Barbara Unmüßig: Herr Sukhdev, im Kampf um den Schutz von Ökosystemen und Biodiversität war das → Millennium Ecosystem Assessment (MA) der Vereinten Nationen meiner Meinung nach ein Meilenstein. Die umfangreichen TEEB-Studien, die Sie geleitet haben, gehen in der ökonomischen Bewertung der Natur einen Schritt weiter. Können Sie uns erklären, warum Sie das für nötig halten?
Pavan Sukhdev: TEEB ist, wie Sie wissen, eine Gemeinschaft von vielen Experten, von Wirtschaftswissenschaftlern, Sozialanthropologen, Ökologen, Biologen, Politikern, Juristen und vielen anderen. Es ist eine echte Gemeinschaft, denn alle diese Experten teilen die Einschätzung, dass die mangelnde ökonomische Sichtbarkeit der Natur ein Problem ist und zu falschen Kompromissen und Entscheidungen führt – die ihrerseits wiederum falsche politische und geschäftliche Entscheidungen nach sich ziehen. Das Ergebnis ist die Zerstörung der Natur, von Ökosystemen, Ökosystemdienstleistungen und Biodiversität.
Ich hege Zweifel an dieser Analyse. Holz wird vermarktet, Wasser wird vermarktet, Biodiversität ist ein milliardenschwerer Markt, wenn es um Pflanzen und Gene für pharmazeutische Produkte, Kosmetika und Lebensmittel geht. Die Natur wird in hohem Maße nutzbar gemacht und ist durchaus sichtbar.
Aber das gilt nicht für alle Ökosystemdienstleistungen und die ökonomischen Werte, die von ihnen erbracht werden – wie die Bodenbildung, die Bestäubung, die Bereitstellung von Trinkwasser, den Nährstoffkreislauf, den Schutz gegen Stürme und Zyklone. Diese Leistungen sind alle unsichtbar, aber wirtschaftlich von großem Wert, da es ohne sie überhaupt keine funktionierende Gesellschaft geben würde. Aber sie werden in politischen Prozessen nicht sichtbar gemacht. Heutzutage gewährleistet Wirtschaftlichkeit politisches Handeln, Entscheidungsträger kommen ins Straucheln, sobald man ihnen Argumente präsentiert, die wirtschaftlich nicht untermauert sind. Daraus folgt aber für uns nicht, dass wir der Natur jetzt ein Preisschild umhängen wollen. Wer das behauptet, versteht TEEB falsch.
Würden Sie beispielsweise empfehlen, die Natur ökonomisch zu bewerten und in die Berechnung des Bruttosozialprodukts einzubeziehen?
Nun, wir würden sicherlich gern darüber nachdenken, denn das würde den Entscheidungsträgern zeigen, dass es ein riesiger Irrtum ist anzunehmen, es gebe keine Ökosystemdienstleistungen. Sie können sogar 8, 10, 20, 40 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt ausmachen. Möglicherweise aber könnten spezifische Messungen wichtiger sein, jene, die im Zusammenhang mit dem Bruttoinlandsprodukt der Armen stehen. Die Ergebnisse sind Aufsehen erregend, sie zeigen, wie sehr die Armen, die Bauern, die vom Wald abhängige Bevölkerung auf Ökosystemdienstleistungen angewiesen sind. Wir haben für Indien – hauptsächlich in Bezug auf die Subsistenzwirtschaft – berechnet, dass diese Leistungen bei knapp 350 Millionen Bauern und Menschen, die vom Wald abhängen, die Grundlage für etwa die Hälfte ihrer Einnahmen bilden. In Indonesien kamen wir auf 75 Prozent. In Brasilien, wo 25 Millionen Menschen im Regenwald des Amazonas leben, machen sie fast 90 Prozent aus. Die Natur stellt also in den Entwicklungsländern zur Sicherung der Lebensgrundlage der Armen eine riesige Bandbreite an Leistungen zur Verfügung. Und dennoch erkennen wir ihre soziale und wirtschaftliche Bedeutung nicht an. Und genau das ist das Ziel von TEEB: den Wert von Ökosystemen in die Politik- und Geschäftssphäre zu tragen.
TEEB wird indes von einigen Regierungen vor allem Lateinamerikas und von zivilgesellschaftlichen Organisationen kritisiert. Sie befürchten, dass dieser Akt, die Natur mit einem Preis zu versehen, einer weiteren Monetarisierung und Finanzialisierung der Natur Tür und Tor öffnen könne. Und eben dies lehnen die Menschen ab, sie wollen das nicht. Was sagen Sie dazu?
