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Vom Verwaltungsstaat zum Verfassungsstaat?

Das chinesische Verwaltungsrecht im Wandel (Auszug)

Der Gedanke, legitime Rechte und Interessen der Bürger vor Übergriffen der Verwaltung gesetzlich zu schützen, ist eine relativ neue Erscheinung in China. China ist traditionell ein Staat, in dem das Prinzip der Regierung durch Tugend (dezhi) gilt, nicht das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit. Der Macht der kaiserlichen Regierung waren keine gesetzlichen Grenzen gesteckt. Vor Machtmissbrauch schützte nicht in erster Linie das Gesetz, sondern die (im Wesentlichen konfuzianische) Moral und institutionelle Kontrollmechanismen im Sinne der checks and balances. Wurden die Interessen einer Person durch einen Verwaltungsakt unangemessen verletzt, so konnte die Person Beschwerde einlegen und eine politische Lösung anstreben – das Konzept eines Rechtsbehelfs war jedoch nicht bekannt. Der systematische Schutz vor behördlichen Übergriffen besteht erst seit kurzer Zeit. Ein entscheidender Fortschritt in dieser Hinsicht erfolgte 1990 mit Inkrafttreten des Verwaltungsprozessgesetzes (VwPG), das es einem Bürger ermöglicht, die Verwaltung wegen Verletzung der Rechte und Interessen des Bürgers zu verklagen. Die Gerichte nehmen allerdings nur Klagen gegen „konkrete“ Verwaltungsakte an, was in der Praxis bedeutet, dass eine Vielzahl von „abstrakten“ Verwaltungsakten keiner Kontrolle unterliegt. Vor allem sind die Gerichte dabei nicht befugt, die chinesische Verfassung als Grundlage für ihr Urteil heranzuziehen. [1]

Geschichtlicher Abriss

Während seiner langen Geschichte ist China immer ein „Verwaltungsstaat” gewesen. Schon die frühesten erhaltenen Zeugnisse zeigen das alte chinesische Regime als ein Musterbeispiel orientalischen Despotismus, der – auch in seiner primitiven Form – das Leben der Menschen bis ins Detail regulierte. [2]

Der Freiraum, den der Einzelne für die Abwicklung seiner eigenen Angelegenheiten genoss, erschien vergleichsweise eingeschränkt, ein Zustand, der auch durch die Tatsache unterstrichen wird, dass im frühen China das Zivilrecht nur wenig, das Strafrecht dagegen sehr hoch entwickelt war. In einer solchen Rechtskultur kam das Bestehen auf das Recht des Individuums gegenüber der Regierung einer Häresie gleich, die sich vor der Moderne auch die fortschrittlichsten Denker schlicht nicht vorstellen konnten. Das bedeutet natürlich nicht, dass die chinesischen Beamten völlig unkontrolliert handelten. Ganz im Gegenteil, ihnen wurden durch verschiedene Mechanismen rechtlicher und anderer Art Grenzen gesteckt. Alle diese Instrumente waren jedoch darauf ausgelegt, dass sich die Mandarine nur gegenseitig kontrollierten. Die Beamten wurden von oben ernannt, nicht von den Bürgern, und behördliche Entscheidungen konnten auf dem Rechtsweg nicht angefochten werden. In der Tat war es undenkbar, dass jemand seinen „Vater-und-Mutter-Beamten” (fumu guan) verklagt – ähnlich undenkbar, wie die eigenen Eltern zu verklagen, ein Kapitalverbrechen in der konfuzianischen Tradition. Eine offensichtlich ungerechte Entscheidung auf einer höheren Stufe der Behördenhierarchie anzufechten, war vielleicht ab und zu möglich, aber der Beschwerde tatsächlich nachzugehen, hing einzig und allein vom Wohlwollen und von der persönlichen Integrität (und manchmal dem großen moralischen Mut) des zuständigen Beamten ab. 

Ein Gerichtsverfahren, in dem der Kläger rechtlich dem Beklagten gleichgestellt ist, war in der chinesischen Tradition unvorstellbar. Während der letzten Jahre der letzten Dynastie, als der kaiserliche Hof Verfassungsreformen vorbereitete, sahen die Dinge unter Umständen etwas anders aus. Aber die Reformen liefen – wie üblich – ins Leere. Die Revolution (von 1911; Anmerkung der Redaktion) führte nach Jahren des Krieges und chaotischer Experimente mit einer republikanischen Demokratie zu einer nationalistischen Regierung. Das kontinentaleuropäische (vor allem deutsche und französische) Rechtssystem wurde importiert und imitiert, und tatsächlich wurden zunächst in Bezug auf die Einführung eines Beschwerdeverfahrens gegen Verwaltungsentscheidungen gewisse Fortschritte erzielt. 

