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Der lange Marsch

Dieser Tage feierte die grüne Bundestagsfraktion ihren 30. Geburtstag. Verglichen mit den hochfliegenden Gefühlen und Erwartungen, mit denen die erste grüne Fraktion damals in den Bundestag einzog, begleitet von Freunden und Gästen aus aller Welt, war es eine eher nüchterne Veranstaltung. Der Überschwang von einst ist dem Selbstbewusstsein einer Partei gewichen, die in den Umfragen bei 15 Prozent gehandelt wird und die nächste Bundesregierung fest im Blick hat. 

Man ist im Zentrum der Berliner Republik angekommen und fest entschlossen, den gesellschaftlichen Rückhalt und die fachliche Kompetenz, die sich die Grünen über die Jahre erworben haben, in politischen Einfluss umzumünzen. In ihren Anfangsjahren verstanden sich die Grünen in erster Linie als Bewegung. Sie sahen sich als politische und kulturelle Alternative zum « herrschenden System ». Inzwischen sind sie eine hoch professionelle Partei, die souverän auf der Klaviatur der parlamentarischen Demokratie spielt.

Der amerikanische Politikwissenschaftler Andrej Markovits sieht in den Grünen eine Fernwirkung jenes großen Aufbruchs, der unter dem Kürzel « 68 » zusammengefasst wird. Beim Einzug der ersten grünen Fraktion in den Deutschen Bundestag im Frühjahr 1983 war diese Vorgeschichte noch unübersehbar – nicht nur im antibürgerlichen Habitus, sondern auch in der Sprache, im Temperament und in den Themen dieser ausgeprägten Individualisten (Frauen wie Männer), die damals den Bundestag enterten. Zu diesem Zeitpunkt war schon entschieden, dass die Grünen trotz ihres Gründungs-Slogans « Weder links noch rechts, sondern vorn » im Kern ein Projekt der Neuen Linken waren. Sie setzten neue Themen auf die politische Agenda und entwickelten einen neuen Politikstil, der sie von linksradikalen Gruppen ebenso unterschied wie von der Sozialdemokratie.

Man kann die Evolution der Grünen auch als eine Geschichte von Trennungen lesen: zunächst von den konservativen Bundesgenossen der Gründerzeit und später von den sozialistischen Strömungen, die den Weg zu einer parlamentarischen Reformpartei nicht mitgehen wollten. Zahlreiche prominente Akteure der frühen Jahre haben die Partei verlassen: Herbert Gruhl, Otto Schily, Jutta Ditfurth, Rainer Trampert, Waltraud Schoppe und Willi Hoss stehen stellvertretend für viele andere. Aus der ersten Fraktion ist allein Marieluise Beck noch im Bundestag aktiv (Christian Stroebele rückte zur Halbzeit der Legislaturperiode nach). Die kunterbunte Vielfalt und der Elan der frühen Jahre können die brutale Härte nicht verdecken, mit der bis in die 90er Jahre hinein der Kampf um die politische Orientierung der Grünen ausgefochten wurde. Damit verglichen sind die heutigen Überreste der Flügelkämpfe nur ein laues Lüftlein. Nie war der gefühlte Grundkonsens innerhalb der Grünen so groß wie heute.

Es ist nicht übertrieben, die Grünen als das erfolgreichste politische Projekt der letzten 30 Jahre zu kennzeichnen. Dass die Bundesrepublik heute von einer Frau regiert und von einem schwulen Außenminister repräsentiert wird, ist Ausdruck eines Wandels der politischen Kultur, der maßgeblich von den Grünen angestoßen wurde. Zentrale politische Projekte wie der Ausstieg aus der Atomenergie und die Reform der Staatsbürgerschaft sind inzwischen parteiübergreifend akzeptiert. Dabei reicht ihr Erfolg weit über Deutschland hinaus. « Grün » ist inzwischen eine globale Marke, in der Politik wie in der Wirtschaft. Dabei hat die milieuübergreifende Sympathie, die den Grünen entgegengebracht wird, nicht nur mit « weichen » Themen zu tun. 

Die Öffentlichkeit schreibt ihnen eine hohe Kompetenz in Sachen Energiepolitik zu, und bis in die Unternehmen hinein gilt Ökologie nicht mehr als Killerprogramm für den Industriestandort Deutschland, sondern als ökonomische Frischzellenkur. Kurz und gut: Grün ist cool, und die Grünen sind auf dem Sprung in eine neue politische Dimension. Sie stellen den Ministerpräsidenten einer grün-roten Koalition in einem industriellen Kernland der Republik, erobern absolute Mehrheiten bei Bürgermeisterwahlen und bilden mit klarem Abstand die dritte Kraft in der deutschen Politik. In diesem Herbst unternehmen sie einen neuen Anlauf in die Bundesregierung, verglichen mit 1998 aus einer deutlich gestärkten Position. Rückblickend betrachtet erscheint das fast wie ein Märchen.

