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Teufels Bruder

Lesedauer: 20 Minuten

Es ist erstaunlich: Im „Musterländle“ geht nach über einem halben Jahrhundert die geradezu naturwüchsige CDU-Herrschaft über Nacht zu Ende. Und noch erstaunlicher ist, dass die Leute von ihrem neuen, grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann auch nach anderthalbjähriger Regierungszeit immer noch angetan, ja sogar begeistert sind. Wobei Begeisterung vielleicht nicht der richtige Ausdruck ist, zumal Kretschmann alles andere als ein furioser Redner ist, der die Massen mitreißt. Ganz im Gegenteil zeichnet er sich durch einen langsamen, schwäbischen Singsang aus, der ganz und gar nichts Volkstribunenhaftes an sich hat. Während andere sich um Stimmung bemühen und sich in Aufputschrhetorik üben, bleibt Kretschmann selbst dann ruhig, wenn es scheinbar ums Ganze geht, wie etwa beim Stuttgarter Bahnhof. Und er ist sogar am Abend seiner Wahl ruhig geblieben. Anstatt aufzutrumpfen und eine neue Zeit auszurufen, verhielt er sich wie einer, der die Rolle des Landesvaters längst auszufüllen scheint und auch um die Schwierigkeiten weiß, die ein solches Amt mit sich bringt. Den Eindruck, seine Laufbahn unbedingt mit einem solchen Karrieresprung krönen zu wollen, hat Kretschmann ohnehin nie vermittelt. Arm an Ehrgeiz ist er sicherlich nicht, sonst hätte er es nie so weit gebracht, doch sein Ehrgeiz treibt ihm keinen Schweiß ins Gesicht. Immerhin ist er vor Jahren, als ihm seine Partei zu sehr auf die Nerven ging, beinahe aus ihr ausgetreten und in den Schuldienst zurückgekehrt. Was heißt, dass es für ihn auch ein Leben ohne große Auftritte gibt. Überhaupt gewinnt man den Eindruck, dass er sich nicht an die Mikrofone und vor Kameras drängt und auch ein seltener Gast im TV-Talk-Karussell ist.

Das alles muss man nicht wissen, um ein Bild von Kretschmann zu gewinnen, doch es spricht trotzdem Bände und erklärt ein Stück weit, warum man es im Süden seit bald zwei Jahren mit einem Ministerpräsidenten zu tun hat, der in der deutschen Parteienlandschaft etwas Unvergleichliches besitzt. Und dennoch ist das, was er ausstrahlt, hier nichts ganz Unbekanntes. Zwar ist es Zufall, dass Kretschmann in jenem Spaichingen geboren ist, in dem Erwin Teufel in den 60er Jahren zum jüngsten Bürgermeister der Bundesrepublik gewählt worden war, doch es ist keineswegs ein Zufall, dass die beiden aneinander ihren Gefallen finden. Wenn es nämlich einen Politiker gibt, der Kretschmann in Stil, Ton und Rede ähnelt, dann ist es Erwin Teufel. Dass ihn die scharrenden Endvierziger in der Partei vor zehn Jahren aus reiner Karrieresucht, doch ohne jede politische Not aus dem Amt getrieben haben, muss die hierzulande einst fast allmächtige CDU bis heute büßen. Was danach kam, glich dem Üblichen, wie man es landauf, landab kennt: eine Mischung aus technokratischem Verwaltungseifer und mediengerechter Polit-Rhetorik.

Bis dann jenes wirkliche Desaster kam, das den Namen Mappus trug. Warum sich die CDU ausgerechnet mit diesem Möchtegern-Franz-Josef-Strauß aus Pforzheim ihr eigenes Grab geschaufelt hat, mag verstehen, wer will. Stuttgart 21 allein hätte die CDU niemals an den Rand gebracht, was allein das Referendums-Ergebnis beweist, und auch Fukushima war nach Merkels bereits erfolgtem Atomausstieg nur zum Teil für den Sieg der Grünen verantwortlich. Das Unheil der CDU lässt sich klar benennen: Es war jener feiste Potentat, der nicht merken wollte, dass die Zeiten der Alleinherrscher vorbei sind, und zwar nicht nur in der Politik. Auch vor den großen Orchestern stehen keine Pult-Tyrannen mehr wie noch vor dreißig Jahren, und in den Firmen und Betrieben wird ebenfalls seit langem das Mitdenken und Mitreden großgeschrieben. Was nur einer nicht gemerkt hat, nämlich Stefan Mappus.

