deswegen jetzt zurück ins Land seiner Eltern, in die Türkei.

Er hat genug von Deutschland, genauer gesagt, genug davon, in diesem Land immer noch der Türke zu sein, ständig gegen Vorurteile ankämpfen zu müssen. Immer wieder habe er erlebt, wie er allein wegen seines türkischen Namens anders behandelt wurde als Menschen mit deutsch klingendem Namen, sagt Capraz. Seine Frau stammt aus Honduras, hat ebenfalls in Deutschland studiert - und zieht jetzt gemeinsam mit ihm im Februar nach Istanbul.

Die Capraz liegen im Trend. Deutschland ist längst kein Einwanderungsland mehr, sondern Auswanderungsland. Vor allem die Qualifizierten gehen - Deutsche wie andernorts Geborene -, die weniger Qualifizierten bleiben. Die "Hochqualifizierten" wollen ohnehin erst gar nicht hierher, sondern gehen lieber gleich in die USA oder in die Schweiz.

Vor allem die Zahl der türkischen Auswanderer ist in den letzten Jahren beständig gestiegen. Die Migrationsrichtung hat sich längst umgekehrt: Nach Angaben des Statistischen Bundesamts lag die Zahl der Türken, die Deutschland verließen, 2008 bei knapp 35.000 - nach Deutschland zogen im selben Jahr nur rund 27.000. Ein Jahr später packten schon 40.000 ihre Koffer, aus der Gegenrichtung kamen nur 30.000.

Die überwältigende Mehrheit von ihnen ist gut ausgebildet, hat in Deutschland studiert. Ihre Eltern kamen ins Land, um dort irgendeine Arbeit zu bekommen. Die Kinder kehren nun in die Türkei zurück - um Anerkennung zu finden. Jeder dritte türkischstämmige Akademiker will Deutschland verlassen - am liebsten in Richtung Türkei, ermittelte bereits 2008 die TASD-Studie über „Türkische Akademiker und Studierende in Deutschland“. Alles junge Menschen, in die auch finanziell - Schule, Ausbildung, Studium - erheblich investiert wurde.

Dabei kann es sich Deutschland gar nicht leisten, auf junge, gut ausgebildete Menschen zu verzichten. Mit dem Wirtschaftsaufschwung ist auch die Klage über den Fachkräftemangel wiedergekehrt - und die alte Forderung, die Grenzen für gut ausgebildete Zuwanderer zu öffnen. "Wir brauchen dringend mehr qualifizierte Zuwanderung aus aller Welt, und zwar als Teil einer Gesamtstrategie gegen Fachkräftemangel", sagt Hans Heinrich Driftmann, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages.

"Inzwischen fehlen der Wirtschaft rund 400.000 Ingenieure, Meister und gut ausgebildete Facharbeiter - Tendenz: steigend", rechnet er vor: "So geht uns rund ein Prozent Wirtschaftswachstum verloren. In Zukunft wird sich der Mangel noch verstärken." Bis zum Jahr 2030, so Driftmann, dürfte das Potential von Arbeitskräften um sechs Millionen Menschen schrumpfen - das heißt, sechs Millionen, die Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlen, fallen weg.

Emin Capraz kennt diese Zahlen. Er weiß, dass Deutschland ihn eigentlich braucht. "Aber ich habe meine Bringschuld erfüllt. Nur meine deutschen Landsleute verharren leider in veralteten Mustern", kritisiert der Anwalt und erzählt von den Nachteilen, die er als Mensch mit Migrationshintergrund ständig erfährt: von dem Vorstellungsgespräch in einer Kanzlei zum Beispiel, nach dem man ihm erklärte, er sei zwar bestens geeignet, würde mit seinem türkischen Namen aber wohl leider Mandanten anziehen, die nicht in das Kanzleiprofil passten. Capraz ist auch genervt von den ständigen Fragen, woher er denn kommt und warum er so gut Deutsch spricht.

Seine Entscheidung, Deutschland zu verlassen, war ein schleichender Prozess, sagt er. Denn egal was er tat: das Gefühl, dazuzugehören, blieb aus. Irgendwann hatte Capraz genug und bewarb sich im Ausland. Ganz weit weg, in der Mongolei und in Kambodscha, geklappt hat leider beides nicht.

