Demokratie und Sicherheit im Nahen Osten - Wie antworten Deutschland und die EU auf die Umwälzungen im arabischen Raum?

Podium auf der 13. Außenpolitischen Jahrestagung (v. links nach rechts): Dr. Annegret Bendiek, Dr. Radwan Masmoudi, Barbara Unmüßig, Heba Morayef, Michael Reiffenstuel. Foto: Stephan Röhl, Quelle: Flickr, Lizenz: CC BY-SA 2.0 

4. Dezember 2012
Torsten Arndt
Der vor zwei Jahren euphorisch begrüßte Arabische Frühling ist mittlerweile einer ernüchternden politischen Realität gewichen, die von besonders pessimistischen Beobachtern bereits zum Arabischen Herbst umgetauft worden ist. Die postrevolutionären Wahlen in Tunesien und Ägypten haben islamistische Parteien an die Regierung gebracht, die trotz ihrer moderaten politischen Positionen kaum westlichen Demokratieidealen entsprechen. Der blutige Konflikt zwischen dem Assad-Regime und den bewaffneten Rebellen in Syrien befindet sich in einer für Außenstehende nur schwer zu beurteilenden Patt-Situation, auf die die internationale Gemeinschaft bislang offenbar nur mit diplomatischer Hilflosigkeit reagieren kann.

Auch Europa scheint bisher nicht so recht zu wissen, wie es mit den Umwälzungen in Nordafrika und im Nahen Osten umgehen soll, ein Eindruck, den auch die 13. Außenpolitische Jahrestagung der Heinrich-Böll-Stiftung nicht völlig ausräumen konnte. Zahlreiche Politiker/innen und Expert/innen aus dem In- und Ausland, darunter diplomatische Vertretungen aus 26 Staaten, waren der Einladung der Heinrich-Böll-Stiftung am 8. und 9. November nach Berlin gefolgt, und diskutierten angeregt über den Umgang mit dem politischen Islam, die geopolitischen Zusammenhänge der Arabellion und mögliche Handlungsstrategien der EU.   

Wie erwartet wurden dabei mehr Fragen als Antworten aufgeworfen, trotzdem blieb der klare Eindruck zurück, dass die historischen und politischen Dimensionen der arabischen Zeitenwende das Verhältnis Europas zur Region grundlegend ändern werden. Europas Einfluss auf die Entwicklung sollte dabei nach Überzeugung vieler Teilnehmer nicht überschätzt werden. In den Äußerungen der Gäste aus Ländern des Arabischen Frühlings wurde immer wieder deutlich, dass die künftigen Beziehungen nicht von der Höhe der Finanzhilfen, sondern von einem respektvollen Verhältnis auf Augenhöhe geprägt sein werden. Will Europa einen Beitrag zur Stabilisierung und Demokratisierung in der Region leisten, wird es sich diesen neuen Bedingungen stellen müssen, ob es nun um die EU-Nachbarschaftspolitik, die Durchsetzung der Menschenrechte, oder wirtschaftspolitische Projekte geht.

Politischer Islam vs. Bürgerrechte?

Unter Expert/innen ist heute umstritten, welche Rolle der Islam bei den Aufständen gegen die autoritären Regime von Tunesien bis Syrien gespielt hat. Tatsache bleibt, dass die in vielen Fällen erste freie Wahlen in der Region zu überwältigenden Siegen moderat-islamistischer Parteien geführt haben. Während der Tagung verwiesen viele Teilnehmer auf die Türkei als mögliches Vorbild für eine erfolgreiche und vor allem demokratische Modernisierung islamischer Länder. Die beiden geladenen türkischen Gäste wehrten sich allerdings gegen eine Verklärung des türkischen Modells, das Soli Özel zufolge gerade von Europäern gern vorgeschoben wird, um eigene Unsicherheiten in dieser Frage zu kaschieren. Der Professor für Internationale Beziehungen an der Kadir Has Universität in Istanbul ließ gerade an der außenpolitischen Rolle seines Landes kaum ein gutes Blatt. Speziell im Syrienkonflikt habe die Türkei durch zahlreiche Fehler massiv an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Es gebe eine offensichtliche Diskrepanz zwischen den angekündigten Zielsetzungen der AKP-Regierung und den türkischen Kapazitäten zu deren Durchsetzung. Binnaz Toprak, Abgeordnete der säkularen türkischen Oppositionspartei CHP, wies auf die innenpolitischen Widersprüche der türkischen Demokratie hin, die von ökonomischem Erfolg und einem zunehmendem Autoritarismus geprägt sei. Die islamistische Regierungspartei AKP verletze grundlegende Rechtsprinzipien, unterdrücke kritische Medien und bringe Justiz und Bürokratie systematisch unter ihre Kontrolle. Die Lehre für andere islamische Länder laute, dass ökonomischer Erfolg nicht zwingend zu mehr Demokratie führe, so Toprak.

