"Mensch und Maschine rücken über den Autisten näher aneinander"

Autoaufkleber für mehr Bewußtsein für Autismus.
Foto: Anders Pollas, Quelle: Flickr, Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0

 

15. April 2013
Antonia Bartning
Nerd sein ist in. Das vermitteln zumindest die Medien der Populärkultur und einige Modeerscheinungen, wie die Nerd-Brille, die sich manche Menschen als Accessoire aufsetzen. Aber nicht nur in der Mode, sondern auch in der Berufswelt finden Menschen mit leicht autistischen – oder nerdigen – Zügen zunehmend mehr Akzeptanz, besonders als hoch spezialisierte Fachkräfte. Das ist zumindest das Bild, welches in der Öffentlichkeit gerne verbreitet wird. Nicole Karafyllis sieht Gefahren, die durch solche Bilder entstehen können. Sie ist Professorin für Philosophie an der TU Braunschweig und forscht unter anderem zum Phänomen Autismus.

Heinrich-Böll-Stiftung: Was ist ein extrem männliches Gehirn?

Prof. Dr. Nicole Karafyllis: Der Begriff „extrem männliches Gehirn“ stammt von dem Neuroforscher Simon Baron-Cohen. Er versteht darunter ein Gehirn, was sich in erster Linie zum Systematisieren eignet, was also versucht die Umgebung zu systematisieren. Man könnte auch sagen, das funktioniert wie ein Scanner oder ein Gehirn, was relativ wenig Energie in Emotionen investiert, sondern eher darin sich räumlich und an Hand von Fakten zu orientieren.

Warum benennt er es als männliches Gehirn?

Er sagt, es sei in der Evolution typisch männlich gewesen, sich auf Umgebungen zu konzentrieren und Fakten zu ordnen, es gehöre evolutionsbiologisch zum Jägertypus. Das sei, was männliche Gehirne im Allgemeinen ausmache, natürlich in Abgrenzung zum Weiblichen.

Das autistische Gehirn habe diese Fähigkeit perfektioniert und dafür die weiblicheren Seiten des Gehirns, also Einfühlungsvermögen und Kommunikationsfähigkeit, eher minder entwickelt. Das ist seine These.

Was wollen Sie mit Ihrer Forschung zur Pathologisierung von Nerd-Zuschreibungen in Beziehung zum Asperger-Syndrom erreichen?

In meinen Forschungen geht es nicht um Pathologisierung von Nerd-Zuschreibungen, sondern ganz im Gegenteil; ich möchte, dass der Autist und die Autistin erst einmal richtig wissenschaftlich erforscht werden, bevor er oder sie pathologisiert werden. Zur Pathologisierung und dem gegenteiligen Effekt, den wir auch erleben, der Normalisierung, tragen in erster Linie die Naturwissenschaftler und Mediziner bei, die populärwissenschaftlich veröffentlichen, aber auch die Populärkultur selbst, also Fernsehen, Film und fiktionales Schreiben, die den Autisten immer wieder als Protagonisten inszenieren. Dadurch wird ein bestimmtes Bild vom Autisten entwickelt, das sowohl pathologisch als auch normal ist. Das gibt meiner Meinung nach ein falsches Bild von Autisten wieder, denn die absolute Mehrzahl von Autisten ist nicht inselbegabt, das heißt es sind keine Asperger-Autisten. Asperger-Autismus ist ein sehr seltenes Syndrom.

Die meisten Autisten haben mit großen Problemen zu kämpfen, zum Beispiel wie sie im normalen Leben klar kommen – die fallen in dieser Darstellung hinten runter. Mich als Philosophin interessiert der Gerechtigkeitsaspekt, der eigentlich dem Phänomen Autismus erst mal gerecht wird und sagt; hier ist eine Zuspitzung erreicht, die nicht der Realität entspricht. Das möchte ich gerne klar stellen. Das zweite ist, dass ich mich frage: Welches Männerbild wird hier eigentlich generiert im Vergleich zu einem Frauenbild? Warum haben wir jetzt wieder so ein Backlash [Rückwärtsbewegung], dass Männer sich nicht nur antisozial verhalten, sondern anscheinend auch noch antisozial verhalten dürfen? In der Populärwissenschaft wird immer wieder gezeigt, wie sympathisch dieser Asperger-Autist ist. Er hat zwar immer wieder Probleme mit Frauen, aber das findet man dann auch wieder sympathisch. Da wird ein bestimmtes Geschlechterverhältnis dargestellt und das finde ich problematisch.

Was ist das Ziel ihrer Untersuchung?

Ich möchte ein Bewusstsein dafür schaffen, dass die reale Lage viel komplizierter ist, als diese Vereinfachung in der Populärwissenschaft.

Man sollte auch an die Eltern von autistischen Kindern denken. Für sie ist es sehr wichtig, dass Autismus auch eine Pathologie bleibt, denn sonst bekommen sie beispielsweise keine Unterstützung der Krankenkassen.

In populärwissenschaftlichen Publikationen ist häufig zu lesen, dass es eine Zunahme an Fachkräften mit Asperger-Syndrom gebe. Gehen Sie von einer solchen Zunahme aus?