Wir sprechen stets von Bewertung, nie davon, "die Natur mit einem Preis zu versehen". Wir wollen lediglich erreichen, dass die ökonomische Unsichtbarkeit der Natur von den Menschen verstanden wird und dass sie merken, wie wichtig es ist, die Werte von Ökosystemdienstleistungen zu erkennen, aufzuzeigen und in Entscheidungen zu integrieren. Wenn man sich beispielsweise anschaut, was in manchen "ALBA"-Staaten passiert, wird einem auffallen, dass es dort zur Zerstörung der Natur kommt, gerade weil dem Naturschutz kein ökonomischer Wert gegeben, die Natur stattdessen kommerziellen Interessen überlassen wird. Fakt ist: Vielerorts wird im Namen von "Entwicklungsmaßnahmen" die Natur zerstört und die Werte von Ökosystemdienstleistungen werden dabei in keiner Weise berücksichtigt – zum Beispiel die Fähigkeit des Regenwalds, die Regenmenge und die Landwirtschaft in Lateinamerika positiv zu beeinflussen. Wie kann das ethisch sein?
Was passiert, wenn es nicht gelingt, Ökosystemdienstleistungen profitabler zu machen als die Umwidmung von Land für landwirtschaftliche Nutzungen? Wie sieht Ihre Strategie dann aus? Der Weltbank zufolge sind Ölpalmen noch immer profitabler als der Schutz von Wäldern.
Die Leute, die diese sogenannte Rentabilität von Ölpalmen bestimmen, ziehen dabei nicht die Kosten in Betracht, die durch den Verlust der Wälder entstehen. Wir weisen darauf hin, dass man zwar die Schaffung von Finanzkapital zählen, aber die Zerstörung von Naturkapital nicht ignorieren kann. Wer die Schaffung von ganzheitlichem Wohlstand anstrebt, darf nicht nur den privaten Gewinn von Unternehmen, sondern sollte auch die öffentlichen Güter berücksichtigen, die zerstört wurden, um diese privaten Gewinne zu erwirtschaften.
Warum haben Sie eigentlich so großes Vertrauen in marktbasierte Mechanismen? Und das gerade in einer Zeit, in der viele der Meinung sind, dass der (Finanz-)Markt oft selbst das Problem ist? Möglicherweise könnte man Wälder viel besser durch den Stopp illegalen Holzhandels schützen, durch eine bessere Ausrüstung derjenigen, die die Wälder und die Natur schützen sollen. Dafür gibt es leider kein oder viel zu wenig Geld.
Märkte sind kein Allheilmittel. Märkte sind nicht dazu da, soziale Probleme zu lösen, und TEEB sagt sehr deutlich, dass viele Lösungen auf anderen Mechanismen wie Regulierung oder sozialen Normen basieren. Dies sind im Übrigen auch ökonomische Lösungen in dem Sinne, dass sie gesellschaftliche und ökonomische Werte erhalten, und zwar die Werte von Ökosystemdienstleistungen und Biodiversität. Wir wollen anregen, das Leben auf der Erde zu erhalten und damit auch die Lebensgrundlage der Menschen. Leider wird TEEB hier oft missverstanden.
Die Sorge der Menschen ist doch, dass man damit Privatunternehmen und Leute anzieht, deren wahre Interessen im Markt, im Handel und der Kommerzialisierung liegen. Hat die Geschichte nicht auch aufgezeigt, dass die Kommerzialisierung von Natur in den meisten Fällen zu Enteignung und Verdrängung der traditionellen Nutzer führt? Wie begegnen Sie dieser Sorge?
Die Sorge gibt es schon lange, und solche Dinge sind bereits passiert. In meinem Heimatland Indien gibt es eine britische Firma namens Vedanta Resources PLC, die meines Erachtens einige unmoralische Methoden angewendet hat, um die Genehmigung zu erhalten, in ein Gebiet einzudringen, das für mehrere Stämme dort als geheiligtes Land gilt. Die Niyamgiri Hills in Orissa sind heilig für diese Gemeinschaften, ihr Wert ist insofern unendlich. Unternehmen wie Vedanta haben das System ausgenutzt. Es gibt eben keinen Mechanismus, um die Natur, die den Stammesangehörigen der Dongra Khond heilig ist, zu bewerten. Und das ist einer der Hauptgründe dafür, dass es schon zu so vielen Verlusten gekommen ist. Das ist nicht nur ein Problem in Indien, sondern weltweit.
Damit sind wir wieder bei der Politik. Lenkt TEEB nicht von der Verantwortung der Politik ab? Wie müsste sie Ihrer Meinung nach sicherstellen, dass die Bewertung der Natur nicht wieder die traditionellen Nutzer verdrängt?