Anstatt dem von ihr recht gründlich demontierten türkischen Model zu folgen, empfahl Binnaz Toprak den Ländern des Arabischen Frühlings eine konsequente Orientierung an den universalen Werten liberaler Demokratien. Forderungen nach politischen Rechten wie Redefreiheit, Versammlungsfreiheit und Gleichheit vor dem Gesetz seien auch zentraler Bestandteil der Demonstrationen gegen die arabischen Regime gewesen. Toprak hob hervor, dass sie damit keinen autoritären Säkularismus befürworten wolle. Islamische Parteien müssten weiterhin eine politische Rolle spielen, demokratische Werte und rechtsstaatliche Prinzipien dürften aber nicht durch einen falsch verstandenen Kulturrelativismus in Frage gestellt werden. Die historische Erfahrung zeige leider, dass islamische Regierungen gerade persönliche Rechte immer wieder einschränkten, so Toprak. Die Betonung vermeintlich eigenständiger Demokratiemodelle in Ländern wie Ägypten ließ sie befürchten, dass sich dieses Muster auch im Arabischen Frühling wiederholen könnte.

Die offene Kritik Binnaz Topraks am ägyptischen Weg seit dem Sturz von Präsident Mubarak stieß bei Abdul Mawgoud R. Dardery, Mitglied der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei (FJP) [http://de.wikipedia.org/wiki/Freiheits-_und_Gerechtigkeitspartei] im ägyptischen Parlament, auf erwarteten Widerspruch. Dardery, dessen Partei der Muslimbruderschaft nahe steht, erläuterte, dass sein Land nach dem Sturz des alten Regimes einen eigenen Weg beschreiten wolle. Ägypten werde als islamische Demokratie keine Theokratie, aber auch kein säkulares System sein. Bei der Regelung bestimmter persönlicher Rechte, z.B. Ehescheidungen, strebe seine Partei keine universale Gesetzgebung an, so Dardery. Vielmehr sollten religiöse Gemeinschaften das Recht erhalten, eigene Regelungen anzuwenden. Dardery legte großen Wert darauf, dass es sich dabei um einen ständigen Lernprozess handele, bei dem die Bürgerrechte immer Beachtung finden sollten.

Diese wohlwollende Einschätzung des bisherigen ägyptischen "Sonderwegs" wurde von Hossam Bahgat nicht völlig geteilt. Der Direktor der Egyptian Initiative for Personal Rights (EIPR) in Kairo wies darauf hin, dass die bisherige Verfassungsdebatte bisher nicht sehr transparent oder inklusiv gewesen sei. Unter den 100 Mitgliedern des Verfassungsgebenden Gremiums gebe es kaum Christen und nur sieben Frauen. Menschenrechte würden politisch kaum thematisiert, 40 Prozent der ägyptischen Gesellschaft lehne die Gleichberechtigung von Frauen immer noch ab. Anlass zur Wachsamkeit gab es für Bahgat also genug, er stellte aber auch fest, dass das islamistisch dominierte Parlament bisher kein Gesetz verabschiedet habe, das Frauenrechte weiter einschränke. Eine kaum beachtete neue Regelung zur Krankenversicherung von Hausangestellten begünstige Frauen sogar, so Bahgat.

