Vorwort der deutschen Herausgeber

Lesedauer: 6 Minuten
Cover der Publikation "Zur Lage der Welt 2012", oekom, München

18. April 2012
Ralf Fücks/Klaus Milke
Von einer ernstgemeinten Wende zur nachhaltigen Entwicklung sind wir kurz vor dem großen Rio-Gipfel im Juni dieses Jahres noch weit entfernt. Das gilt für Europa wie für die ganze Welt. Vielmehr stecken wir nachhaltig in der Krise und bewegen uns sehenden Auges auf den ökologischen Kollaps zu. Statt die hartnäckige Wirtschafts- und Finanzkrise, die vor allem Europa plagt, als Aufforderung zu einem grundlegenden Kurswechsel zu verstehen, wollen starke Kräfte in Politik und Wirtschaft zurück zum „business as usual“, obwohl uns doch gerade das alte Wirtschafts- und Konsummodell in die Krise geritten hat.

Ob sie den Begriff „nachhaltige Entwicklung“ nun erfunden oder nur popularisiert haben – die Mitglieder der Brundtland-Kommission zielten mit ihrem Bericht „Our Common Future“ vor genau 25 Jahren auf einen globalen Kurswechsel. Nachhaltige Entwicklung bedeutet in ihrer Definition „eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen“.  Es geht also um einen auf Gerechtigkeit basierenden Interessensausgleich zwischen den heute lebenden Menschen und den künftigen Generationen. „Nachhaltige Entwicklung“ bedeutet im Kern, dass die Heutigen die Freiheit der kommenden Generationen respektieren, ihr Leben entsprechend ihren Bedürfnissen zu gestalten, statt ihnen eine ausgeplünderte, aufgeheizte Erde sowie einen riesigen finanziellen Schuldenberg zu hinterlassen.

Ist in dieser Richtung in den letzten zweieinhalb Dekaden wirklich nichts erreicht worden, wie einige behaupten – trotz der auf den Brundtland-Report folgenden großen Weltkonferenzen im Rahmen der UN? Die Bilanz fällt höchst gemischt aus, vor allem, wenn man sich vor Augen führt, wie sehr sich die Welt seither politisch verändert hat. Die Entwicklungsländer haben sich aus der Geiselhaft des Ost-West-Konflikts befreit, einige sind auf Augenhöhe mit den Industrieländern angelangt. Grünes Denken und grüne Politik beeinflussen in unterschiedlichen Ausprägungen Regierungshandeln, Verbraucherverhalten und auch die Industrie. Dennoch ist bei einer Fortsetzung der jetzigen Trends – einschließlich einer ungezügelten Spekulation mit Land und Nahrungsmitteln – die Ernährung von bald 9 Milliarden Menschen gefährdet. Die Ressourcen unseres Heimatplaneten reichen dafür aus, doch ist der Zugang zu Land, Trinkwasser und Nahrungsmitteln für Milliarden Menschen nicht gesichert. Zugleich sehen wir alles andere als Fortschritte bei der Eindämmung des gefährlichen Klimawandels. Einige kleine Inselstaaten sind schon heute von Überflutung bedroht, trotz eines bald 20-jährigen Verhandlungsprozesses über ein globales Klimaschutzabkommen. Die Erderwärmung beschleunigt wiederum das Artensterben, das durch die fortschreitende Zerstörung naturnaher Landschaften vorangetrieben wird. Die großen Indikatoren der ökologischen Krise bewegen sich allesamt weiter im roten Bereich.

Deutschland kommt mit seiner kraftvollen Zivilgesellschaft, einer ausgeprägten grünen Bewegung und seiner wirtschaftlichen Stärke eine besondere Verantwortung zu. Mit dem parteiübergreifenden Beschluss, aus der Atomenergie auszusteigen und zukünftig voll auf Energieeffizienz und erneuerbare Energien zu setzen, ist die Bundesrepublik in einer beispiellosen Ausgangsposition, die von der Weltöffentlichkeit aufmerksam verfolgt wird. Deutschland hat damit eine Lotsenfunktion auf dem Weg zu einer Zero-Carbon-Industriegesellschaft. Um dabei erfolgreich zu sein, braucht es eine entschlossene, weitblickende Politik, flankiert von einer breiten gesellschaftlichen Beteiligung und unternehmerischer Initiative. Es geht um die Entfaltung einer Umbaudynamik, die Deutschland zu einem Modellprojekt für eine „Green and fair Economy“ und ein auch die Wachstumskritik berücksichtigendes „Green Growth“ werden lässt.

