Hin und wieder geschieht etwas, das einen so tief berührt, dass es den eigenen Standpunkt regelrecht verrückt. Als Rechtsanwalt Gcina Malindi, ein erfahrener Vertreter seines Faches, der Präsident Jacob Zuma in dem Speer-Fall („The Spear“) vertritt, am Donnerstag zusammenbrach und weinte, hat das etwas in mir ausgelöst. Ich war im Kern meines Wesens erschüttert worden. Plötzlich fiel mir vieles von dem wieder ein, was ich in den entlegensten Windungen meines Hirns vergraben hatte.
Es erinnerte mich daran, oder besser gesagt, es zwang mich regelrecht dazu, mich zu erinnern, dass es in meinem tiefsten Innern und in dem meiner schwarzen Mitmenschen Verwundungen gibt - Schmerz, Ärger und sogar Hass auf das, was hier geschehen ist. Ich dachte an die Zeit der Apartheid zurück. Die Verachtung, mit der mich die Weißen behandelten, wann immer ich mich durch die Innenstadt Pretorias bewegte, wurde wieder lebendig. Ich erinnerte mich, wie ich mit fünfzehn als Gärtner gearbeitet hatte, und ein Weißer mich den ganzen Tag schuften ließ, nur um mir um siebzehn Uhr mitzuteilen, dass er kein Geld habe, mich zu bezahlen. Nach einer Stunde dieser geschmacklosen Kabbelei, die er urkomisch fand, hat er mich dann schließlich doch ausbezahlt.
Ähnlich habe ich in den vergangenen Wochen noch mehrmals empfunden. Als Frederik Willem de Klerk, der letzte Präsident unter der Apartheid Südafrikas, Christiane Amanpour von CNN sagte, dass die Schwarzen „nicht entrechtet wurden, sondern gewählt haben. Sie wurden auch nicht in Homelands verbracht, die Homelands sind (als Teil der Besiedlungsgeschichte – Anm. d.Übers.) historisch gewachsen“, bin ich entsetzt zusammengezuckt.
Ich wuchs in einem Dorf namens New Eersterus auf, in der Gegend von Hammanskraal im Norden Pretorias. Seine ersten Bewohner waren gewaltsam aus dem „farbigen“ Eersterus bei Pretoria umgesiedelt worden, weil sie zu schwarz, also nicht „farbig genug“ waren. Denjenigen von uns, die danach eintrafen und in das abscheuliche Bophuthatswana-Homeland zwangseingemeindet wurden, war bewusst, dass die angebliche Homeland-„Demokratie“ eine reine Farce war. Keiner in meinem Dorf hat jemals für Lucas Mangope gestimmt, die Marionette De Klerks, die rigoros die Anordnungen von dessen Regierung durchführte. Als die Armee von Bophuthatswana 1988 einen Putschversuch unternahm, wer kam da wohl zur Rettung Mangopes? Selbstverständlich die Apartheid-Regierung. So viel zur Souveränität.
Kürzlich nahm einer meiner Freunde in Kapstadt im Rahmen einer Wohltätigkeitsveranstaltung an einer Fahrrad-Rallye teil. Ein wenig später ging er in ein Fahrradgeschäft und wollte ein paar der Fahrräder ausprobieren. Er sprang mit seinen beiden Jungs auf die Räder, und sie fuhren los. „Haltet den Dieb!“, schrie der Ladenbesitzer daraufhin. Dutzende von Menschen liefen hinter meinem Freund her. Er ist schwarz. Praktisch alle anderen dort waren weiß. Der Ladenbesitzer, auch er ein Weißer, weigerte sich zuzugeben, dass er sich in irgendeiner Weise rassistisch verhalten hatte. Alle diese Vorfälle, im Kleinen wie im Großen, rufen erneut diese Schmach, dieses Leid hervor, die Erinnerung daran, dass wir vor noch nicht allzu langer Zeit im Land als Untermenschen galten. Sie wecken die Erinnerung daran, dass der schwarze Mann als sexbesessen, faul... im Prinzip als ein Tier angesehen wurde. Wir waren hier keine Menschen.
Unter all dem Getöse, das mit der Entscheidung Zumas und des ANC einherging, die Goodman Gallery gerichtlich dafür zu belangen, dass sie das Gemälde von Brett Murray, bei dem die Genitalien Zumas zur Schau gestellt werden, war ich eindeutig auf der Seite derer, welche die Klage für überstürzt und unsinnig hielten und als armselige Anbiederung an die Lust und Laune eines Mannes ansahen, der über unsere Verfassung gestellt wurde. Ich schrieb, dass Zuma das selbst zu verantworten hatte: die letzten sieben Jahre waren von seiner zur Schau getragenen Sexualität unter dem Deckmantel nebulöser Vorstellungen von „afrikanischer Kultur“ bestimmt gewesen.