Es gibt bereits Sicherungsmaßnahmen in mehreren Ländern, aber in den meisten Fällen sind diese nicht wirksam genug. Denn leider wird bei öffentlichen politischen Maßnahmen in erster Linie immer im Sinne der Steigerung des Bruttoinlandsprodukts argumentiert. Ich freue mich daher, dass ein entwickeltes Land wie Norwegen sich bereit erklärt hat, eine Milliarde Dollar zur Verfügung zu stellen, um die Waldrodungen in Indonesien einzudämmen, indem dort ein →REDD+ -Modell eingeführt wird, ähnlich wie in Brasilien. Wir hoffen, dass sich dort etwas zum Positiven ändern wird, und tatsächlich hat die UN dort ein Büro namens UN ORCID (UN Office of REDD+ - Coordination in Indonesia) eingerichtet, dessen Hauptaufgabe darin besteht, sicherzustellen, dass in Indonesien ein angemessenes, sorgfältig ausgearbeitetes REDD+-Modell etabliert wird – damit die Bewohner und traditionellen Nutzer der Wälder eine Gegenleistung erhalten für den Nutzen, den ihre Wälder für die ganze Welt erbringen, nämlich kohlenstoffhaltige Böden und CO2-Speicherung. Es erfordert in der Tat einen großen Aufwand und wirtschaftliches Engagement, um einen Wandel herbeizuführen… Sie sehen also, wenn Sie sagen, bei TEEB gehe es darum, die Natur zu Geld zu machen – es geht tatsächlich darum, diesen Prozess umzukehren.
Bei → REDD handelt es sich um den marktbasierten Mechanismus schlechthin, viele Hoffnungen werden in ihn gesetzt. Doch unseres Wissens leistet REDD nicht das, was viele davon erwarten. Um einen Markt für REDD zu schaffen, werden offenbar sehr komplexe Regeln und auf jeden Fall verbindliche und weitreichende Emissionsgrenzen für CO2 benötigt. Worin sehen Sie die Gründe dafür, dass REDD bisher nicht richtig funktioniert?
Im Grunde liegt das an der Struktur des Mechanismus. Wenn wir über REDD+ reden, hört man üblicherweise, dass dieser Mechanismus überwiegend auf Kohlenstoff bezogen ist. Leider sind andere Ökosystemdienstleistungen aber manchmal noch wichtiger als Kohlenstoff. Die Fähigkeit des Waldes, Energieholz für die Gemeinden vor Ort zu liefern, für sauberes Wasser und Lebensmittel zu sorgen, etwa für die Bauern vor Ort in Brasilien, Indonesien oder Indien – diese Fähigkeiten des Waldes sind für die dort lebenden Menschen wichtiger als die Kohlenstoffumwandlung für die Welt. Ich glaube, dass für REDD+ ein Modell erarbeitet werden muss, das von unten nach oben und nicht von oben nach unten funktioniert. Ich bin der Meinung, es muss mit der Bevölkerung beginnen, mit dem, was ihr wichtig ist an ihrem Ökosystem.
Ich fürchte allerdings, mit all diesen marktbasierten Ansätzen sprechen wir eher Leute an, die keinerlei Interesse an solchen "von unten nach oben"-Modellen haben. Es wäre Aufgabe der Politik – lokal und national –, die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Was würden Sie vorschlagen – als jemand, der für Mechanismen wie REDD+ und ihre Gestaltung zuständig ist?
Wir müssen sicherlich anerkennen, dass die Ökosystemdienstleistungen, von denen wir hier sprechen, nicht nur auf Kohlenstoff beschränkt sein dürfen. Die Fähigkeit der Wälder, eine Lebensgrundlage für Ortsansässige zu schaffen, ist viel wichtiger als Kohlenstoff, als der Schutz des eigenen Landes, als Geschäftsinteressen.
Die Finanzialisierung der Natur ist in aller Munde und empört viele Menschen. → Derivate sind ein Thema, viele Beispiele wie das des irischen Emissionshandelsunternehmens Celestial Venture zeigen, dass mehr und mehr Instrumente der Finanzmärkte eingesetzt werden, um Geld zu erwirtschaften und noch mehr auf die Natur zu spekulieren. Was sagen Sie zu dem Vorwurf, TEEB leiste dieser Entwicklung Vorschub?
Ich denke, es ist nun mal so, dass Geschäftsleute gerne nach breiteren Möglichkeiten suchen, Geld zu verdienen. Und sie werden jede Möglichkeit ergreifen, die sich ihnen bietet. Dabei handelt es sich aber, offen gesagt, um dieselben Leute, die seit hundert Jahren jede Möglichkeit ergriffen haben, Regierungsbeamte zu schmieren, in Gebiete von Stämmen einzudringen und sie zu zerstören, um Bergbau oder Holzabbau zu betreiben. Daran hat sich nichts geändert.
Was schlagen Sie vor?