Gegenwärtig droht dieser ökologische Aufbruch ins Stocken zu geraten, bevor er richtig begonnen hat. Es fehlt an einer konsistenten Strategie, um die selbst gesetzten Ziele in Wirklichkeit zu verwandeln. Das gilt auch für die europäische Politik. Deutschland setzt auf einen rabiaten Sparkurs im Rest Europas als Ausweg aus der Schuldenkrise. Diese einseitige Ausrichtung verstärkt noch den Niedergang der Wirtschaft in den betroffenen Ländern. In der Folge brechen die Staatseinnahmen weg, die sozialen Spannungen steigen und mit ihnen die nationalen Ressentiments. Ein bloßer Austeritätskurs eröffnet keine Zukunftsperspektiven.

Angesichts dieser Situation liegt eine große Chance darin, jetzt die notwendigen Investitionen für mehr Klimaschutz und Ressourcengerechtigkeit anzustoßen. Schlüsselprojekte für einen solchen europäischen „Green New Deal“ sind der Aufbau eines europaweiten Verbunds erneuerbarer Energien und der dafür notwendigen Stromnetze, die Modernisierung des Schienenverkehrs und der ökologische Umbau unserer Städte. Solche Impulse für den Aufbau einer „Green Economy“ schaffen zugleich Arbeitsplätze und führen zu höheren Steuereinnahmen. Sie sind damit teilweise selbstfinanzierend. Weitere Finanzquellen sind die Streichung ökologisch schädlicher Subventionen und die schrittweise Erhöhung von Abgaben auf den Verbrauch endlicher Ressourcen. Dabei ist „Green Economy“ nicht mit „Greenwashing“ zu verwechseln. Es geht nicht darum, die Fassade frisch grün anzustreichen, sondern den Einstieg in eine konsequente Kreislaufwirtschaft zu organisieren.

Wenn wir also sagen, wir brauchen grünes Wachstum, dann muss das zugleich heißen: wir müssen Wachstum neu definieren. Ein „Weiter so!“ ist nicht akzeptabel. Wirtschaftliches Wachstum muss die Lage der Armen verbessern und soziale Teilhabe für alle ermöglichen. Zugleich müssen Emissionen und Ressourcenverbrauch sinken statt weiter zu steigen. Im Kern geht es um die Entkopplung ökonomischer Wertschöpfung und Naturverbrauch. 

In diesen Prozessen ist Deutschland auch deshalb besonders gefragt, weil „Made in Germany“  weltweit eine große Rolle spielt. Ein so stark mit der Weltwirtschaft verflochtenes Land hat ein essentielles Interesse an fairen Spielregeln in der internationalen Arbeitsteilung, die nachhaltiges Wachstum ermöglichen und Handelskriege vermeiden. Wir folgen hier John Ruggie, dem Menschenrechts-Berichterstatter von UN-Generalsekretär Ban Ki-moon, der dafür plädiert, dass die Staaten sich stärker auf ihre Schutzpflichten für Menschenrechte und die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen besinnen müssen. Insbesondere die weltweit operierenden Unternehmen müssen ihre Sorgfaltspflichten in sozialer und ökologischer Hinsicht erfüllen. Diejenigen, deren Rechte verletzt werden, müssen sie reklamieren und durchsetzen können. Dieser Dreischritt von „Protect – Respect – Remedy“, der in den Leitlinien des UN-Menschrechtsausschusses niedergelegt ist, gehört mit seinem Mix aus freiwilligen Vereinbarungen und verbindlichen Regeln zur Debatte um nachhaltige Entwicklung.

Hiermit ist mehr als das viel beschworene drei Säulen-Modell der sozialen, ökologischen und ökonomischen Nachhaltigkeit angesprochen. Es geht darum, die Einbettung des Finanzmarktes in die Realwirtschaft, der Wirtschaft in die Gesellschaft und die Einbettung der Gesellschaft in ihre ökologische Umwelt neu zu gestalten. Die dabei offensichtlich werdenden  Begrenzungen sind hart, wenn auch nicht unflexibel. Sie erfordern ein hohes Maß an Innovationsfähigkeit nicht nur im technologischen Bereich, sondern auch in sozialer und politischer Hinsicht.

Der Blick auf Rio+20 sollte nicht so sehr zurück als nach vorn gerichtet werden. Der Jahrestag der ersten globalen Konferenz für Umwelt und Entwicklung sollte genutzt werden, um die nächsten konkreten Schritte auf dem Weg in eine nachhaltige Zukunft zu gehen und aus den Verzagtheiten, Irrungen und Wirrungen der Vergangenheit herauszufinden. 

Berlin, im März 2012

Ralf Fücks                                                                 Klaus Milke

Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung                       Vorstandsvorsitzender von Germanwatch

 

Zur Lage der Welt 2012

Nachhaltig zu einem Wohlstand für alle: Rio 2012 und die Architektur einer weltweiten grünen Politik

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