Dennoch kann ich mich dem rohen authentischen Schmerz und der Pein nicht entziehen, die Malindis Zusammenbruch vor Gericht geweckt haben. Vielleicht habe ich bei meiner Verteidigung der Meinungsfreiheit, der Freiheit künstlerischer Kreativität, etwas übersehen. Vielleicht habe ich - und mit mir zugleich viele andere, die auf dieser Seite des Feldes gekämpft haben - vergessen, dass diese Freiheiten nicht in einem luftleeren Raum in Anspruch genommen werden können.
Es gibt sie immer noch, diese unverarbeiteten schmerzlichen Empfindungen. Der Schmerz sitzt so ungeheuer tief und ist so riesig, dass die Wahrheits- und Versöhnungskommission so gut wie nichts bewirkt hat, ihn zu lindern. Viele der Menschen, die sich in dieser Woche vor dem Gericht versammelt haben, empfinden diesen Schmerz heftig und unmittelbar. Für sie sind Nelson Mandela und Desmond Tutu mit ihren Reden von Versöhnung verblendete Träumer.
Ich weiß, dass dem so ist, weil sich einer meiner besten Freunde am Dienstag vor dem Gerichtsgebäude unter denen befand, die Zuma unterstützten. Für ihn ist das Gemälde Murrays ein Angriff auf sein Schwarzsein. Er meint, dass das „Weiße“ immer noch die Oberhand hat und dass es den Schwarzen Südafrikas bis heute Vorschriften macht und sie erniedrigt. Seine Worte waren wie ein Echo dessen, was ANC-Generalsekretär Gwede Mantashe vor dem Gericht in Johannesburg sagte: „Selbst nach achtzehn Jahren Demokratie wollen sie noch immer, dass wir nach ihrer Pfeife tanzen.“
„Sie“ sind in diesem Fall die weißen Südafrikaner. Dieser bohrende Schmerz, den wir mit uns herumtragen und der mit jeder neuen Verleumdung verschlimmert und aufs Neue entfacht wird, ist das, was Dr. Mamphela Ramphele als unsere Versehrtheit bezeichnet hat. Wir Schwarzen sind jedoch nicht die einzigen, die verletzt worden sind. Auch die Weißen sind durch sechsundvierzig Jahre offizielle Apartheid und Jahrhunderte langem Kolonialismus angeschlagen. Niemandem kann es wirklich gut gehen, wenn er sein Leben lang von einer Kost aus rassischer Überlegenheit ernährt wird.
Was mich daher am meisten verletzt hat, war das schiere Unvermögen vieler innerhalb der weißen Gesellschaft, das monumentale Wesen dieser Demütigungen anzuerkennen. De Klerks beiläufiges Abtun der Tatsache, dass das Homeland-System ein Angriff auf das Dasein eines jeden Schwarzen war, ließ all die Kränkungen, die ich während meiner prägenden Jahre erfahren habe, wieder hochkommen. Schlimmer noch, es rief bei mir Erinnerungen daran hervor, wie man meinen Bruder nach seinem Pass fragte, wie man meinen Vater für seinen schikanierte und wie meine Freunde unter seinem Regime inhaftiert und gefoltert worden waren.
Auch noch nach achtzehn Jahren Demokratie lassen Vorkommnisse wie die Worte von de Klerk oder des rassistischen Fahrradladenbesitzers das wieder aufleben. Und es hilft auch nicht, dass bei schwarzer Empörung darüber die, die den Mund aufmachen, von Leuten wie Helen Zille, der Premierministerin der Provinz Westkap, als „professionelle Schwarze“ tituliert werden. Es klingt, als wäre es in Ordnung, sich zu beklagen, wenn man weiß, nicht aber, wenn man schwarz ist.