Trotzdem darf man nicht vergessen, dass die CDU nach wie vor stärkste Kraft im Ländle ist. Was Winfried Kretschmann vermutlich weit weniger zu schaffen macht als der SPD. Ganz anders als die Berliner Parteispitze ließ er nie einen Zweifel daran, dass er es sich mit den Schwarzen gut vorstellen kann. Als auf dem jüngsten Grünen-Parteitag nochmals lautstark die Koalition mit der SPD als einzig mögliche Option beschworen wurde, bemerkte Kretschmann vollkommen gelassen vor den Kameras, es hänge wie immer alles vom Wahlausgang ab. Was nicht der einzige Grund ist, ihn als ehrliche Haut zu empfinden, während man dem Rest seiner Partei vielleicht in Bälde Wortbruch vorwerfen muss. Warum, fragt man sich, können nicht ein paar mehr Politiker so wie Kretschmann sein? Oder wie Dany Cohn-Bendit, der seinen französischen Genossen beizubringen versucht, dass sie so lange weltfremde Sektierer bleiben werden, wie sie Kretschmann als öden Rechten verachten.

Kretschmanns Werte: Realismus und Freiheit

Dabei ist Kretschmann überhaupt kein Lavierer, zumindest nicht in Grundsatzfragen. Schließlich sind seine Vorhaben keineswegs nur populär. Weder das Streichen von zehntausend Lehrerstellen, noch die Verwandlung von Forstgebieten in wild wuchernde Natur, und auch nicht die weitere Landschaftsverschandelung durch Windräder rufen rundum Jubel hervor. Und mit seiner Bemerkung „Weniger Autos sind besser als mehr“ hat er nicht nur die Stuttgarter Edelkarossen-Erzeuger, sondern all jene erschreckt, die schon länger um den Wirtschaftsstandort Deutschland bangen und es für ein schlimmes Omen halten, dass hierzulande alle Arten von Großprojekten von solchen Bürgerbewegten, hinter denen stramm die Grünen stehen, mit massivem medialem Aufwand in Grund und Boden verdammt werden. Aber auch so mancher Linke würde sich wünschen, dass Kretschmann und die Seinen den Schuldenabbau den Schwarzen überlassen und stattdessen den Wohlfahrtsstaat wieder zum Blühen bringen. Wofür Kretschmann allerdings genauso wenig wie Schäuble zu haben ist, weshalb auch viele das Gefühl haben, dass er mit der CDU weit besser könnte als mit jenen Sozis, die schon längst keine richtigen Sozis mehr sind, aber nach wie vor die Gewerkschaften im Nacken sitzen haben und mit Lafontaines Gegenpartei um die Wählergunst buhlen müssen. In Nils Schmid besitzt Kretschmann einen Partner, der den eifrigen Schulbuben in sich nicht los wird, aber auch alles dafür tut, dass die ländlichen Wähler auch weiterhin und wie schon seit hundert Jahren der SPD nicht wirklich über den Weg trauen. Mit seiner Bemerkung, es sei egal, ob es einen Bauern mehr oder weniger gäbe und notfalls halt auch einmal ein Schwarzwaldtal zuwachse, hat Nils Schmid dem hiesigen Ruf seiner Partei, nichts mit Landwirtschaft am Hut zu haben, alle Ehre gemacht. So redet man eben daher, wenn man SPD-Kandidat der Arbeiterstadt Reutlingen ist und nicht aus Spaichingen kommt, wo Winfried Kretschmann geboren ist und wo Erwin Teufel einst der jüngste Bürgermeister war.