Mir liegen keine empirischen Daten vor. Ich kann erst davon ausgehen, wenn es Fakten gibt. Die Fakten gibt es nicht, weil das nach meinem Wissen auch keiner untersucht hat, sondern das ist einfach eine Behauptung, die zurückgeht auf die Schriften von Simon Baron-Cohen, der sagt, Asperger-Autisten seien ideal für IT-Jobs.
Man kann sagen, dass Asperger-Autisten – die ganz wenigen, die es gibt – eine ganz leichte Neigung haben IT-Jobs zu wählen. Aber daraus kann man nicht schließen, dass es eine Zunahme an Fachkräften mit Asperger-Syndrom gibt.

Was das bedeutet ist eine gesellschaftliche Frage, nämlich: Welche Arbeitsbedingungen geben wir vor? Es ist für jeden normal, dass er immer mehr repetitive Arbeit am Computer machen muss. Es betrifft also auch den Normalbürger. Es wird fast an jedem Arbeitsplatz verlangt, dass man sich ein bisschen mit Programmierung auskennt. Daraus kann man aber nicht schließen, dass wir dazu alle Autisten werden müssen. Aus meiner Sicht steckt dahinter eigentlich ein Geschlechterkampf, weil immer mehr Frauen in den Arbeitsmarkt drängen und man jetzt sagt, Männer seien für diese Tätigkeiten besser geeignet. Da wird also ein naturalistisches Argument vorgebracht: Weil ihr Gehirn so ist, sollten sie eher diese Jobs bekommen. Das ist auch die Gefahr an der Debatte.

Bei „Doing Nerd“ werden Sie auch über Rhythmus und Takt nerdiger Stereotypen sprechen. Was ist darunter zu verstehen und worin besteht der Zusammenhang?

Man behauptet immer, dass die Autisten selber einen bestimmten Rhythmus in ihren Bewegungen haben, der völlig autonom sei, fast schon maschinell, wenn man sich Arm- und Augenbewegungen anguckt. Mich würde interessieren, inwieweit Autisten nach einem Maschinenmodell in der öffentlichen Wahrnehmung modelliert werden. Denn, was man sehen kann ist, dass sie sich fast wie Roboter zu verhalten haben. Wer reale Autisten kennt, weiß, dass das nicht stimmt. Das ist ein Forschungsfeld.

Es wird versucht jede Forschung über Populärkultur zu vermitteln, um sie gesellschaftlich akzeptabel zu machen. In die Robotik geht sehr viel Geld, genauso wie in die Autismus-Forschung und beides hängt miteinander zusammen. Da liegt die Aussage nahe, wenn der Mensch schon so eine bestimmte maschinelle Rhythmik hat, dann ist ein humanoider Roboter, der das auch kann, wieder ganz nah am Menschen dran. Mensch und Maschine rücken über den Autisten näher aneinander.

Nun stellt sich die Frage, sind Rhythmus und Takt selbstbestimmt oder fremdbestimmt? Im Arbeitsleben sind sie oft fremdbestimmt. Da muss man sich nach dem Takt und dem Rhythmus der Arbeitsorganisation richten. Es wird so getan, als könnte man in einer gewissen Hinsicht Mensch, Arbeit und Maschine gleichschalten. Das passiert wenn man sagt, der Autist habe einen bestimmten Rhythmus – das würde ich bestreiten.

Sie sagten, dass die Entwicklung von Robotertechnik mit der Autismusforschung zusammen hängt. Was meinen Sie damit?

Ja, ich habe gesagt, dass Autismusforschung und die Forschung an humanoiden Robotern in der Tat eng miteinander verknüpft ist, nämlich über die sogenannte Kognitionsforschung, in der auch das Gehirn der Autisten als Modell für künstliche Intelligenz steht. Diese fließt wiederum in die humanoide Robotik ein.
Das ist natürlich interessant für die Militärforschung, in der am maschinellen Soldaten gearbeitet wird, der möglichst emotionslos sein und Befehle akkurat ausführen soll und dem man wahrscheinlich eine bestimmte Rhythmik – des Voranmarschierens zum Beispiel – einprogrammieren kann. Deshalb finde ich es relativ gefährlich, Menschen, die immer auch eine Alternative und auch einen anderen Rhythmus haben können, einfach so darzustellen, als seien sie schon von Natur aus so wie Maschinen. Das begleitet aber die Autismusforschung seit ihren Anfängen in den 30er Jahren.

Ich finde, man muss aufpassen, dass man den durch Populärkultur dargestellten Ideologien – und das sind solche über Technik, Arbeit und Geschlecht – nicht einfach aufsitzt. Sondern man sollte hinterfragen, was die Fakten sind. Wenn man Kinderärzte fragt, wird man feststellen, dass auch Mädchen als Autistinnen diagnostiziert werden. Das kommt zwar in der Populärwissenschaft langsam ein bisschen durch, bleibt aber immer noch sehr gering.

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Prof. Dr. Nicole Karafyllis wird im Rahmen der Veranstaltung „Doing Nerd“ am 28. April im Podiumsgespräch mit Shintaro Miyazaki über leichte Fälle des Asperger-Syndroms bzw. Nerd-Syndrom sprechen.

Das transdisziplinäre Symposium wird von der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst e.V. im Rahmen des NGBK-Projektes „Die Irregulären – Ökonomien des Abweichens“ in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung veranstaltet.

Das Interview führte Antonia Bartning.