Herzlichen Dank meine Damen und Herren. Es ist mir eine große Ehre und ebenso eine große Freude an dem heutigen Abend hier in Bremen zu sein – insbesondere angesichts der Tatsache, dass wir unsere Anwesenheit hier dem Vermächtnis zweier wahrhaft großer und origineller Figuren des 20. Jahrhunderts verdanken: Heinrich Böll und Hannah Arendt.
Dieser Preis und der heutige Abend sind das Verdienst der Organisationen, die die wichtige Arbeit erbracht haben, die Werte und Botschaften dieser beiden Schriftsteller in diesem neuen Jahrhundert lebendig zu halten.
Heute Abend ehren wir eine dritte großartige und originelle Persönlichkeit, die israelische Historikerin Yfaat Weiss. Und ich kann mir keine bessere Beschreibung der Bedeutung ihrer Arbeit einfallen lassen als zu sagen, es ist die Destillation der Beobachtungsgabe Heinrich Bölls und der Zivilcourage und intellektuellen Bandbreite Hannah Arendts.
Und in der Tat: als ich zum ersten Mal das Vergnügen hatte, Dr. Weiss´ eindrucksvolle und bewegende Arbeit „Verdrängte Nachbarn“ zu lesen, erinnerte es mich an nichts weniger als Heinrich Bölls großes Meisterwerk „Billard um halb zehn“. Nicht nur die Entschlossenheit beider Autoren, die vergrabenen Geheimnisse der Nachkriegsjahre freizulegen, sondern insbesondere die Erzählweise, die sie dafür wählten.
Denken Sie nur an die elf Erzähler in Bölls Roman – keiner von ihnen absolut vertrauenswürdig, keiner, der die Meinungen der anderen teilt, viele von ihnen sich selbst täuschend, alle jedoch überraschend und unterschiedlich. Keiner von ihnen völlig gut oder völlig böse. Zusammen hinterlassen uns diese wetteifernden Stimmen ein lebhafteres und komplexeres Verständnis der schuldigen Geheimnisse der Nachkriegsjahre in diesem Land, als es je eine einzige, allwissende Stimme der Autorität vermocht hätte.
Dies ist genau das, was auch Yfaat Weiss in „Verdrängte Nachbarn“ getan hat. Ihre Arbeit bewegt sich an der Schnittstelle von Geographie und Geschichte, aber sie hat die Methode der Romanautorin gewählt, die sich auf einen bestimmten physischen Ort fokussiert, einen scheinbar unauffälligen Ort, an dem sie auf die Macht seiner Stimmen und Charaktere trifft.
Ihr Ausgangspunkt ist ein Haufen Steine. Es sind die Ruinen eines Dorfes, seit Jahrzehnten verlassen, in der israelischen Hafenstadt Haifa.
Die meisten Israelis und Besucher Israels – tatsächlich die meisten Historiker – die diese Narbe aus Schutt, die sich durch das Zentrum Haifas zieht, betrachten, tun sie ab mit einer einfachen Erzählung: „Verlassen von den Arabern“ – „Von der Moderne verdrängt“ – „Abgelöst durch den Fortschritt Israels“.
Dr. Weiss indessen bietet uns die konkurrierenden Geschichten, die multiplen Zukunftsmöglichkeiten an, die in diesen Steinen enthalten sind.
Wir hören von den verängstigten Ashkenazi Juden, ausgespielt gegen die verarmten Mizrahi Juden; von europäischen Werten kontra afrikanische Werte; von Veteranen kontra Flüchtlinge; von Arabern, die gezwungen waren, zu fliehen und solchen, die versuchten zu bleiben; von lokalen Organisationen wider staatliche Bürokratien; von sozialistischen Staatsplanern und kosmopolitischen Stadtplanern.
Und wir hören nicht nur die Geschichte der Vergangenheit, sondern auch die Geschichte die sie “die vielfältigen Visionen einer möglichen Zukunft“ nennt. Nur eine dieser Visionen, eine tragische Vision, wurde zur Realität. Viel mehr Wahrheit jedoch lässt sich aus den aufgegebenen und verstummten Visionen gewinnen.