Leider lag der nationale Fokus damals an anderer Stelle: In einer Zeit der Kriege, innen wie außen, hatte der Rechtsstaat keinen hohen Stellenwert. Nach 1949 wuchs unter der Planwirtschaft die Verwaltung stetig; ein Verwaltungsrecht aber fehlte. Das Prinzip des Rechtsstaats rückte erst nach der Kulturrevolution, in der die Menschenwürde von allen Seiten mit Füßen getreten worden waren, in den Vordergrund. In den 1980er Jahren, nach der Marktreform und Öffnung, änderten sich die Dinge grundlegend. Bereits 1982, also in dem Jahr, in dem die jüngste Verfassung in Kraft trat, experimentierte man mit Verwaltungsprozessen. 1989 verabschiedete der Nationale Volkskongress (NVK) das bahnbrechende Verwaltungsprozessgesetz, welches 1990 in Kraft trat. Zum ersten Mal, zumindest in der Geschichte der Volksrepublik, erhielten die Bürger das Recht, die Regierung zu verklagen, wenn ihre gesetzlich geschützten Interessen durch eng ausgelegte behördliche Maßnahmen verletzt wurden.

Paradigmenwechsel: Von der „Verwaltung“ zum „Gleichgewicht“

Der Kalte Krieg teilte die Welt in zwei Lager: Osten oder Westen. China konnte nicht anders, als an der Seite der Sowjetunion zu stehen und wurde stark von deren „Verwaltungsmodell“ (guanli lun) beeinflusst. Diese Entwicklung war naheliegend, da beide Staaten eine lange Tradition des – wie de Tocqueville es nennen würde – Verwaltungsdespotismus hatten. Dieses Modell geht von der Bipolarität der menschlichen Natur aus, ein Konzept, das auch der vom Konfuzianismus dominierten chinesischen Denkweise innewohnt: Es gibt zwei Gruppen von Menschen – die Tugendhaften und die Egoisten. Die Tugendhaften müssen regieren, die Egoisten werden regiert. Der Staat muss verwaltet werden und zwar von einer kleinen Elite, die sowohl über das Wissen verfügt, wie eine Massengesellschaft regiert wird, als auch über die moralische Integrität, die dafür sorgt, dass sie ihre Macht nicht missbraucht. Dabei soll die Art und Weise der Verwaltung dafür sorgen, dass die Mehrheit, die entweder unfähig oder moralisch minderwertig ist, von der Teilnahme ausgeschlossen bleibt. Auch wäre es dumm, der Mehrheit Kontrolle über den Prozess zu verleihen. China akzeptierte (oder bestätigte) diese Theorie mit der Gründung der Volksrepublik. Obgleich die kommunistische Bewegung einen radikalen Bruch mit der Tradition darstellte, war hier doch eine bequeme Kontinuität zu erkennen. Die alte Tradition und die neue Ideologie unter dem Einfluss des politischen Verbündeten gingen eine Allianz ein und sorgten gemeinsam dafür, dass sich dieses Verwaltungsmodell durchsetzte.

Ein Modell zur Kontrolle von Macht (kongquan lun) wurde aufs Schärfste als ein Produkt reaktionären „bourgeoisen“ Gedankenguts kritisiert. Da der Staat von der revolutionären Avantgarde geführt wurde, die per definitionem zum Wohle der Allgemeinheit handelt, war es völlig überflüssig, über einen „Kontrollmechanismus“ auch nur nachzudenken. Die Verwaltung, die ja unmittelbar der Partei unterstand, zu kontrollieren, war eine abwegige und ketzerische Idee. Genauso wenig sollte das Gericht eine unabhängige Rolle spielen und die tugendhafte Führung mit Beschwerden belasten. Die Gerichte wurden vielmehr lediglich als „Griff des Messers” (dao bazi) der „Diktatur des Proletariats“ angesehen. Sie hatten das Messer dort anzusetzen, wo ihnen befohlen wurde.