Zwischen der eher säkularen Türkei und Ägyptens politischem Islam ordnete Radwan Masmoudi sein Heimatland Tunesien als Mix zwischen beiden Ansätzen der politischen Integration des Islams ein. Der Direktor des in Tunis und Washington ansässigen Center for the Study of Islam & Democracy (CSID) erläuterte, dass die Regierungspartei Ennahda trotz ihrer islamischen Wurzeln zur Vermeidung kontroverser Interpretationen explizit darauf verzichtet habe, den Begriff der Scharia in die neue Verfassung aufzunehmen. Die Zukunft des politischen Islams wird nach Ansicht von Masmoudi von derartigen Reformschritten abhängen. Der Arabische Frühling habe neben der politischen Transformation auch die Tür für eine religiöse Erneuerung geöffnet. Bis vor 400 Jahren habe der Islam die stetige Anpassung der religiösen Lehren an die gesellschaftlichen Lebensumstände erlaubt, ein Prozess, der unter dem Begriff "Ijtihad" bekannt sei. Er brachte flexible und regional differenzierte Interpretationen der Schrift hervor. Eine erfolgreiche Modernisierung der islamischen Welt werde wohl nur gelingen können, wenn diese Erfahrung wiederbelebt werden könnte, so Masmoudi.

Geopolitische Konsequenzen

Der Arabische Frühling hat nicht nur innenpolitische Umwälzungen eingeleitet, sondern auch dramatische regionale Folgen. Der EU-Sonderbeauftragte für den Nahost-Friedensprozess Andreas Reinicke konstatierte, dass z.B. Syrien als aktiver Akteur ausgeschieden sei. Die Türkei und Ägypten hätten dafür aktivere diplomatische Rollen eingenommen. Auch Golfstaaten wie Saudi-Arabien und Katar engagierten sich zunehmend in der Regionalpolitik, z.B. über den zunehmend bedeutungsvolleren Golfkooperationsrat. Das relativ kleine Land Katar habe durch seine aktive Außenpolitik, den Nachrichtenkanal Al-Jazeera, und seine großzügige wie unbürokratische Finanzhilfe in Notlagen erheblich an Einfluss im Nahen Osten und Nordafrika gewonnen. Dass diese Mittel häufig auch islamistischen Gruppen in den Empfängerländern zugutekommen, sei allerdings die andere Seite der Medaille, wie Claire Beaugrand von der International Crisis Group in Brüssel ergänzte.

Im Kontrast zu diesen Ländern sei Israel bisher ein weitgehend passiver Beobachter der Umbrüche geblieben. Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, merkte bereits in seiner Eröffnung der Tagung an, dass die israelische Sicherheitsarchitektur in der Region mit dem Arabischen Frühling "völlig zusammengebrochen" sei. General a.D. Danny Rothschild, Direktor des Institute for Policy and Strategy am Interdisciplinary Center in Herzliya, untermauerte diese Einschätzung, als er erläuterte, dass Israel angesichts der völlig unklaren Zukunft des Arabischen Frühlings seine Sicherheitsinteressen mit sehr kurzfristiger Perspektive verfolge. Ein Staatskollaps Ägyptens oder Syriens werde als reale Gefahr wahrgenommen, da Israel in diesen Fällen wahrscheinlich gut bewaffneten radikalislamischen Extremisten gegenüber stehen würde, so Rothschild.

Dass der Nahostkonflikt einem stärkeren Engagement Israels mit den neuen Regierungen nach wie vor entgegensteht, bestätigte sich im Verlauf der Tagung, als sich Gäste aus Libyen und Ägypten weigerten, mit einem israelischen Vertreter auf einem gemeinsamen Podium zu diskutieren (die Tagung fand wenige Tage vor der erneuten Eskalation der Gazakrise statt). Die wie so oft sehr angeregte Diskussion zum Thema erweckte nicht den Eindruck, dass sich die beiden Seiten in wesentlichen Punkten näher gekommen sind. Alle Beteiligten waren sich allerdings darin einig, dass die Zeit für die von allen bevorzugte Zweistaatenlösung immer knapper werde. Von den einen wurde die israelische Siedlungspolitik dafür verantwortlich gemacht, andere warfen der Hamas die diplomatische Blockade vor. Danny Rothschild beklagte, dass es heute weder bei den Israelis noch bei den Palästinensern politische Führungspersönlichkeiten gebe, die die durchaus vorhandenen Kompromisslösungen durchsetzen könnten. Israel könne sich deshalb bald gezwungen sehen, die Zweistaatenlösung unilateral durchzusetzen, so Rothschild.