Dr. Weiss beschreibt ein Terrain, das Journalisten wie ich gewöhnlich in wenige einfache Kategorien übertragen: Den Nahen Osten. Israelis und Palästinenser. Juden und Araber. Zionisten und Islamisten. Siedler und Besetzer.
Aber wenn wir ein ehrliches und wertvolles Verständnis des Nahen Ostens haben – und, so darf ich wohl sagen, wenn wir in irgendeiner Weise darauf hoffen können, eine friedliche Versöhnung im Nahen Osten zu finden – müssen wir von diesen einfachen Kategorien abrücken.
Wie Dr. Weiss schreibt: „Es ist unmöglich, die Geschichte Wadi Salibs zu verstehen, ohne die üblichen Trennlinien aufzuschlüsseln.“
Sie hat „simplistische und unmissverständliche Kausalerklärungen“, wie sie sie nennt, vermieden.
Sie hat die historische Vereinfachung und ideologische Hülle jener einfachen Kategorien entfernt, und das darunterliegende, echte Haifa offengelegt, und damit auch die echte Geschichte des modernen Israels. Mit Hilfe der multiplen, konkurrierenden Stimmen erzählt sie die Geschichte Israels in einer Weise, wie kein einfaches Narrativ und keine ideologische Erklärung es je könnte.
Dies ist der Hannah-Arendt-Preis für Politisches Denken, und es ist mehr als passend, dass es sich bei Weiss‘ Buch um ein Werk handelt, das von der Vision der menschlichen Widersprüchlichkeit durchwoben ist, die Hannah Arendts Karriere geprägt hat. Arendt war ein Flüchtling, und ihre Forschung war die erste, die das Flüchtlingsproblem als Zentrum der Probleme identifiziert hat, denen sich Nationen und menschliche Gesellschaften stellen müssen.
Und die Geschichte, die Dr. Weiss uns erzählt ist im Wesentlichen eine Geschichte, in der alle Charaktere Flüchtlinge sind.
Einige sind Europäische Jüdische Flüchtlinge, kaum anders, als Arendt selbst, die der völkermörderischen Hölle Europas in das unbekannte Terrain Haifas entflohen, mit einer Mischung aus Angst, Entschlossenheit und Vergeltung – und von denen einige den Flüchtlingsstatus nutzen würden, um der sie umgebenden Welt eine soziale Hierarchie aufzuerlegen.
Manche sind Arabische Flüchtlinge, einige vertrieben aus ihren Häusern in Haifa zu den Siedlungen, die bis heute in den Nachrichten erscheinen. Andere sind Flüchtende aus den deutlich prekäreren Vierteln Haifas.
Und wieder andere sind marokkanische Jüdische Flüchtlinge, die zunächst ermutigt wurden, aus ihrem Heimatland zu fliehen und sich an hoffnungslosen Orten wie Wadi Salib niederzulassen, und dann von diesen Orten vertrieben wurden und gezwungen waren, in Sozialwohnungen oder anderen Städten Zuflucht zu suchen.
Und es ist auch die Geschichte städtischer Flüchtlinge, die der auferlegten bäuerlichen Existenz des Kibbutz und den gesichtslosen vorstädtischen Wohnungsbauprojekten zu entkommen versuchten, für einen Griff nach dem urbanen Leben, egal in welchen Vierteln der Stadt sie es finden konnten.
Das Problem des Flüchtlings, wie Hannah Arendt bemerkt, ist, dass seine fundamentalen Menschenrechte von keiner Gemeinschaft garantiert werden – er gehört nicht dazu.
Und dies ist die Chronik eines historischen Moments, als Rechte nicht anerkannt wurden.
Die Vorstellung von Menschenrechten, so Arendt “zerfiel zu Ruinen, sobald jene, die sich zu ihr bekannten, sich erstmals Menschen gegenübersahen, die wahrhaftig jegliche andere spezifische Eigenschaft und Verbindung verloren hatten außer der bloßen Tatsache, Menschen zu sein. Die Welt fand nichts Heiliges in der abstrakten Nacktheit des Menschseins... In der Tat wussten die Flüchtlinge, dass die abstrakte Nacktheit ihres Nichts-als-Menschseins ihre größte Gefahr war.“
Was Dr. Weiss hier konfrontiert ist genau der Moment als die fundmentale Notwendigkeit des Staates Israel mit der fundamentalen Notwendigkeit der Menschenrechte kollidierte.