Das an den südwestlichen Rändern der Schwäbischen Alb liegende Spaichingen ist, wenn man einmal die verwaltungstechnischen Einteilungsmuster beiseite lässt, weder Stadt noch Dorf, zu klein für das eine, zu groß für das andere. Auch das Wort Städtchen würde zu niedlich und zu sehr nach Romantik klingen, als dass es auf diesen langgezogenen Hauptstraßenort mit seinen Auswucherungen zutreffen würde. Anders als die für ihre schwäbisch-alemannische Fasnet bekannte Nachbarstadt Rottweil, die einmal eine Schweizer Enklave war, besitzt Spaichingen auch nichts von einem historischen Idyll. Es ist ein typisches Beispiel dafür, wie man über Jahrzehnte hinweg wahllos gebaut hat, jeder nach seiner Façon, billig und praktisch, nüchtern und klobig. Zwischendrin stehen zwar noch ein paar Fachwerkhäuser, die das Ganze aber auch nicht viel schöner machen. Mit ein bisschen gutem Willen könnte man, was das klotzige Volksbanken-Gebäude und ähnliche Glas-Beton-Monster angeht, von Neuer Sachlichkeit reden, würde der stilistische Wirrwarr überhaupt irgendeine Einordnung zulassen. Für Ansichtskartenfotos jedenfalls eignet sich Spaichingen kaum, eher hat man den Eindruck von gottverlassener Provinz. Besteigt man den Hohenkarpfen oder den Dreifaltigkeitsberg, zwischen denen Spaichingen im Tal liegt, sieht alles gleich viel herrlicher aus, was aber denen, die drunten wohnen, wenig nützt. Kleinindustrie und eine ganze Menge Autohäuser prägen die Ortsausläufer, während im Zentrum eine Kirche prangt, die ihren nicht nur symbolischen Stellenwert dadurch verdeutlicht, dass sie gleichsam auf einem Sockel steht.

Man mag es sehen, wie man will, doch bei einem Politiker wie Kretschmann wirkt das Christentum nicht wie ein Anhängsel, das unter anderem auch eine kleine Rolle spielt, sich genau genommen jedoch nichts anderem als der bloßen Herkunft verdankt. Kretschmann scheint nicht deshalb Christ zu sein, weil er die Tradition, in der die meisten hier aufwachsen, mehr oder weniger blind anerkennt. Gottlob, möchte man sagen, ist sein Lebensweg kurviger verlaufen, denn er bekennt sich zum Christentum trotz katastrophaler katholischer Internatserlebnisse und trotz seiner marxistischen Abenteuer, bei denen er ja zumindest gelernt hat, dass Religion nichts als Opium ist. Dass man Vertrauen zu Kretschmann hat, hängt vermutlich mehr, als man sich zugesteht, damit zusammen, dass er durch seinen Glauben ein recht deutliches Bild davon besitzt, was irdisch machbar ist und was nicht. Ein utopischer Eskapist und Rattenfänger jedenfalls ist er nicht.

Als eine Heidelberger Lehrerin für die Schulen ein Glücks-Fach forderte, reagierte Kretschmann mit einem „Da gruselt’s mir“, worauf ihm aus der Weltverbesserungsecke der übliche Aufschrei entgegenschlug, was er wiederum mit der Bemerkung quittierte, wir seien seit Adam und Eva bekanntermaßen aus dem Paradies vertrieben. Womit er mit lapidarem Witz an eine elementare Wahrheit erinnerte. Der seit Rousseau vorherrschende Glaube, der Mensch werde ohne Fehl und Makel geboren und nur die Gesellschaft sei an allen Deformationen schuld, munitioniert so gut wie alle seitherigen Menschheitsutopien. Dass hier unten auf Erden nicht der Hort des Heils ist, weiß der Katholik Kretschmann nur zu gut. Und deshalb war auch nur kurze Zeit Marx sein weltanschaulicher Ratgeber, während er sich inzwischen gern auf Hannah Arendt beruft, die sich aufgrund ihrer Totalitarismuskritik bis heute in der Linken nur wenige Freunde macht. „Der Mensch ist zur Freiheit berufen und nicht fürs Glück gemacht“, sagt Kretschmann und beweist damit, dass sein praktisches Politikverständnis ein theologisches Fundament besitzt. Wie sehr er reichlich beiläufig immer wieder Grundsätzliches in den Blick zu rücken vermag, hat er auch in einer Rede im Freiburger Audimax vorgeführt. Gleich zu Anfang verwies er dabei auf jenes berühmte biblische Motto, das die dortige theologische Fakultät ziert und das lautet: „Die Wahrheit wird euch frei machen.“ Später in seiner Rede entschlüpfte ihm die Bemerkung, es sei in der heutigen Politikersprache üblich geworden, von Werten zu reden, obwohl es doch eigentlich um Tugenden und Haltungen wie Gerechtigkeit und Fairness gehe. Was wie eine flüchtige Anmerkung klang, zielte in Wirklichkeit auf etwas durchaus Elementares.