Mit seiner Frau hat er sich dann für die Türkei entschieden. "Ich will eine Familie gründen", sagt Capraz, "und wenn meine Kinder hier das Gleiche erleben wie ich, würde ich das nicht mehr aushalten."

"Das" meint vor allem die unsachliche Diskussion über das Thema Migration, die durch Sarrazins Bestseller "Deutschland schafft sich ab" und Seehofer'schen Populismus angeheizt wird. Laut Umfragen sind 47 Prozent der Bevölkerung Seehofers Meinung, dass Deutschland keine "zusätzliche Einwanderung aus der Türkei und den arabischen Ländern" brauche.

Nach einer Studie sieht ein Drittel der Deutschen die Bundesrepublik "durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maße überfremdet". Und mehr als 30 Prozent finden, dass man Ausländer bei Arbeitsplatzknappheit ohnehin wieder "in ihre Heimat schicken sollte". So wie 1983, als die Kohl-Regierung versuchte, Migranten die Rückkehr in ihre alte Heimat mit einer Prämie schmackhaft zu machen.

Doch das muss die Bundesrepublik heute gar nicht mehr: Abschied aus Almanya, dafür hat sich auch Mehmet Özdemirci entschieden. Der 42-jährige Diplomkaufmann, geboren in Ankara, verbrachte den Großteil seiner Jugend in Deutschland. Er machte hier sein Abitur und studierte in Köln Betriebswirtschaftslehre. Aber schon 1997 zog er nach Istanbul und fing bei Mercedes-Benz an. Er hat seine Entscheidung nie bereut und arbeitet heute als Finanzvorstand in einem Elektronikkonzern mit über 10.000 Mitarbeitern. "Hier ist es freundschaftlicher und herzlicher zwischen den Kollegen als in Deutschland", sagt er, "dort werden die Menschen eher als Maschine angesehen." Nach Deutschland zurückzukehren kann er sich nicht mehr vorstellen, zwei Stellenangebote hat er in den letzten Jahren abgelehnt.

Rückkehrer wie Özdemirci und Capraz haben in der Türkei gerade wegen ihres vielschichtigen kulturellen Hintergrunds gute Karten, sind hier als "Almanci", wörtlich übersetzt "Deutschländer", willkommen. Und auch wenn Emin Capraz noch keinen Job hat, stehen die Chancen gut: Am Goldenen Horn herrscht Goldgräberstimmung. Nach einem kurzen, krisenbedingten Einbruch floriert die türkische Wirtschaft wie nie zuvor. Ohne Staatshilfe meisterten die Banken und die großen Konzerne die Finanzkrise, das Bruttoinlandsprodukt wuchs im ersten Quartal 2010 um sagenhafte 11,7 Prozent, im zweiten um 10,3 Prozent - nur China kennt ähnliche Dimensionen.

Wer nach Istanbul geht, trifft beim deutsch-türkischen Rückkehrer-Stammtisch Gleichgesinnte. Cigdem Akkaya hat die monatlichen Treffen 2005 begründet, heute ist daraus ein Netzwerk mit rund 1.000 Mitgliedern geworden. 90 Prozent der Deutschtürken seien Akademiker, sagt Akkaya, die ebenfalls aus Deutschland in die Türkei ausgewandert ist.

Das Dortmunder Institut futureorg hatte in seiner Untersuchung vor gut zwei Jahren 250 türkische und türkischstämmige Akademiker befragt, von denen knapp drei Viertel in der Bundesrepublik geboren wurden. Fast vier Fünftel bezweifelten, "dass in Deutschland eine glaubwürdige Integrationspolitik betrieben wird". Und von denen, die die Bundesrepublik verlassen wollten, gaben 42 Prozent an, in Deutschland fehle ihnen das "Heimatgefühl".

Emin Capraz fühlt sich am Bosporus zwar auch als Ausländer, "aber erwünscht". In seiner Heimat Deutschland sei er eben nur juristisch gesehen Inländer, "aber kaum erwünscht". Er freut sich auf den Neuanfang.

Landauf und landab wird in diesen Wochen an das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik und der Türkei gedacht. Dabei sollte nicht vergessen werden: Damals träumten die Arbeiter aus Anatolien von einem Grundig-Fernseher. Heute ist Grundig eine türkische Marke.

Cigdem Akyol (32) ist Redakteurin im Gesellschaftsressort bei der Tageszeitung (taz).