Als China (Ende der 70er Jahre; Anmerkung der Redaktion) den ideologischen Jargon hinter sich ließ, Wirtschaftsreformen einleitete und sich dem Rest der Welt öffnete, wurde deutlich, dass sowohl ein Verwaltungsgesetz als auch die Kontrolle der Bürokratie durch das Gesetz unerlässlich waren. Das erste Lehrbuch zu Verwaltungsrecht erschien 1983 [3], gefolgt von mehreren Abhandlungen zum Thema. Theorien und Verfahrensweisen mehrerer Länder wurden als erfolgreiche Beispiele herangezogen, die das rechtmäßige Handeln der Verwaltung sicherstellen sollten. [4] Seitdem liegt der Schwerpunkt auf dem Aufbau eines theoretischen Rahmens, der das Wesen des Verwaltungsrechts innerhalb der sozialistischen Verfassung definiert. Erforscht wurden Themen wie das Wesen der Rechtsbeziehung im Verwaltungsrecht, die Kontrolle und Aufsicht von Verwaltungsakten, insbesondere die Behandlung von Ermessensspielräumen, Ausmaß und Anwendungsbereiche der gerichtlichen Überprüfung von Verwal-tungsakten und die Mechanismen der Rechtsmittel.

Grundsätzlicher noch wurde begonnen, die Annahmen über menschliches Verhalten, das dem Modell des Verwaltungsrechts unterliegt, zu hinterfragen. Natürlich fällt es China schwer, die westliche Theorie sozusagen im Gesamtpaket zu übernehmen, also wurde die alte Theorie so geändert, dass sie die neuen Ideen und die erforderliche gesellschaftliche Entwicklung aufnehmen konnte. So entstand nach und nach ein Kompromiss, das sogenannte „Gleichgewichtsmodell“ (pingheng lun), das sich durchsetzte. [5] Wie der Name bereits sagt, soll dieses Modell im Wesentlichen einen Ausgleich herstellen zwischen den manchmal widersprüchlichen Zielen der notwendigen Autorität der Behörden und der Rechte und Interessen der Bürger. Laut „Gleichgewichtsschule“ ist es Ziel und Zweck der verwaltungsgerichtlichen Prozesse, das inhärente Ungleichgewicht zwischen der Macht der Verwaltung und den Rechten des Einzelnen auszubalancieren.

Ungelöste Probleme

1. Warum ist es immer noch so schwierig, die Regierung zu verklagen?

Obgleich die Anzahl der Verwaltungsprozesse steigt, ist sie im Vergleich zu der schieren Menge an Verwaltungsentscheidungen, die tagtäglich in diesem Riesenapparat getroffen werden, noch verschwindend gering. Nur gegen ganz wenige Entscheidungen erheben Bürger Einspruch und bringen sie vor Gericht – und von diesen wenigen Klagen werden viele „freiwillig“ zurückgezogen. Der offensichtlichste Grund ist die Tatsache, dass der Beklagte, also die Verwaltung, für die umstrittene Angelegenheit immer noch verantwortlich sein wird. Das heißt, auch wenn der Bürger gewinnt, wird er wahrscheinlich in Zukunft mit Schikanen zu rechnen haben und so auf lange Sicht verlieren. So verzichten Bürger meist auf ein Verfahren. Diejenigen, die es gewagt haben, gegen den Staat vorzugehen, werden dann im Laufe des Verfahrens überzeugt, die „klügere“ Alternative zu wählen, nämlich den Rechtsstreit sang- und klanglos zu beenden.

2. Eingeschränkte Zuständigkeit der Gerichte und eingeschränkte gerichtliche Überprüfung von Verwaltungsakten

Der zweite wesentliche Grund für die geringe Anzahl an Verwaltungsklagen ist die Tatsache, dass die Zuständigkeit der Gerichte viel zu eng definiert ist. Der Unterschied zwischen „konkreten“ und „abstrakten“ Verwaltungsakten wurde gemacht, um einer Klagewelle nicht Tür und Tor zu öffnen. Im Rückblick war diese Befürchtung völlig unbegründet. Daher ist es bedauerlich, dass diese Einschränkung fortbesteht, obgleich sie keinem positiven Zweck dient, sondern nur dafür sorgt, dass unrechtmäßige Verwaltungsakte unter dem Deckmantel „abstrakt“ weiterbestehen können. Eine weitere Beschränkung liegt in § 11 und § 12 des Verwaltungsprozessgesetzes, die das Beschwerderecht auf solche Verwaltungsakte beschränkt, die die „persönlichen und Eigentumsrechte“ verletzen. Deshalb wäre es derzeit für ein Gericht schwierig, zum Beispiel die Verletzung des Streikrechts oder der Meinungsfreiheit zu verhandeln. Diese Rechte sind zudem nur durch die Verfassung garantiert, nicht jedoch durch spezifische Gesetze und daher keine „gesetzlich verbrieften Rechte“, was es ohnehin schwieriger machen würde, eine solche Klage zu gewinnen. Es ist natürlich absurd, ein Recht „verfassungsmäßig“ zu nennen, jedoch nicht „gesetzlich verbrieft“ – eine Absurdität im derzeitigen chinesischen Rechtssystem.