Dennoch ist die grüne Erfolgsgeschichte in Deutschland kein Mysterium. Über die letzten 30 Jahre haben die Grünen mehr Talente als alle anderen Parteien angezogen. Im Vergleich zur FDP wirkt ihr politisches Personal heute wie ein Ausbund an Seriosität und Temperament zugleich. Dabei ist die bundespolitische Elite der Grünen nur die Spitze des Eisbergs. Die Basis grüner Erfolge ist die Verankerung der Partei in der Kommunalpolitik. In vielen Städten bewegen sich die Grünen heute auf Augenhöhe mit SPD und CDU. Bundesweit haben sie das Kunststück fertiggebracht, im Establishment anzukommen, ohne zum Establishment gerechnet zu werden. Auch wo sie regieren, gehen sie nicht ganz im Status quo auf. Zumindest wird das von ihnen erwartet. Insoweit wirkt der Anspruch einer alternativen Politik immer noch fort, auch wenn der radikale Gestus der Gründerjahre durch einen zunehmend bürgerlichen Habitus abgelöst wurde. 

Es greift allerdings zu kurz, den Erfolg der Grünen nur bei ihnen selbst zu suchen. Entscheidend war etwas anderes: Sie haben mit ihren Kernthemen den Nerv der Zeit getroffen. Es gab von Anfang an eine Korrespondenz zwischen grünen Botschaften und dem berühmten « Zeitgeist ». Insofern sind die Grünen politischer Ausdruck tiefer liegender Trends in der Gesellschaft. Das gilt gerade für Kernthemen grüner Politik: Ökologie, Bürgerbeteiligung, Gleichberechtigung der Geschlechter, Pluralismus der Lebensstile. Die Grünen waren Vorreiter für einen gesellschaftlichen Wertewandel, während sich die Gesellschaft zugleich auf die Grünen zubewegt hat. Ohne Rückenwind aus der Gesellschaft heraus hätten sie ihre Themen nicht so erfolgreich auf die politische Tagesordnung setzen können.

Dass dies keine bruchlose Erfolgsgeschichte ist, wird am Beispiel der Friedenspolitik deutlich. Gewaltfreiheit und einseitige Abrüstung waren Markenzeichen der grünen Gründerjahre. Inzwischen hat die Partei schwere Verwerfungen in der Auseinandersetzung um militärische Interventionen in humanitärer Absicht hinter sich. Die kontroversen Debatten um den Bundeswehreinsatz in Bosnien, den Kosovo-Krieg und die Afghanistan-Mission haben die Grünen bekanntlich an den Rand einer Spaltung geführt. Markovits merkt zu Recht an, dass der ausgeprägte Widerwille der Deutschen gegen Militärinterventionen nicht nur Ausfluss reiner Friedensliebe ist. 

Es gibt auch eine durchaus egoistische « Ohne uns! »- Haltung im Gewand moralischer Überlegenheit, mit der die Kinder und Enkel der Wehrmachtsgeneration auf die USA und Israel herabblicken. So wie es keine moralisch unbefleckte Beteiligung an militärischen Interventionen gibt, kann auch die Nichtbeteiligung an internationalen Militärmissionen in unterlassene Hilfeleistung umschlagen. Dass der latente Konflikt zwischen « Nie wieder Krieg » und « Nie wieder Völkermord » nicht einseitig aufgelöst werden kann, gehört zu den schwierigen Lernprozessen der Grünen.

Schaut man auf die 30 Jahre seit dem Einzug jener bunten Gruppe in den deutschen Bundestag zurück, wird ein doppelter Veränderungsprozess sichtbar: Die Grünen haben die Gesellschaft verändert, und die Teilnahme am politischen Leben der Republik hat die Grünen verändert. Sie gehören heute dazu und sind immer noch anders als die anderen; sie stehen für weitreichende Veränderungen und zugleich für hinreichende Bodenhaftung, um die Gesellschaft nicht in Abenteuer ohne Netz und doppelten Boden zu stürzen.