Schließlich hatte der Tübinger Theologe Eberhard Jüngel schon vor zwanzig Jahren die zeitgeistige Tyrannei der Werte beklagt und darauf hingewiesen, dass sich hinter dem inflationären Werte-Gerede ein durch und durch ökonomisches Denken verbirgt. Auch als Nietzsche vehement nach der Umwertung aller Werte rief, brachte er damit unmissverständlich zum Ausdruck, dass Werte, die heute gelten, schon morgen keinen Wert mehr haben müssen. Es verhält sich mit ihnen wie mit jener Moral, von der jeder glaubt, seine eigene sei die einzig wahre, ohne wahrhaben zu wollen, dass auch die Taliban so denken und Lenin nicht minder für sich eine absolute Moral beansprucht hat, so wie auch George W. Bush, der mit Berufung auf Gott in den Irak einmarschiert ist. Die Rede von den Werten lebt von der gleichen Beliebigkeit wie die Berufung auf die Moral, mit der jeder sein eigenes Weltbild rechtfertigt und dabei gern übersieht, dass dahinter vor allem der Wille steckt, sich mit seinen Ansichten und Absichten über andere zu stellen. Dem ehemaligen Ethik-Lehrer Kretschmann dürfte der Unterschied zwischen der aristotelischen Gerechtigkeits-Ethik und der Kantischen Gesinnung-Moral wohlbekannt sein. Im einen Fall handelt es sich um die Frage, wie zwischen Gegensätzen ein gangbarer Weg gefunden werden kann, während im anderen die Prinzipienreiterei das Regiment führen will. Von Hegel wiederum stammt der Satz, dass „das Herzklopfen für das Wohl der Menschheit“ leicht in den „Wahnsinn des Eigendünkels“ umschlagen kann. Wofür in mancher Hinsicht auch Stuttgart 21 ein Beispiel abgibt.

Mann der Argumente

Als Kretschmann bei seiner Freiburger Rede verkündete, dass seine Regierung die Studiengebühren wieder abschafft, brandete Jubel auf. Worauf ihm ein kurzes Lächeln übers Gesicht huschte, er den Jubel dann jedoch abbremste und erklärte: „Vielen Dank für den Applaus, aber er animiert mich doch zu der Feststellung: Was wir bei den Gebühren verlustig gehen, werden wir uns bei den Steuern holen müssen. Irgendwo muss das Geld herkommen. Und das muss ich wirklich klar sagen: Wir gehen nur von einem gebühren- zu einem steuerfinanzierten Modell über, und ich muss jetzt dafür etwa 130 Million aufbringen aus Haushaltsmitteln, ohne dass die Steuern schon erhöht sind, man muss mal sehen, mit dem Geld kann meine Kollegin Theresia Bauer noch überhaupt nichts gestalten, das geht einfach sozial an Sie zurück, freuen Sie sich drauf, aber wir holen's an anderer Stelle wieder rein, so stehen die Dinge nun mal.“ Womit er – was für einen Politiker ungewöhnlich ist – beispielhaft vorgeführt hat, dass angenehme Wahrheiten in aller Regel nur halbe Wahrheiten sind und es im politischen Hin und Her nichts kostenlos gibt. Auch als Kretschmann angesichts der jüngsten Castor-Proteste meinte, er vermöge in weiteren Sitzblockaden keinen Sinn mehr zu entdecken, nachdem die Energiewende beschlossene Sache sei, wurde er von den notorisch Aufgebrachten postwendend als Verräter beschimpft, während die dauererregte Claudia Roth die Demonstranten nicht schnell genug ihrer Solidarität versichern konnte, und sei es nur, um sie nicht als Wähler zu verlieren. Genau hier offenbart sich der Unterschied zwischen dem Verlangen nach ständiger moralischer Selbsterhitzung und einer ethisch orientierten Vermittlungspolitik, die das Ganze in den Blick zu nehmen versucht und sich nicht in öffentlichkeitswirksamer Selbstanpreisung gefällt.