Hat dann das Versäumnis, sich die tiefen Wunden aus der Vergangenheit einzugestehen, uns den Moment verpassen lassen, in dem wir der „Speer“-Angelegenheit die Brisanz hätten nehmen können? Hätte sich Zuma trotz seines Zorns und seiner Scham entschließen können, der Sache nicht weiter nachzugehen - oder war sein Zorn und der seiner Berater so übermächtig, dass sie entschieden, gegen die Zurschaustellung vorzugehen? Hätte Murray, bevor er seinen Pinsel erhob, sich vielleicht über den Schmerz, den wir alle noch in uns tragen, Gedanken machen können? Hätte City Press (eine Sonntagszeitung, die das Bild auf ihrer Web-Seite veröffentlich hat - Anm. d.Übers.) die Sache anders handhaben können - trotz der Tatsache, dass sie nach meiner Ansicht und der der Chefredakteurin absolut im Recht sind, über das anstößige Bild zu berichten und es auch weiterhin auszustellen?
Diese Wunden, die derzeit erneut aufgebrochen sind, verschaffen Zuma - im besten Fall eine zwiespältige Gestalt – plötzlich bei mehr als nur seiner Kernwählerschaft Gehör. Seine Pein hat bei vielen die Verunglimpfungen der letzten Monate und der gefühllosen, nachlässigen Verleumdungen Schwarzer und ihrer Lebensweise in der Vergangenheit wieder wachgerufen. Es handelt sich um leidvolle Angelegenheiten. Am schmerzlichsten und herausforderndsten bleibt jedoch die Tatsache, dass wir in einer konstitutionellen Demokratie leben, dass wir einen Präsidenten haben, der in mehrfacher Hinsicht zutiefst unzulänglich ist, und dass Rechte und Pflichten in unserer Verfassung festgeschrieben sind. Diese Rechte und Pflichten werden im Normalfall nicht in Frage gestellt. Erst, wenn einer wie Murray, den niemand dazu eingeladen oder aufgefordert hat, daherkommt, müssen wir uns erheben und diesen Raum verteidigen.
Im Bewusstsein dieses Schmerzes, mit den aufgetürmten Verletzungen an meiner Seite neben den Familienmitgliedern Zumas und des ANCs, kehre ich zu unserer Verfassung und ihren Gesetzesvorlagen zurück. Wir haben diese Verfassung selbst geschrieben. Wir haben sie mit Thabo Mbekis majestätischer „Ich bin ein Afrikaner“-Rede in unseren Ohren und Herzen verabschiedet. Wir haben Lobeshymnen darauf gesungen und wir prahlen tagein, tagaus damit. In dieser Verfassung finden die Schwächsten, die Ärmsten und die Bedürftigsten auch weiterhin Schutz, wie die Gerichtsurteile zum Anrecht auf eine angemessene Wohnung im Fall Irene Grootboom, zur Versorgung mit Aids-Medikamenten und zur Lieferung von Schulbüchern zeigen. Gemäß dieser Verfassung müssen wir einen Weg finden, um die Spaltung und die Verletzungen, die uns in dieser Woche ereilt haben, aufzulösen.
Die Lektüre der Verfassung lehrt uns etwas: Selbst dann wenn wir einen Schmerz verspüren wie Malindi das diese Woche so heftig und so bewegend erfahren hat, ist es diese Verfassung in der die Freiheiten, die wir heute haben, die Würde, die wir heute genießen, verankert sind. Damit wir uns heute und auch zukünftig daran erfreuen, müssen wir uns klar werden, dass dieselbe Verfassung auch Tatbestände zulässt, die uns Schmerzen verursachen, Tatbestände, die uns mitten im Kern unseres Wesens treffen. Die Darstellung Zumas hat genau das bei vielen unserer Landsleute ausgelöst. Doch das ist der Handel, auf den wir uns eingelassen haben.
Ich habe bereits früher aus Mandelas erster Rede zur Lage der Nation zitiert. Ich mache es noch einmal: „Unsere Bestrebungen müssen der Befreiung der Frau, der Emanzipation des Mannes und der Freiheit des Kindes gelten.“1 Diese Bestrebungen sind in unserer Verfassung festgeschrieben. Zuma sollte innerhalb dieser Parameter beurteilt werden und nicht nur im Zusammenhang mit unserem Schmerz, selbst wenn ich eine leichte Übelkeit aufsteigen spüre, während ich dies schreibe. Auch wenn es mich schmerzt, das Gemälde muss hängenbleiben, und die Zeitungen müssen in der Lage sein, darüber zu berichten, ohne boykottiert oder angezündet zu werden.
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Justice Malala ist einer der angesehensten politischen Kommentatoren Südafrikas. Er schreibt regelmäßig Kolumnen in der „Times“ und für das Wirtschaftsmagazin „Financial Mail“. Auf e.tv moderiert er eine wöchentliche Talkshow ("The Justice Factor”). Dieser Beitrag erschien am 27. Mai in der „Sunday Times“.