Die israelischen Vertreter wiesen auch auf die wachsenden Risiken eines Rüstungswettlaufs im Nahen Osten hin. Oded Eran vom Institute for National Security Studies (INSS) in Tel Aviv warnte vor der zunehmend professionellen Bewaffnung radikalislamischer Gruppen. Der Sturz des Gaddafi-Regimes in Libyen habe diesen Trend bereits erheblich verschärft, Syriens Kollaps würde der Gefahr aufgrund der Chemiewaffen des Assad-Regimes eine neue Qualität geben. Margret Johannsen vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg kritisierte Deutschlands Rolle in dieser gefährlichen Situation und warf der Bundesregierung vor, durch Waffenexporte weiter zur Unsicherheit in der Region beizutragen. "Panzer rollen häufig länger als Regime sich an der Macht halten", so Johannsen.

Der Konflikt um das iranische Atomprogramm, der seit Jahren im Zentrum der internationalen Diplomatie steht, konnte in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden. Oded Eran zufolge hätten nur bilaterale Verhandlungen zwischen den USA und dem Iran Aussicht auf Erfolg, andere Teilnehmer wie Mohamed Kadry Said Abdelaal vom Al-Ahram Center for Political and Strategic Studies in Kairo erinnerten an das israelische Atomwaffenprogramm und plädierten dafür, Israel in einem regionalen Abkommen zur nuklearen Abrüstung einzubeziehen. Viele der anwesenden Expert/innen wiesen darauf hin, dass es nach der Wiederwahl von US-Präsident Obama und vor den iranischen Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr ein enges Zeitfenster für einen diplomatischen Durchbruch gebe. Der frühere Botschafter Wolfgang Ischinger, heute Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, hoffte auf ein Ende der "Lähmung" der amerikanischen Iranpolitik nach Obamas Wahlsieg. Die frühere stellvertretende Leiterin der Abteilung für den Nahen Osten im US-Außenministerium Tamara Cofman Wittes erinnerte auf der anderen Seite an die Bringschuld Irans, das immer wieder den Eindruck erwecke, bei Verhandlungen nur auf Zeit zu spielen. 

Brennpunkt Syrien – Scheitert die internationale Gemeinschaft?

In Syrien kristallisieren sich die komplexen Zusammenhänge und Widersprüche des Arabischen Frühlings nach Überzeugung von Soli Özel besonders scharf heraus. Neben dem Kampf der bewaffneten Opposition gegen das Assad-Regime sei das Land heute Schauplatz regionaler und globaler Machtkämpfe. Mit Wael Sawah war ein Vertreter der syrischen Opposition eingeladen worden, der das tägliche Ausmaß der Gewalt in eindringlichen Worten beschrieb und den Westen um schnelle Hilfe bat. Dabei gehe es zunächst um politischen Druck auf die zersplitterten Oppositionsgruppen, militärische Unterstützung dürfe aber als Drohung ebenfalls nicht völlig ausgeschlossen werden. Noch handele es sich nicht um einen "Bürgerkrieg", der allerdings ohne baldiges internationales Eingreifen bald ausbrechen und eine politische Lösung auf Jahrzehnte unmöglich machen könne, so Sawah.    

Überlegungen zu einem möglichen militärischen Eingreifen der internationalen Gemeinschaft in Syrien stellte sich Wolfgang Ischinger wie viele andere Expert/innen der Tagung recht deutlich entgegen. Es sei kein internationaler Wille für eine aktive bewaffnete Unterstützung der syrischen Opposition zu erkennen, deshalb würden selbst militärische Drohungen wirkungslos bleiben. Zudem müsse ein Militäreinsatz in Syrien völkerrechtlich legitimiert werden, was angesichts des Widerstands Russlands und Chinas im UN-Sicherheitsrat kaum durchsetzbar erscheine. Auch eine Einrichtung von syrischen Sicherheitszonen zum Schutz von Zivilisten muss Ischinger zufolge deshalb abgelehnt werden, da deren erforderliche Verteidigung nicht ohne militärische Eskalationslogik möglich sei.

