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Sicherheitspolitik im Wandel – Deutschlands Rolle in der neuen Weltordnung

Internationale Militäreinsätze der Bundeswehr sind spätestens seit der Beteiligung an den Interventionen in Kosovo und Afghanistan nicht länger tabuisiert. Von einer "Normalisierung" von Kriegseinsätzen kann allerdings keine Rede sein, Debatten über verteidigungs- und sicherheitspolitische Fragen haben in Deutschland nach wie vor einen speziellen Klang. Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) hat sich in seiner bisherigen Amtszeit zu diesen Fragen gerade im Vergleich zu seinen Amtsvorgängern immer wieder mit bemerkenswerter Offenheit geäußert. Dass er damit eine ernsthafte und auch lagerübergreifende Debatte angestoßen hat, verdeutlichte seine Teilnahme an einem Podiumsgespräch der Heinrich-Böll-Stiftung am 25. Februar 2013, das de Maizière mit einem 30-minütigen Vortrag eröffnete. 

In der anschließenden Debatte mit Omid Nouripour, dem sicherheitspolitischen Sprecher der grünen Bundestagsfraktion, und Constanze Stelzenmüller vom German Marshall Fund of the United States nahm der Verteidigungsminister zu vielen Fragen kein Blatt vor den Mund. Die trotz mancher sachlicher Differenzen in sehr freundlicher Atmosphäre vom Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung Ralf Fücks geführte Diskussion ließ den Eindruck zurück, dass zumindest die konzeptionellen Unterschiede zwischen den politischen Lagern in der Außen-und Sicherheitspolitik geringer sein könnten als gemeinhin angenommen wird.

Deutschland braucht eine vernetzte Sicherheitspolitik

Dass CDU-Verteidigungsminister Thomas de Maizière die Einladung des grünen Sicherheitspolitikers Omid Nouripour in die Heinrich-Böll-Stiftung nach eigenen Worten kurzentschlossen akzeptierte, kann durchaus als Versuch verstanden werden, die sicherheitspolitische Debatte in Deutschland neu zu beleben. Constanze Stelzenmüller lobte den Minister gleich zu Beginn für dessen differenziertes und zugleich klares Auftreten. Der "de Maizière-Sound" habe das Primat der Politik in eine Debatte zurückgebracht, die bislang zu häufig von vermeintlich alternativlosen Sach- und Bündniszwängen geprägt worden sei. Dies entspreche dem "voluntaristischen Charakter", den sicherheitspolitische Entscheidungen auch in Deutschland haben sollten, so Stelzenmüller.

Der Bundesverteidigungsminister begann seinen Vortrag mit einem Blick zurück. Die sicherheitspolitische Diskussion in Deutschland sei nach dem Ende des Kalten Krieges lange von der Frage bestimmt worden, ob bzw. in welchem Maße das Land eigene Werte und Interessen international vertreten sollte. "Angst vor der eigenen Stärke zu haben muß eine Leitlinie deutscher Politik sein." – Mit diesem Satz habe der Historiker Eberhard Jäckel noch 1990 vor deutschen "Großmachtfantasien" gewarnt. Über zwanzig Jahre später kann es de Maizière zufolge nicht länger um diese Art von Selbstzweifel gehen. Sicherheitsrisiken hätten heute einen zunehmend globalen Charakter. Ob es sich nun um islamistischen Terrorismus, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen oder Cyberangriffe handele, Deutschland könne sich nicht völlig abschirmen.

Das Land stehe mit seinem politischen und wirtschaftlichen Gewicht international sicherheitspolitisch in zunehmender Verantwortung. Allen Nachbarn und Verbündeten sei heute klar, dass die Sicherheit Europas und der europäische Beitrag zur Sicherheit in der Welt ohne Deutschland nicht gestaltet werden könne, so de Maizière. Dabei erlaubt der Abschied vom deutschen "Sonderweg" nach Überzeugung des Verteidigungsministers ein durchaus selbstbewusstes Abwägen: Deutschland könne bei internationalen Anfragen nach Beteiligung an Einsätzen sowohl "Ja" als auch "Nein" sagen.