Und die Menschen und Organisationen, die sie aufzeichnet – die Stimmen, die sie aus jenem Haufen Steine zieht – reagieren auf die Herausforderung in unterschiedlicher Weise. Manche sind heldenhaft und menschlich. Manche sind kalt und gnadenlos. Andere widmen sich blind abstrakten ideologischen oder Planungs-Konzepten. Viele versuchen einfach nur, zu überleben.
Wie Hannah Arendt angesichts der Misere der an internationalen Grenzen gefangenen Flüchtlinge sagte, “Es war kein Problem des Raums sondern der politischen Organisation”.
Was Dr. Weiss hier getan hat ist, den Fokus von dem abstrakten Gebiet politischer Organisation wieder zurück in die Realität der Orte zu verlegen, an denen Menschen leben.
Ihre analytische Einheit ist die Nachbarschaft. Sie ist Teil einer sehr bedeutenden neuen Bewegung von Historikern und Geographen, die sich darüber bewusst werden, dass die roten Fäden in der Geschichte von Nationen gefunden werden können, indem sie die inneren Strukturen spezifischer städtischer Nachbarschaften untersuchen. Die Nachbarschaft ist, trotz allem, wo diese Konflikte sich physisch abspielen – sie ist der Preis, um den wir ringen.
Durch das Ausgraben der Masse an Dokumenten und Aufzeichnungen und Briefen und Artikeln und Interviewstimmen, die eine spezifische, verloren gegangene Nachbarschaft einkreisen, liefert Dr. Weiss uns die Art bedeutungsvoller, polyphoner Geschichtsschreibung, die uns ein breiteres Verständnis ermöglicht, ohne einfache und ideologisch befriedigende Antworten zu geben.
„Würde man der schlichten Chronologie folgen, nämlich den Annalen Wadi Salibs von ihrem verheißungsvollen Anfang bis zum bitteren Ende, hätte dies die Erwartung eine direkten Beziehung von Ursache und Wirkung nach sich gezogen und eine automatische Parallelisierung zwischen Chronologie und Kausalität entstehen lassen.“
Doch dieses Buch ist bei Weitem zu differenziert, um eine solche unvermeidliche Kausalität für sich zu beanspruchen. Sie fährt fort: „Wadi Salib hatte, wie auch die Stadt Haifa, eine glänzende Zukunft mit zahlreichen Visionen vor sich, die eine nach der anderen ad acta gelegt wurden, was jedoch nicht unvermeidbar hätte sein müssen.”
Ich denke, das ist eine sehr gute Zusammenzählung historischer Best Practice: Nicht die Linie aufzuspüren, der gefolgt wurde, sondern die Stimmen zu hören, die für einen anderen Ausgang argumentierten.
Die Geschichte, die uns Dr. Weiss hier erzählt, ist eine Tragödie. die Nachbarschaft ist verlorengegangen. Fehler werden begangen – politische Fehler, juristische Fehler, persönliche Fehler, kriminelle Fehler, bürokratische Fehler, planerische Fehler. Aber indem sie der ganzen Bandbreite der Stimmen zuhört, die aus dem Schutt auftauchen, lässt sie uns die Saat der Hoffnung angedeihen.
Weil das, was wir aus der Art Geschichtsschreibung, deren Pionierin Yfaat Weiss ist, lernen, ist, dass in jeder verlassenen Ruine zahlreiche bessere Zukunftsversionen enthalten sind. Und das, mehr als jede einfache Antwort, ist es, was wir aus unserer Geschichte ziehen sollten. Es ist das große Verdienst von Yfaat Weiss, dass sie einen kraftvollen und glaubwürdigen Weg gefunden hat, dies zu tun.
Übersetzung ins Deutsche: Lena Simon