Ich meine, wir brauchen eine neue Art von Konzernen, ich nenne das "Corporation 2020". Eine neue Art von Privatunternehmen, deren Ziele in Einklang mit den Zielen der Gesellschaft gebracht werden. Meiner Meinung nach haben wir dafür noch höchstens zehn Jahre Zeit. Ich glaube wirklich, das Jahr 2020 ist im wahrsten Sinne des Wortes unsere Deadline.
Noch mal: Für viele Menschen ist die Finanzialisierung der Natur stark mit TEEB und dem Konzept der ökonomischen Bewertung der Natur verbunden. Wie sagen Sie dazu?
Das Ziel von TEEB ist es, die leider oft zu wenig berücksichtigten Werte der Natur zu erkennen und entsprechend in Entscheidungen einzubeziehen. Es geht überhaupt nicht darum, der Natur ein Preisschild umzuhängen, das sind Worte, die wir in unserer Gruppe nie benutzen. Ich möchte all diesen Stimmen abschließend ein Beispiel geben: Wir haben festgestellt, dass sich der Schutz gegen Stürme und Wirbelstürme in Küstenregionen mit Mangroven als noch viel sinnvoller erweist, wenn man all die positiven Auswirkungen identifiziert, die diese Neupflanzungen haben. Ihr Wert ist viel höher als etwa der Wert einer Schutzmauer aus Beton: Mangroven tragen nämlich auch dazu bei, dass die Fischbestände sich erholen, was wiederum die Versorgung mit Nahrungsmitteln in schwierigen Zeiten sichert. Mangroven schaffen Brennholz, sorgen also für Energie in Zeiten von Energieknappheit. Dies hat also direkte Auswirkungen auf die Menschen. Ich nenne das Investition in die ökologische Infrastruktur, also Investition in die Natur. To make poverty history, we must make nature our future!
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→ Das Millennium Ecosystem Assessment (MA) wurde von dem Generalsekretär der Vereinten Nationen Kofi -Annan im Jahr 2001 in Auftrag gegeben. Bis 2005 -erstellten 1360 Experten aus aller Welt eine wissenschaftliche Analyse über den Zustand und die Entwicklung des Ökosystems und seine Dienstleistungen. 60 Prozent oder 15 von 24 untersuchten Ökosystemdienstleistungen befanden sich in einem Zustand fortgeschrittener und/oder anhaltender Zerstörung. Die Experten legten auch eine wissenschaftliche Basis dafür, wie man sie stärken und bewahren kann.
→ TEEB-Studie: Die Initiative "The Economics of Ecosystems and Biodiversity" (Die Ökonomie der Ökosysteme und Biodiversität) wurde auf dem Umweltministertreffen der G8+5 in Potsdam 2007 angestoßen und nahm 2008 unter der Leitung des Deutsche-Bank-Managers Pavan Sukhdev seine Arbeit auf. Ziel des Vorhabens war es, den ökonomischen Wert der Dienstleistungen von Ökosystemen und der Biodiversität erfassbar zu machen, um sie vor Zerstörung und Raubbau zu schützen. Der Abschlussbericht von TEEB wurde 2010 auf der Vertragsstaatenkonferenz des Übereinkommens zur Biologischen Vielfalt (COP 10) im japanischen Nagoya vorgelegt.
→ Derivate: Wertpapiere, die ursprünglich von Aktien abgeleitet waren (lateinisch derivare: ableiten) und auf Preisveränderungen in der Zukunft spekulieren. Meist handelt es sich um Termingeschäfte, bei denen zu einem bestimmten Zeitpunkt ein anderes Wertpapier oder eine Ware zu einem bestimmten Preis ver- oder gekauft werden muss. Bei ungewissen Marktentwicklungen sind deswegen hohe Gewinne oder Verluste möglich. Derivate, die an Börsen oder auch außerbörslich gehandelt werden, werden zudem oft als Sicherheit für andere Börsengeschäfte oder von Krediten eingesetzt. Verlieren diese Derivate plötzlich ihren Wert, platzt damit auch das Geschäft, das sie « besichern» sollten.
→ REDD: Das Modell "Reducing Emissions from Deforestation and Degradation" (Reduzierung der Emissionen aus Entwaldung und zerstörerischer Waldnutzung) basiert auf der Funktion, die Wälder als Kohlenstoffspeicher für globale Stoffkreisläufe haben. Das Modell sieht vor, Emissionen, die entstehen, weil Wälder abgeholzt werden, zu messen und anschließend zu bewerten. Die Befürworter des REDD-Prozesses hoffen, auf diese Weise Anreize für einen Stopp weiterer Rodung zu schaffen. Vor allem sollen boreale Wälder und Regenwälder der südlichen Hemis-phäre erhalten werden.
→ REDD+: Berücksichtigt auch Schritte zur qualitativen Verbesserung von Wäldern.