Was dagegen Tugenden und Haltungen sind, lässt sich an Figuren wie Teufel und Kretschmann studieren. Ohne sie gleich überhöhen zu müssen, zeigt allein die Art ihres Redens, dass sie nicht auftrumpfen, sondern argumentieren wollen. Dass beide keine gewieften Rhetoriker sind und auch nicht zu jedem Thema ein flottes Statement abliefern, schadet ihnen keineswegs. Gerade das, was an ihnen so ungeschliffen wirkt, strahlt etwas Vertrauenswürdiges aus. Auch bei Politikern stellt man sich auf ganz leise Weise instinktiv die Frage, ob man sich ihnen in wirklicher Not wohl anvertrauen möchte. Es kommen einem dabei nicht viele in den Sinn, zeitweise sogar überhaupt keine. Man kann sich für diese kindliche Frage schämen, auch wenn man sie nur für sich selbst stellt, doch unser Seelenleben gehorcht anderen als bloß rationalen Gesetzen. Auf bewusster Ebene mögen wir über solche schlichten Gefühle erhaben sein, doch hinterrücks holt uns allemal etwas ein, das wir überhaupt nicht im Griff haben. So sehr man inzwischen jede Art von Patriarchenkult verdammen mag, so wenig lässt sich bestreiten, dass es nach wie vor eine Sehnsucht nach väterlichen Figuren gibt – und auch nach mütterlichen. Meist genügt es einem ja schon, wenn man sich für seine politischen Repräsentanten nicht schämen muss, doch im Grunde erwarten wir, ohne es uns vielleicht zuzugestehen, deutlich mehr von ihnen. Willy Brandt ist das beste Beispiel dafür. Oder Kennedy oder Nelson Mandela oder Barack Obama. Und auch Helmut Schmidt, seit er nicht mehr Bundeskanzler ist. Wer dagegen für Brioni wirbt, solange er Bundeskanzler ist, dem möchte man nicht wirklich sein Schicksal anvertrauen, selbst wenn seine Politik gar nicht falsch ist.

Und trotzdem ist die allgegenwärtige Rede von der Politikverdrossenheit vor allem ein wohlfeiles Geschwätz, das inzwischen sogar haufenweise Politiker nachbeten, um sich bei denen, von denen sie denken, sie seien politikverdrossen, beliebt zu machen. Dabei hat ein nicht geringer Teil unserer Politiker einen weit arbeitsintensiveren Alltag als jeder jener Demokratiespezialisten, die abends vor dem Fernseher in bester Stammtischmanier über die da droben motzen. Die Piraten profitieren von dieser Litanei und preisen ihre demonstrativ zur Schau gestellte Laienhaftigkeit als neue Tugend an. Die Grünen wiederum bemühen gern den Begriff der Bürgergesellschaft und suggerieren damit, dass die bisherige bundesrepublikanische Politik in erster Linie von oben verordnet worden ist. Dabei weiß man schon seit zwanzig Jahren, dass in Stuttgart ein neuer Bahnhof gebaut werden soll, nur dass sich erst in dem Augenblick massiver Widerstand zu regen begann, als die Bagger anrollten, während davor das Bürgerbedürfnis nach Einspruch und Mitsprache nicht sonderlich ausgeprägt war. Was bedeutet, dass es den meisten gar nicht um die Mühen des Mitdenkens und Mitredens geht, sondern sich in ihnen lediglich hin und wieder der Drang nach ein bisschen anarchisch angehauchtem Aktivismus Bahn brechen will. Dass es genügend Gründe gab, gegen die zum Teil stümperhaften Planungen der Bahn aufzubegehren, ist die eine Sache,  die andere dagegen hat vermutlich wenig mit ökologischen und ökonomischen Einwänden zu tun, sondern verdankt sich diffusen Stimmungen, die sich ein Ventil suchen, um wieder einmal Dampf ablassen zu können.