Allerdings liege die Antwort auf die beschriebenen neuen Herausforderungen nicht in einer Militarisierung der Außenpolitik, betonte der Verteidigungsminister. Sicherheitspolitische Krisen ließen sich nicht militärisch, sondern nur politisch lösen. Soziale, demografische, ökologische, wirtschaftliche und vor allem religiöse Aspekte spielten in der sicherheitspolitischen Analyse eine immer wichtigere Rolle. Dementsprechend müsse eine konsequent ressortübergreifende Sicherheitspolitik angestrebt werden, die sowohl die Außen- und Entwicklungspolitik, aber auch andere Bereiche wie die Wirtschafts-, Finanz- oder Verkehrspolitik berücksichtige, konstatierte de Maizière. 

Sowohl die Betonung der gewachsenen internationalen Verantwortung Deutschlands als auch die vom Minister geforderte ressortübergreifende Vernetzung der Sicherheitspolitik trafen bei Omid Nouripour und Constanze Stelzenmüller auf große Zustimmung. Dem sicherheitspolitischen Sprecher der Grünen zufolge haben die kontroversen Debatten zum Thema in den letzten Jahren auch seine Partei zu der Überzeugung geführt, dass der Einsatz militärischer Gewalt als Ultima Ratio akzeptiert werden müsse, wenn hierdurch größeres Übel verhindert werden könne. Zugleich pflichtet Nouripour dem Verteidigungsminister entschieden bei, dass Militäreinsätze lediglich "Zeitfenster" für politische Lösungen schaffen könnten. 

Wie Constanze Stelzenmüller bemängelte er aber auch, dass sich zwischen der Rhetorik des Verteidigungsministers und der Praxis der schwarz-gelben Bundesregierung erhebliche Lücken auftäten. Thomas de Maizière räumte ein, dass es bei der ressortübergreifenden Sicherheitspolitik der Regierung noch einige Defizite gebe. Constanze Stelzenmüllers Kritik an der deutschen Übernahme von internationaler Verantwortung wies der Verteidigungsminister allerdings zurück. Die Politikwissenschaftlerin und Publizistin hatte bemängelt, dass sich Deutschland bei internationalen Militäreinsätzen zu oft mit der Abstellung einiger Transportflugzeuge begnüge. Die Sicherheitspolitik der Bundesregierung sei weniger von Gestaltungswillen als von Zurückhaltung und Ausweichen geprägt, so Stelzenmüller. Der Verteidigungsminister erwiderte mit dem Hinweis, dass die Bundeswehr aktuell in Mali nach Frankreich zweitgrößter Truppensteller sei. Der deutsche Beitrag zur internationalen Sicherheit sei sowohl finanziell als auch personell mit dem anderer Länder wie Frankreich und Großbritannien vergleichbar, und dies sei "exakt die Liga in die wir gehören", so de Maizière.

Blauhelme für die Bundeswehr statt Europa-Armee

Der Einsatz militärischer Gewalt muss nach den Worten des Verteidigungsministers "auch mit Blick auf die deutsche Geschichte stets diskussionsbedürftig" bleiben. Allerdings ließ de Maizière keinen Zweifel an seiner Überzeugung, dass das Militär weiterhin ein wichtiges sicherheitspolitisches Instrument bleiben müsse. In manchen Krisensituationen gebe es auch aus humanitären Gründen keinen anderen Weg, um die Voraussetzungen für politische Lösungen zu schaffen bzw. zu sichern. Mit Blick auf den Veranstaltungsort erwähnte de Maizière, den prägenden Satz "Es gibt keine Sicherheit ohne Entwicklung und keine Entwicklung ohne Sicherheit" zuerst vom früheren UN-Beauftragten für Afghanistan und heutigen grünen Bundestagsabgeordneten Tom Koenigs gehört zu haben. Im Vergleich zu früheren Einsätzen hätten sich die militärischen Aufgabenbereiche allerdings erheblich erweitert.

Soldaten müssten heute nicht nur kämpfen, sondern auch helfen, schützen und wiederaufbauen können, "manchmal alles gleichzeitig", so de Maizière. Viele Einsätze hätten durch die enge Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen einen zivil-militärischen Charakter. Die Bundeswehr sei gerade in diesen Wirkungsbereichen auch im internationalen Vergleich sehr erfolgreich und geachtet. Um das hierfür notwendige vernetzte Handeln besser zu üben, biete zum Beispiel das I. Deutsch-Niederländische Korps in Münster die Einsatzvorbereitung "Common Effort" an. Im September 2011 seien Truppen und NGOs mit ihren unterschiedlichen Perspektiven zum ersten Mal in einer gemeinsamen Übung aufeinander getroffen, beide Seiten hätten viel voneinander gelernt, berichtete de Maizière.