Der eigentliche Maßstab für den Erfolg der Grünen sind die politischen Projekte, die sie auf den Weg gebracht haben, vom Ausstieg aus der Atomenergie bis zum Zuwanderungsgesetz. Schaut man auf 30 Jahre im Bundestag zurück, bleiben vor allem zwei große Erfolgsgeschichten: die Energie- und Umweltpolitik und die Veränderung der politischen Kultur. Auf diesem Feld haben die Grünen fundamentale Veränderungen bewirkt: Die neue, selbstbewusste Rolle von Frauen gehört ebenso dazu wie die Gleichstellung schwuler und lesbischer Paare, die Präsenz von Migranten in der Politik, das neue Staatsbürgerschaftsrecht und die vielfältigen Formen der Bürgerbeteiligung, die inzwischen zum Alltag gehören. Bei all diesen Veränderungen waren die Grünen Sprachrohr und Verstärker eines Wertewandels, der die anderen Parteien häufig noch älter aussehen lässt, als sie es ohnehin sind.

Es scheint ganz so, als sei der Aufstieg der Grünen noch lange nicht zu Ende. Ihr Potenzial geht noch deutlich über die 15-Prozent-Marke hinaus, wenn die Mischung aus Personen und Programm stimmt. Die größte Gefahr für die Partei wäre, wenn ihr Erfolg sie zu Selbstzufriedenheit und Überheblichkeit verführte. Von den Grünen wird eine reflexive, dialogische Politik erwartet. Dröhnende Hau-drauf-Rhetorik mag die Parteibasis begeistern, das aufgeklärte Publikum fühlt sich abgestoßen. Wir brauchen beides: Mut zu weitreichenden Veränderungen und das Vertrauen der Bevölkerung, dass sie mit Augenmaß und Verantwortung betrieben werden. Großprojekte wie die Energiewende, für die es keine fix und fertige Blaupause gibt, müssen als gesellschaftlicher Lernprozess angelegt werden. Die « Agenda 2010 » der letzten rot-grünen Regierungskoalition ist auch deshalb in Verruf geraten, weil sie der Gesellschaft als Reformprojekt « von oben » aufgestülpt wurde. Daraus muss man nicht den Schluss ziehen, dass Politik sich nach der Beliebtheitsskala von Meinungsumfragen richten muss. Aber das Prinzip einer dialogischen Politik sollte über Baden-Württemberg hinaus ein grünes Markenzeichen werden.

Mit Blick auf die kommenden Jahre stellen sich den Grünen vor allem drei große Herausforderungen: Zum einen gilt es, die ökologische Transformation der Industriegesellschaft voranzutreiben. Die Energiewende ist das Schlüsselprojekt auf diesem Weg. Sie macht Deutschland zum Vorreiter der grünen industriellen Revolution. Wir müssen alles daransetzen, damit sie ein Erfolgsprojekt bleibt. Dafür braucht es eine breite gesellschaftliche Allianz und die Bündelung aller Kräfte. Die zweite Aufgabe liegt darin, der sozialen Spaltung der Gesellschaft entgegenzuwirken und die gesellschaftliche Teilhabe aller zu ermöglichen. Dabei wird sich zeigen, ob die Grünen eine eigenständige Konzeption verfolgen, die sich jenseits bloßer Umverteilungspolitik und einer permanenten Ausweitung staatlicher Transferleistungen bewegt. 

Die Elemente einer grünen Teilhabepolitik müssen nicht erst erfunden werden. Sie liegen vor allem im Vorrang für öffentliche Güter: vom Ausbau der öffentlichen Kinderbetreuung über Ganztagsschulen, gut ausgestattete Hochschulen, einem lebendigen Kulturangebot bis zu einem attraktiven öffentlichen Verkehrssystem. Nicht der allumfassende Versorgungsstaat, sondern die soziale Bürgergesellschaft, die kollektive Solidarität mit bürgerschaftlichem Engagement und Selbstverantwortung kombiniert, sollte das Leitbild grüner Teilhabepolitik sein. 

Schließlich geht es darum, eine Europapolitik zu entwickeln, die dem perspektivlosen Lavieren der amtierenden Bundesregierung eine ebenso ambitionierte wie realistische Alternative entgegenstellt. « Mehr Europa » sollte nicht als fortschreitende Zentralisierung politischer Macht buchstabiert werden. Notwendig ist vielmehr eine Stärkung beider Elemente, auf denen die EU aufbaut: eine verantwortliche, europafreundliche Politik der Mitgliedstaaten sowie eine größere Rolle der gemeinschaftlichen Institutionen, insbesondere des Europaparlaments. Die aktuelle Krise der EU ist weniger eine Krise der Institutionen als der Politik. Sie wird nicht durch eine fruchtlose Strukturdebatte überwunden, sondern durch kraftvolle politische Initiativen für einen « European Green New Deal » und für eine aktive europäische Regionalpolitik gegenüber unseren Nachbarn im Osten und Süden.