Andreas Reinicke hatte ebenfalls kaum Hoffnung, den Syrienkonflikt angesichts der Blockade im UN-Sicherheitsrat diplomatisch zu lösen. Die Machtverhältnisse in der zersplitterten syrischen Opposition seien von außen kaum realistisch einzuschätzen, einige Oppositionelle würden nach eigenen Worten sowohl gegen Assad als auch gegen radikale Islamisten kämpfen. Ein realistisches Ziel könne deshalb nur sein, eng mit den Nachbarstaaten Syriens zu kooperieren, um eine regionale Ausweitung der Krise zu verhindern. Was Reinicke diplomatisch als realistischen Politikansatz beschrieb, wurde von Soli Özel als "moralisches Scheitern" der internationalen Gemeinschaft verurteilt. Als aussichtsreiche Alternative konnte sich allerdings auch Özel nur eine "schmutzige Lösung" vorstellen, z.B. eine Palastrevolte, bei der Assad von Gefolgsleuten eliminiert würde ("Syria needs a Romania").

Omid Nouripour, Sprecher für Sicherheitspolitik der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, gestand angesichts dieser begrenzten Optionen seine Ratlosigkeit ein. Selbst Waffenlieferungen an die syrischen Rebellen verbaten sich in seinen Augen: Das Übergreifen des Libyenkonflikts nach Mali habe nachdrücklich belegt, welch ungewollte Folgen es haben könnte, sollten diese Waffen in die falschen Hände fallen. Es bliebe nur, die zahlreichen friedlichen Oppositionsgruppen innerhalb Syriens zu unterstützen, von denen in westlichen Medien leider kaum die Rede sei, so Nouripour. Dieser Punkt wurde von der Arabistin und ehemaligen Diplomatin Petra Stienen bekräftigt, die den von Kriegsberichten dominierten Medien vorwarf, in der Öffentlichkeit ein verfälschtes Bild vom Konflikt entstehen zu lassen. So habe es an einem Tag 790 friedliche Demonstrationen gegen das Assad-Regime gegeben, denen in der Presse keine erkennbare Beachtung geschenkt wurde. Um diesen Assad-Gegnern auch nach einer möglichen Flucht aus Syrien zu helfen, sollte Europa nach Ansicht von Stienen und Nouripour die syrischen Nachbarländer stärker unterstützen und eigene Restriktionen bei der Aufnahme von Flüchtlingen aufgeben. Dies sei eine ganz konkrete Hilfsmaßnahme, bei der Länder wie Deutschland als gutes Beispiel vorangehen könnten.

Europa zwischen historischer Verantwortung und Paternalismus

Viele der vertrauten Allianzen und bequemen Gewissheiten, die die westlichen Beziehungen zur Region jahrzehntelang geprägt haben, sind durch die Umbrüche in der arabischen Welt radikal und mit völlig ungewissem Ausgang über den Haufen geworfen worden. Soli Özel, der seine Analyse der Geschehnisse mit einem Zitat aus einem ernüchternden Artikel der New York Review of Books eröffnete ("Darkness descends upon the Arab world."), warf dem von den schnellen Regimestürzen völlig überraschten Westen vor, eine Art "Amnesie" gegenüber der eigenen historischen Verantwortung für das Geschehen entwickelt zu haben. Dabei gehe es nicht nur um die europäische "Stabilitätspolitik", mit der autoritäre Regime in Ägypten, Syrien oder Libyen lange unterstützt worden seien. Der Arabische Frühling müsse auch als Kollaps der von Großbritannien und Frankreich geschaffenen post-osmanischen Ordnung im Nahen Osten und der alten Kolonialordnung in Nordafrika betrachtet werden, so Özel. Die resultierende Staatenkrise sei von der Rebellion subnationaler Gruppen geprägt, es sei nicht übertrieben zu behaupten, dass es heute in der Region mit Ägypten, dem Iran, der Türkei und Israel nur noch vier wirklich stabile Staaten gebe.