Der an diesem Abend immer wieder geäußerten Idee einer europäischen Armee stand der Verteidigungsminister allerdings skeptisch gegenüber. Zum einen habe das Bundesverfassungsgericht in seinem Maastricht-Urteil 1993 die Verteidigungs- und Sicherheitspolitik als nicht integrationsfähig erklärt und damit eine "haushohe Hürde" errichtet. Davon abgesehen würden die für eine Zusammenlegung militärischer Kapazitäten notwendigen Souveränitätstransfers von anderen Partnerländern noch viel deutlicher abgelehnt. Auch aus friedenspolitischer Sicht wäre eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik nicht unbedingt ein Fortschritt, da die bisherige Zurückhaltung beim Einsatz der Bundeswehr in den zu erwartenden Entscheidungen kaum aufrecht zu erhalten wäre. Schließlich lehnte de Maizière die mit einer europäischen Armee verbundene Abwertung der NATO ab, da das transatlantische Bündnis nicht nur die USA, sondern auch Großbritannien im europäischen Sicherheitsverbund halte. Sein Fazit dieser Debatte: "Ich möchte lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach." Constanze Stelzenmüller ging dieses "Abwatschen" der Idee eigenständiger europäischer Militärstrukturen gerade im Hinblick auf die Zukunft der NATO etwas zu weit. Das transatlantische Bündnis könne in mancher Hinsicht bereits heute als Haus der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) mit "Gästezimmer für die Amerikaner" gesehen werden, so Stelzenmüller. Der außenpolitische Schwenk der USA nach Asien könne bald dafür sorgen, dass Europa ohne amerikanische Hilfe für seine sicherheitspolitischen Interessen eintreten müsse.

Eine verstärkte Integration der Bundeswehr in UN-Einsätzen konnten sich dagegen alle Podiumsgäste gut vorstellen. Verteidigungsminister de Maizière erläuterte, dass aufgrund der schlechten Ausbildung des militärischen Führungspersonals der UNO momentan noch nicht daran zu denken sei, Bundeswehrsoldaten unter das Kommando von Blauhelm-Offizieren zu stellen. Diese Situation könne durch eine verstärkte Abstellung eigener Offiziere an die Vereinten Nationen durchaus verbessert werden. Bei UN-Einsätzen kämen heute üblicherweise 80-90% aller Soldaten aus Entwicklungsländern, die Kosten würden dagegen überwiegend von den reichen Ländern getragen. Die Gerechtigkeit dieser Praxis müsse bezweifelt werden, Entscheidungen über die Beteiligung an Blauhelmeinsätzen könnten deshalb bald sehr viel häufiger auf uns zukommen, gab de Maizière zu bedenken.

Realismus vs. humanitäre Werte?

In den letzten Jahren hat die Bundesregierung immer wieder vor der Entscheidung gestanden, ob bzw. in welchem Umfang sich die Bundeswehr an internationalen Militäreinsätzen beteiligen soll. Dass es sich hier um klar politische Entscheidungen gehandelt habe, machte der Verteidigungsminister mit der Zwischenbemerkung deutlich, dass die Regierung im Fall Libyen eine Beteiligung gegen den ausdrücklichen Rat erfahrener Soldaten beschlossen habe. In diesen schwierigen Fragen dürfe es keine "Automatismen" geben, jeder Einsatz müsse als Einzelfall behandelt werden, unterstrich de Maizière. Aus der Intervention in Libyen könne zum Beispiel kein Einsatz in Syrien abgeleitet werden. 