Dass die Grünen sich hundertprozentig mit dem Stuttgart-21-Widerstand identifiziert haben, war wahlpolitisch schon deshalb der richtige Schachzug, weil sie sich damit von allen anderen Parteien klar unterscheiden konnten. Die Tatsache, dass es innerhalb der Grünen keinerlei kritische Stimmen gegen die Stuttgart-21-Kritiker gab, gehört dagegen zu den Flachsinnigkeiten einer Parteienpolitik, die letzten Endes nach soldatischer Zustimmung und unisono hinausposaunter Abgrenzung verlangt. Immerhin hätte man auch als Grüner den religiösen Erweckungseifer, der bei nicht wenigen der selbsternannten Wutbürger zu beobachten war, bedenklich finden können. Das Bild so mancher Parkschützer konnte einen jedenfalls nicht gerade in ungebremste Demokratiefreude versetzen, und bei so manchem Taxifahrer, der gegenüber seiner Kundschaft ungefragt gegen alle Stuttgart-21-Befürworter zu toben anfing, konnte man ebenfalls den Eindruck gewinnen, dass er noch ganz andere als nur Bahnhofs-Probleme hat. Und wer in den entsprechenden Freiburger Wahllokalen jene verkniffenen Kampfgesichter sah, die beim Referendum nicht nur gegen die Bahn und ihre Lobbyisten, sondern gegen einen schleichenden Faschismus abzustimmen schienen, sah sich mit einer Gesinnungsgemeinschaft konfrontiert, der er schon um des eigenen Autonomiegefühls willen die Zustimmung versagen wollte. Das Erstaunlichste an all dem aber war, dass die Demonstranten keinerlei Ahnung davon hatten, wie wenig die leisere Mehrheit im Lande ihre Meinung teilte und sogar das Gefühl hatte, dass es hier um alles Mögliche, aber keineswegs nur um einen Bahnhof ging, und hinter der pompösen Empörung vermutlich nicht bei allen bloß edle Motive steckten.

Die CDU als schlechte Verliererin

Im Grunde brauchte Kretschmann über den Ausgang des Referendums gar nicht nur unglücklich zu sein, zumal er von da an zeigen konnte, dass die Regierungs-Grünen nicht nur ein einziges Thema verwalten, sondern sich endlich allem, was Baden-Württemberg ausmacht, zuwenden können. Dass er ohne Wenn und Aber die durch Volkes Stimme zustande gekommene Niederlage akzeptierte, vermochte seinem Ansehen allenfalls bei jenen Verstockten zu schaden, die in ihrer politischen Paranoia überall nur Lug und Trug am Werk sehen, wenn sie sich mit ihrer Weltsicht nicht durchsetzen können. Doch für so manchen, der Kretschmann nicht gewählt hat, ist er gerade dadurch zum Landesvater geworden, dass er das Ergebnis ohne jede Nachtreterei anerkannt und sich nicht wie Fritz Kuhn verhalten hat, der sofort nach seiner Wahl zum Stuttgarter Oberbürgermeister meinte, sich bei der Demonstrationsklientel mit einer neuen Abstimmungsankündigung gegen die Bahn beliebt machen zu müssen. Inzwischen bekommen die Protestierenden wahrscheinlich doch noch recht, zumal die jüngsten Kostenrechnungen astronomische Höhen erreichen und selbst Vertreter der Bahn nicht mehr hoffnungsfroh in die Zukunft schauen. Womit die Vernunft plötzlich wieder ganz auf Seiten der Gegner zu sein scheint und die CDU vermutlich noch eine weitere kapitale Schlappe erhält. Solche realdialektischen Wechselbäder gibt es nicht jeden Tag in der Politik, und man darf gespannt sein, wie sich die Stuttgart-21-Befürworter, allen voran die CDU, verhalten werden, falls das Projekt wegen fortgesetzter finanzieller Unwägbarkeiten endgültig begraben werden oder derart grundlegend modifiziert werden muss, dass am Ende von den einst grandiosen Plänen so gut wie nichts übrigbleibt. Man möchte jedenfalls nicht bei der CDU sein, um die dann ausbrechende Häme ertragen zu müssen. Doch vielleicht findet sich bei ihr bis dahin auch ein Kretschmann, der die Entwicklung, so wie sie sich ergibt, schlichtweg akzeptiert und nicht noch einmal von vorne eine Diskussion lostritt und sich damit erneut ins rechte Licht zu setzen versucht.