In diesem Kontext wirkten europäische Debatten über den Arabischen Frühling in der Region selbst häufig eurozentrisch, paternalistisch und herablassend, stellte Soli Özel fest, ein Vorwurf, der von vielen anderen internationalen Tagungsgästen hervorgebracht wurde. Dies gelte z.B. auch für die "Nonsensfrage", ob der Islam mit der Demokratie bzw. dem Kapitalismus kompatibel sei. Keine Religion sei per se demokratietauglich, war Özel überzeugt, Diskussionen dieser Art könnten deshalb auch in islamisch geprägten Ländern nur mit säkularer Begrifflichkeit fruchtbar sein. Unabhängig von materieller Hilfe forderte er, dass der Dialog zwischen Europa und dem Nahen Osten in Zukunft mit gegenseitigem Respekt und auf Augenhöhe geführt werden müsse. Auch dies war ein Aspekt der künftigen Beziehungen, auf den andere Tagungsgäste immer wieder emphatisch hinwiesen.

Geht Menschenrechtspolitik mit den Muslimbrüdern?

Seit den Wahlsiegen der Muslimbrüder und anderer islamistischer Parteien in der Region ist Europa auf der Suche nach einer pragmatischen Stabilitätspolitik, die nicht völlig auf die Einhaltung der Menschenrechte verzichtet. Die Diskussionen während der Tagung umrissen den schmalen Grat, auf dem sich die EU künftig bewegen muss, wenn sie in ihrer Nahost-Politik sowohl europäische Interessen als auch europäische Werte vertreten will. Allzu offene Kritik an den neuen Regierungen könnte schnell als europäische Bevormundung aufgefasst werden und zu erneutem Ansehensverlust führen, gab Wolfgang Ischinger zu Bedenken. Andreas Reinicke verteidigte die frühere Kooperation Europas mit autoritären Regimen als "realistische Politik", die sicherlich nicht perfekt gewesen sei. Im Umgang mit den Oppositionsbewegungen z.B. in Syrien stehe die EU heute vor einem ähnlichen Dilemma, denn jetzige Regimegegner könnten sich später schnell als autoritär und undemokratisch herausstellen. Trotz dieser komplexen Probleme habe Europa aber gerade im Vergleich zu den USA immer noch ein hohes Ansehen in der arabischen Welt.   

Heba Morayef, die für Human Rights Watch Menschenrechtsverletzungen in Ägypten und Libyen untersucht hat, widersprach Reinickes Einschätzung und stellte fest, dass Europa heute aufgrund der jahrelangen Duldung von Folter und Unterdrückung sehr wohl ein Legitimationsproblem in der arabischen Welt habe. Um zu vermeiden, dass die Menschenrechte während der Transformation erneut systematisch verletzt werden, müsse die EU in den Gesprächen von Beginn an auf klaren menschenrechtlichen Mindeststandards bestehen, z.B. einem Folterverbot. Die Wahlsiege islamischer Parteien müssten dabei unbedingt respektiert werden, es dürfe z.B. keine einseitige Unterstützung säkularer oder liberaler Parteien geben, so Morayef. Die neue islamistische Regierung in Ägypten sei z.B. durchaus zu einem ehrlichen Menschenrechtsdialog mit der EU bereit.

Die neue Europäische Nachbarschaftspolitik – ambitioniert, aber ineffektiv?

Die offene Kritik an der Nahostpolitik der Vergangenheit warf nicht nur für Sylke Tempel, Chefredakteurin der Zeitschrift Internationale Politik, die Frage auf, wie intensiv sich der Westen überhaupt an der aktiven Gestaltung des Arabischen Frühlings beteiligen könne. Europa wird sich diese Frage offenbar besonders hartnäckig stellen müssen, da die künftige Rolle der Weltmacht USA nach Ansicht vieler Expert/innen auf der Konferenz alles andere als sicher ist. Tamara Cofman Wittes erläuterte, dass internationale Entwicklungshilfe in den USA "innenpolitisch vergiftet" und ein leichtes Ziel für Kürzungsforderungen sei. Umfangreiche Finanzhilfen aus Europa hielten die meisten Mitwirkenden ebenfalls für unwahrscheinlich. Ein "Marshall-Plan", wie ihn z.B. Radwan Masmoudi forderte, sei höchstens durch die Einbeziehung anderer arabischer Länder denkbar, wie Annegret Bendiek von der Stiftung Wissenschaft und Politik anregte: "An Geld mangelt es nicht in der Region".