In seinem Vortrag erläuterte der Verteidigungsminister einige rechtliche und politische Maßstäbe, die bei diesen Entscheidungen zum Tragen kommen. Zunächst müsse immer geprüft werden, ob ein militärisches Eingreifen die Bedingungen des Grundgesetzes erfülle und auch völkerrechtlich legitimiert sei. Dass es in diesen Fragen durchaus unterschiedliche Auffassungen geben kann, hat nicht nur der völkerrechtlich umstrittene Kosovokrieg 1999, sondern auch die NATO-Intervention in Libyen vor zwei Jahren gezeigt. Nach Ansicht von de Maizière müsse es allerdings auch künftig möglich sein, bei "allerschwersten Menschenrechtsverletzungen" ohne "ganz klares UN-Mandat" militärisch einzuschreiten. Die internationale Gemeinschaft dürfe sich nicht komplett von den Vetomächten im UN-Sicherheitsrat abhängig machen. 

Bei der Beantwortung der Frage, ob ein Einsatz nicht nur rechtlich, sondern auch sicherheitspolitisch und humanitär geboten sei, dürften nationale Interessen nie ohne Wertebezug vertreten werden, erklärte de Maizière. Für den Minister stand zugleich außer Frage, dass sich auch humanitäre Ziele nie allein durchsetzen dürfen. Deutsche Außenpolitik müsse immer auch interessengeleitet bleiben. Deutschland müsse deshalb nach sorgfältiger Abwägung weiterhin bereit sein, mit Regierungen zu kooperieren, denen Defizite bei der Achtung der Menschenrechte vorgeworfen werden, ein Dilemma, das de Maizière folgendermaßen umschrieb: "Auf einem Fest können Sie immer nur mit den Mädchen tanzen, die da sind." 

Diese Auffassung von Stabilitätspolitik stieß bei Omid Nouripour auf eindringlichen Widerspruch. Der grüne Sicherheitspolitiker verwies am Beispiel der aktuell diskutierten Rüstungsexporte auf die zahlreichen Widersprüche, die sich aus der vermeintlich interessengeleiteten Außenpolitik der Bundesregierung ergäben. Das von de Maizière vorgebrachte Argument, dass Panzerverkäufe an die Saudis und an Katar der Sicherheit Israels dienten und gegen die Bedrohung durch den Iran gerichtet seien, lehnte Nouripour als unverständlich ab. Mit den Waffenlieferungen unterstütze Deutschland Regierungen, die sich zum Beispiel. in Bahrain aktiv an der Unterdrückung demokratischer Bewegungen beteiligten. Im Fall Katar werde zudem ein Land beliefert, dem die aktive Unterstützung der islamistischen Rebellen im Norden Malis vorgeworfen werde. Dies diene gerade hier offensichtlich nicht den deutschen Interessen. Die Bundesregierung verwechsele vielmehr Stabilität mit "Friedhofsruhe ", ein Fehler, der sich für Deutschland noch rächen werde, war Nouripour überzeugt.

Der Verteidigungsminister reagierte auf die Kritik mit dem Hinweis, dass die Richtlinien des Bundessicherheitsrates für Waffenexporte heute dieselben seien wie zur Zeit der rot-grünen Regierung. Menschenrechte und Freiheit blieben langfristig in jedem Fall das wichtigste politische Ziel der Sicherheitspolitik, in der Zwischenzeit müsse die Regierung allerdings handlungsfähig bleiben. Im Fall Mali hieße das zum Beispiel, eine Regierung, die selbst nur durch einen Putsch an die Macht gelangt sei, in ihrem Kampf gegen islamistische Extremisten zu unterstützen. Moralische Eindeutigkeit sei bei internationalen Einsätzen wie in Mali eher die Ausnahme, stellte de Maizière fest. Es sei "relativ leicht", einen Einsatz mit menschenrechtlichen Zielen zu beginnen, es sei sehr viel schwieriger, ihn auch mit dem gewünschten Ergebnis zu beenden. 

Eine realistische Einschätzung der Erfolgsaussichten war für den Verteidigungsminister deswegen das vielleicht schwierigste Element der politischen Entscheidungsfindung. Können wir überhaupt helfen? Helfen wir den "Richtigen"? Wird der Einsatz von der Bevölkerung vor Ort akzeptiert? Gibt es jenseits der militärischen Ziele ein politisches Konzept zur Krisenbewältigung? Welche Bündnispartner beteiligen sich am Einsatz? Sind wir bereit, die zu erwartenden Opfer und Kosten zu tragen? Ohne eine ehrliche Beantwortung dieser schwierigen Fragen sollte nach Überzeugung von de Maizière insbesondere nach den Erfahrungen in Afghanistan kein Einsatz mehr beschlossen werden.