3. Eine unabhängige Justiz?

Hier liegt das Kernproblem: Ist die chinesische Justiz wirklich unabhängig genug, um die Bürger vor behördlichen Übergriffen zu schützen? Das Problem der Unabhängigkeit der Judikative ist essentiell, denn ohne richterlichen Schutz sind die besten Gesetze nutzlos. Dieses Problem besteht in allen Rechtsbereichen, ist im Verwaltungsrecht jedoch am akutesten, denn hier ist die Gefahr am größten, dass die Unabhängigkeit der Justiz durch mächtige Behörden bedroht und unterminiert wird. Das trifft insbesondere in China zu, wo die Rechtsprechung unmittelbar von der Verwaltung kontrolliert wird. Ohne unabhängige Justiz ist das Recht auf Verwaltungsklagen aber ein zahnloser Tiger. So weisen betroffene Behörden die ihnen unterstehenden Gerichte einfach an, unliebsame Klagen nicht anzunehmen, wie es zum Beispiel bei vielen Klagen gegen städtische Behörden in Zusammenhang mit Zwangsabriss von Altbauvierteln (chaiqian) der Fall ist (siehe dazu auch den Artikel zu Zwangsräumungen im E-Paper "Verwaltungsrecht in China").

Von den wenigen Streitfällen, die dann vor Gericht verhandelt werden, wird die Entscheidung der Behörden meistens vom Gericht bestätigt. Nur sehr wenige Verwaltungsentscheidungen wurden bislang widerrufen. Möglicherweise sind tatsächlich viele Beschwerden unbegründet, wahrscheinlicher ist aber, dass Parteilichkeit bei der Überprüfung der Verwaltungsentscheidungen die zentrale Rolle spielt. Eine positive Entwicklung liegt darin, dass heute weniger als zehn Prozent der Kläger, ihre Klage im Laufe des Verfahrens zurückziehen. Das waren vor einigen Jahren noch wesentlich mehr. Dies deutet vor allem auf ein stärker ausgeprägtes Rechtsbewusstsein der Bürger hin, die sich nicht mehr so einfach ins Bockshorn jagen lassen. Sicher ist, dass China bis zur Verwaltungsgerechtigkeit noch einen langen Weg vor sich hat, genauso wie zu echter Unabhängigkeit der Justiz und zur echten Verfassungsstaatlichkeit.


Zhang Qianfan ist Professor an der juristischen Fakultät der Peking Universität.



Anmerkungen
[1] Bislang hat sich kein chinesisches Gericht bei einer Urteilsbegründung explizit auf die Verfassung berufen. Die einzige Ausnahme ist der „Qi Yulin“ Fall aus dem Jahr 2001(siehe die komplette englische Version dieses Artikels). Die Gültigkeit des Urteils im „Qi Yulin“ Fall wurde 2008 vom Obersten Gerichtshof aufgehoben. (Redaktion)
[2] Siehe z. B. die relevanten Passagen im Buch der Urkunden (Shangshu) und im Buch der Riten (Liji).
[3] Wang Lianchan, Studies in Administrative Law, Peking: Law Press, 1983.
[4] Professor Wang Mingyang zum Beispiel, der in Frankreich in den 1950er Jahren in Rechtswissenschaften promovierte, schrieb ausführlich zum französischen, britischen und US-amerikanischen Verwaltungsrecht.
[5] Ein repräsentativer Beitrag ist zum Beispiel Luo Haocai, Yuan Shuhong und Li Wendong, The Theoretical Foundation of Modern Administrative Law: On the Balance of Rights and Obligations between the Administrative Organ and Its Relative Party, Chinese Jurisprudence (Zhongguo Faxue), 1993 (1): 52-59. Hinweis: Der Begriff „relative Partei“ (xiangdui fang), so wie er im chinesischen Verwaltungsrecht benutzt wird, bezieht sich auf den Kläger, also das „Objekt“ eines Verwaltungsakts im Gegensatz zum „administrativen Subjekt“ (xingzheng zhuti). Normalerweise handelt es sich dabei um einen Bürger, manchmal jedoch auch um ein anderes Verwaltungsorgan.