Trotz knapper Kassen ist das Budget der Europäischen Nachbarschaftspolitik bis 2013 von 5,7 auf 6,9 Milliarden Euro erhöht worden. Die EU hat im Mai 2011 zudem ein neues strategisches Element der Zusammenarbeit eingeführt: Unterstützung soll in Zukunft von Fortschritten demokratischer Reformen abhängig gemacht werden ("Mehr für Mehr"). Nach den Worten von Michael Reiffenstuel, der im Auswärtigen Amt für Grundsatzfragen der Transformation in der arabischen Welt und Maghreb zuständig ist, hat Europa damit auf den berechtigten Vorwurf reagiert, Menschenrechtsverletzungen bei der Kooperation mit autoritären Regierungen zu bereitwillig hingenommen zu haben. Der neue Ansatz müsse allerdings weiterhin pragmatisch verfolgt werden, es dürfe auch künftig keine Politik des "erhobenen Zeigefingers" geben, so Reiffenstuel.

Die Effektivität der neuen Nachbarschaftspolitik wurde auf der Tagung allerdings in Frage gestellt. Annegret Bendiek wies darauf hin, dass die Nachbarschaftspolitik als Teil der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU nicht ausreichend mit anderen strategischen Zielvorstellungen abgestimmt werde. Hilfspakete würden viel zu selten koordiniert und oft sogar nach rein wirtschaftlichen Prinzipien vergeben, bemängelte auch Franziska Brantner, Mitglied der Fraktion Grünen/EFA im Europäischen Parlaments. Viele Tagungsgäste zweifelten an der Effektivität des "Mehr für Mehr"-Prinzips und fragten, welche demokratischen Standards an die Entwicklung in der Region angelegt und wie mögliche Verstöße sanktioniert werden sollten. Nach Ansicht von Radwan Masmoudi könne die neue Konditionalität europäischer Hilfen durchaus Reformen in stabilen Regimen fördern, die revolutionären Umbrüche in der arabischen Welt verlangten dagegen schnelle und unbürokratische Unterstützung. Es sei unfair, von den noch unerfahrenen neuen Eliten ausgereifte politische und wirtschaftliche Konzeptionen zu erwarten, so Masmoudi. Europa müsse vielmehr alles dafür tun, die neuen Regierungen zu stabilisieren, die sich häufig immer noch mächtigen Elementen der alten Regime gegenüber sähen. Wolfgang Ischinger sah dies ähnlich und erinnerte an das alte Sprichwort "Wer schnell gibt, gibt doppelt".

Annegret Bendiek kritisierte, dass die EU mit ihrer Nachbarschaftspolitik versuche, zu viele unterschiedliche Länder in einem Policy-Framework zu vereinen. Sie verwies auf die Ergebnisse einer SWP-Studie von 2008, der zufolge eine Einflussnahme in den 16 Partnerländern der Nachbarschaftspolitik nur effektiv sei, wenn wirtschaftliche oder sicherheitspolitische Abhängigkeiten von Europa vorlägen. "Energiearrogante" Staaten wie Algerien   oder Aserbaidschan seien hier weitgehend unabhängig und kaum bereit, nicht genehmen europäischen Forderungen nachzukommen. Damit drohe eine Kluft zwischen Anspruch und Realität europäischer Politik, die zum erneuten Verlust an Glaubwürdigkeit in der Region führen könnte. Bendiek empfahl, die Lehren der Transformationsprozesse in Osteuropa zu beherzigen: Anstatt auf unrealistische Vorgaben zur politischen Liberalisierung zu bestehen, sollte sich die europäische Hilfestellung zunächst auf die Förderung einer konsequenten wirtschaftlichen Liberalisierung der arabischen Welt konzentrieren.

Vorreiter Desertec

Als Vorzeigevision einer konkreten wirtschaftlichen Kooperation zwischen Europa und Nordafrika zum Nutzen beider Seiten gilt das ambitionierte Desertec-Projekt. Dii-Geschäftsführer Paul van Son präsentierte das Konzept zur Erzeugung von erneuerbarer Energie, das die Energiemärkte der Mittelmeerregion vereinen soll. Für einen langfristigen Erfolg sei eine enge Zusammenarbeit von Unternehmen und EU-Staaten mit den Regierungen Nordafrikas notwendig. Hier fehle es noch an institutionellen und technologischen Strukturen sowie der notwendigen Infrastruktur, auch in Europa, teilte van Son mit.