Man hat ja überhaupt den Eindruck, dass die CDU sich nach einer Kretschmann-Gestalt sehnt und es längst bereut, dass sie einen wie Erwin Teufel, der Kretschmanns älterer Bruder sein könnte, vor zehn Jahren abgesägt hat. Alexander Kluge, der konservativer Umtriebe unverdächtig ist, meinte einmal, es gebe nur wenige Politiker, denen man zutiefst Vertrauen schenkt. Als einziges Beispiel fiel ihm Teufel ein. Inzwischen würde er wahrscheinlich auch Kretschmanns Namen nennen. Allerdings wird Kretschmann damit leben müssen, dass ihm künftig nicht mehr all jene Aufrechten, die in den Gesinnungsmetropolen Tübingen, Heidelberg und Freiburg sitzen, weiterhin ihre Stimme geben. Doch vermutlich werden ihm dafür nicht wenige einstige CDU-Wähler über die jetzige Legislaturperiode hinaus treu bleiben. Oettingers Rat an seine Parteifreunde, nicht ausgerechnet den nahezu rundum respektierten Kretschmann anzugreifen, zeigt, je länger die CDU frustriert Opposition spielen muss, allerdings immer weniger Wirkung. Kurz vor Weihnachten 2012 verhielten sich CDU und FDP derart schäbig, dass auch jedem gestandenen Konservativen die Haare zu Berge stehen mussten. Weil die früheren Koalitionäre meinten, von jetzt auf gleich zwei Dringlichkeitsanträge zur Entlassung von Nils Schmid und der SPD-Kultusministerin stellen zu müssen, blieb Kretschmann, der an diesem Tag als Bundesratspräsident in Berlin eine Gedenkrede für die NS-Opfer der Sinti und Roma halten sollte, nichts anderes übrig, als unverzüglich in den Flieger zu steigen, um pflichtgemäß im Stuttgarter Landtag zu erscheinen. Seine Rede konnte er nicht halten, nachdem der hiesige CDU-Vorsitzende Hauk Kretschmanns Bitte, den Dringlichkeitsantrag einen halben Tag später einzureichen, kategorisch abgelehnt hatte. Erwin Teufel wäre so etwas nicht im Traum in den Sinn gekommen.

Dabei gibt es Gründe genug, an der grünen Politik keineswegs alles gut zu finden. Ein kultureller Leuchtturm war diese Partei nämlich noch nie, ganz im Gegenteil. Was nicht zuletzt daran liegt, dass sich so mancher Grüne auf seinen antibürgerlichen Affekt nach wie vor etwas einbildet. Auch wenn es nach wie vor weitgehend Common Sense ist, dass man unter Künstlern links wählt, waren sich unter Späth und Teufel alle, die beruflich mit Theater, Literatur und Musik zu tun hatten, einig darin, dass man in Baden-Württemberg eigentlich nur CDU wählen kann, selbst wenn man nie ein Kreuzchen bei dieser Partei gemacht hat. Dass Winfried Kretschmann ein begeisterter Operngänger ist, hört man da gern. Ein bisschen mehr Humboldt dürfte schon sein und ein bisschen mehr Gefühl dafür herrschen, dass Welten zwischen einer bloßen Spektakel-, Event- und Popkultur und jener anderen liegen, die eine ganz andere Konzentration erfordert und einen Schimmer von Transzendenz ins Einerlei unserer Geschäftigkeit bringt. Warum man, wie es im Parteiprogramm der baden-württembergischen Grünen an vorderster Stelle heißt, ausgerechnet Pop fördern muss, mag verstehen, wer will. Immerhin dröhnt längst weltweit aus allen Kanälen unentwegt das gleiche Bumbum, und man hat es dabei mit einem Markt zu tun, der mit seinen Milliardenumsätzen nicht auch noch staatlicher Subventionen bedarf. Ob ein Leben, in der es die als bürgerlich gescholtene Kultur nicht mehr gibt, uns noch viel zu bieten hat, ist zutiefst fragwürdig. Wer bloß die Natur retten will, rettet, was Sinnfragen angeht, noch nicht sehr viel.

Man wünscht sich, dass die Grünen von mehr Kretschmännern unterwandert werden, und nicht nur die Grünen, sondern auch die anderen Parteien. Auf dem kulturellen Billig-Trip befinden sich zurzeit so gut wie alle, aber auch in dieser Hinsicht muss noch nicht aller Tage Abend sein.


Karl-Heinz Ott lebt nach Tätigkeiten als Schauspielmusiker und Dramaturg an den Theatern in Esslingen, Freiburg, Basel und Zürich seit 2001 als freier Schriftsteller in Freiburg. Romane: Ins Offene (1998), Endlich Stille (2005), Wintzenried (2011). Sachbücher: Tumult und Grazie. Über Georg Friedrich Händel (2008). Er bekam u.a. den Alemannischen Literaturpreis, den Candide-Preis und den Johann-Peter-Hebel-Preis.

Dieser Text ist ein Vorabdruck aus dem Band "Experiment Bürgerregierung - Wie in Baden-Württemberg Menschen an der Politik beteiligt werden", der Ende April in unserer Schriftenreihe Demokratie erscheint.