Die ersten Pilotprojekte von Desertec sollen in Marokko bereits 2014 in Betrieb gehen. Das Land sei bereits heute politisch und technologisch für eine Kooperation gerüstet, bestätigte Saïd Mouline, Direktor der National Agency for the Development of Renewable Energy and Energy Efficiency in Rabat. Dies gelte allerdings nicht für andere Länder, es gebe immer noch große Interessenunterschiede, die den regionalen Erfolg des Projekts gefährdeten. Europa könne durchaus mehr tun, um eine Energiepartnerschaft zwischen den Nachbarländern zu fördern. Eine engere wirtschaftliche Verflechtung könne auch zur regionalen Stabilität beitragen. Zügige Fortschritte werden nach Ansicht von Mouline allerdings auch durch legale Hürden für den Energieexport nach Europa verhindert, ein Vorwurf sich in aktuellen Meldungen über Spaniens "Blockade" der Leitungen nach Europa widerspiegelt.

Europa kann mehr tun

Die Mittelmeerregion bietet nicht nur den Rahmen einer wirtschaftlichen Annäherung zwischen Europa und Nordafrika, sie ist auch Schauplatz eines Flüchtlingsdramas, bei dem immer wieder Menschen bei ihrem Versuch umkommen, nach Europa zu gelangen. Die europäische Flüchtlingspolitik untergrabe die Legitimität der EU in der Region heute mehr als die frühere Unterstützung von Despoten, meinte   Heba Morayef. Wenn Europas Nachbarschaftspolitik konkrete sozio-ökonomische Hilfe für die Partnerländer leisten wolle, müsse sie den Menschen Nordafrikas mehr Mobilität nach Europa zusichern, bekräftigte Barbara Unmüßig, Vorstandsmitglied der Heinrich-Böll-Stiftung. Kerstin Müller, außenpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, bestätigte aus eigener Erfahrung in Tunesien, dass die Schaffung von legalen Arbeitsmöglichkeiten in Europa bei Gesprächen über einen möglichen europäischen Beistand immer wieder zur Sprache komme. Nominelle Erleichterungen würden gegenwärtig durch eine restriktive Visa-Politik unterlaufen, nach Ansicht von Unmüßig eine "zynische" Vorgehensweise.

Auch in der Unterstützung der Zivilgesellschaft in den Ländern des Arabischen Frühlings gebe es für die EU noch viel Luft nach oben, meinte Doreen Khoury von der Stiftung Wissenschaft und Politik, die viel mit Nichtregierungsorganisationen (NGOs) im Libanon zusammen gearbeitet hat. Finanzhilfen würden gegenwärtig zu selten an regierungskritische Organisationen gehen und insgesamt zu restriktiv gehandhabt. Viele Organisationen seien heute allein durch den erheblichen bürokratischen Aufwand der Antragsprozeduren ausgeschlossen, so Khoury. Um kritischen NGOs bessere Bedingungen für ihre Arbeit zu verschaffen, sollte die EU ihre Kooperation noch entschiedener von der Verabschiedung von entsprechenden Schutzgesetzen abhängig machen, ergänzte Barbara Unmüßig.

Oded Eran plädierte für ein unkonventionelles Vorgehen und schlug vor, den Ländern Nordafrikas, die den europäischen Wertekatalog anerkennen, die Einbindung in europäische Entscheidungsprozesse in ganz konkreten Bereichen anzubieten. Gemeinsame Regelungen bei den Menschenrechten, der Umweltpolitik, oder für eine gemeinsame Fischereistrategie würden alle Beteiligten näher zusammen führen, so Eran. Franziska Brantner unterstützte Erans Vorschlag und erinnerte daran, dass eine Annäherung Europas und der arabischen Welt nicht auf die staatliche Ebene begrenzt sein sollte. Durch Projekte zur nachhaltigen Gestaltung des Tourismus, Städtepartnerschaften, Studentenaustausch oder ähnliche Maßnahmen auf regionaler und kommunaler Ebene könnten viele der politischen Hürden umgangen werden, die auf Regierungsebene nur schwer überwindbar scheinen.

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