Lebt man in Deutschland, kann man leicht einen verzerrten Eindruck davon gewinnen, was der Rest von Europa über das Jahrhundertprojekt Energiewende, Deutschlands Wechsel zur sauberen Energie, denkt. So haben sich alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union verpflichtet, den Ausstoß von Kohlendioxid zu reduzieren und erneuerbare Energien in ihren Energiemix einzuführen. Und Deutschland geht dabei voran: Europas größte Volkswirtschaft und globales Industriezentrum macht mit einer Geschwindigkeit Fortschritte, die selbst waschechte Grüne überrascht. Man könnte meinen, jeder beobachtet den teutonischen Energiepionier mit Ehrfurcht und Staunen, ständig bereit, auf den fahrenden Zug zu springen.
Nun, falsch gedacht. Sehr schnell wurde auf der zweitägigen Konferenz der Heinrich-Böll-Stiftung „Energiewende europäisch denken!" in Berlin vom 9. bis 10. April klar, dass Polen, Frankreich, Tschechien und Großbritannien Skepsis und gar tiefe Ressentiments gegenüber der deutschen Energiepolitik hegen. Tatsächlich ist der Großteil der EU-27 nicht auf der gleichen Seite wie Deutschland und seine Verbündeten, darunter Österreich und die skandinavischen Staaten. Dies hat enorme Auswirkungen auf die deutsche Politik, was die Deutschen beginnen zu realisieren und sich in ihrer Arbeitsweise darauf einzustellen.
Zur Konferenz waren Energie-Fachleute – sowohl Unterstützer/innen wie auch Kritiker der Energiewende – aus ganz Europa geladen. Letztere gaben in der Debatte ihre Zurückhaltung schnell auf und nahmen kein Blatt vor den Mund.
Zunächst aber stellte Rainer Baake, Direktor des deutschen Forschungsinstituts Agora Energiewende, seine Einschätzung zum Verlauf und Stand der Energiewende vor.
Baake kann selbst auf einen interessanten Lebensweg zurückblicken und hat Aussicht auf eine Schlüsselposition in einer rot-grünen Regierung im unwahrscheinlichen Fall, dass die Wahlen im Herbst eine linke Regierung ins Amt bringen. Baake war Staatssekretär im hessischen Umweltministerium in den 1990er Jahren und erneut auf der Bundesebene in der rot-grünen Regierung von 1998 bis 2005. Hinter den Kulissen war er unter den Architekten der Energiewende und ist nun verantwortlich für eine junge, innovative Denkfabrik, die den Prozess der Energiewende auf höchstem Niveau analysiert. Zu Beginn der Konferenz fasste Baake die Errungenschaften der Energiewende kurz zusammen und ging dann zu den Fragen über, die Deutschland jetzt beantworten muss, da das Projekt flügge wird: unter anderem ein Management der Nachfrage, die Schaffung von Kapazitätsmärkten, die Umgestaltung des Energiemarktes, die Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes und den Netzausbau.
Aber keiner von Baakes Mitdiskutanten – Cécile Maisonneuve, Direktorin des Zentrums für Energie am Institut Français des Relations Internationales, und Olaf Osica, Direktor des Warschauer Zentrums für Osteuropawissenschaften – teilten seine Begeisterung für Deutschlands Energiereform. In Frankreich, argumentierte Maisonneuve, gibt es weiterhin einen stabilen Konsens über die Notwendigkeit der Kernkraft, selbst wenn die Regierung Hollande versprochen hat, dessen Dominanz zu reduzieren. Es gibt keine nationale Debatte über Energiefragen und das Wahlversprechen der Regierung, Frankreichs Energiemix zu ändern, wurde bisher nicht eingelöst. Die Menschen in Frankreich sind überzeugt, dass die Kernenergie der Weg ist, um die von der EU gesteckten Ziele zur Reduzierung der Kohlendioxid-Emissionen zu erreichen und die Kosten der fossilen Energieträger zu begrenzen. Gleichzeitig betrachten sie die deutsche Energiewende mit Neugier und Interesse. Französische Politikerinnen und Politiker aber, so Maisonneuve, ärgern sich über Deutschlands Alleingang. „Wir müssen im Rahmen der EU zusammenarbeiten", sagte sie: „Wenn es weitergeht wie bisher, wird es ein totales Durcheinander in Europa, das Ihre und unsere Energiewende gefährden kann.“
Dies war ein noch mildes Urteil im Vergleich zu Osicas Sicht aus Polen, die die Tschechische Republik und die meisten anderen Ostmitteleuropäer scheinbar teilen. Die Polen verstehen Deutschlands Energiepolitik als „sehr ideologisch“ und „moralisierend“, sagte er, und als Überreaktion auf die Katastrophe von Fukushima im Frühjahr 2011. Damals sei Merkel in Panik geraten und von ihrem Weg abgewichen. Welche Folgen dies für Deutschland und seine Nachbarn haben würde, sei von Deutschland noch nicht durchdacht worden. Osica verwies auf die Kosten der „Ringflüsse“ (loop flows) erneuerbarer Energien aus Deutschland, die sowohl das polnische als auch tschechische Netz an sonnigen und windigen Tagen überfluten. Dieses Phänomen – Deutschlands Strom fließt durch beide Länder hindurch weiter in den Süden der Bundesrepublik – bringe ihre Netze an den Rand des Zusammenbruchs und koste Polen 50 Millionen Euro pro Jahr. „Das ist unser Beitrag zur deutschen Energiewende“, sagte er sarkastisch. Polen teilt Deutschlands Angst vor der Atomkraft nicht – sie ist sicher und sauber, sagte Osica – und Polen erwägt den Bau eigener Reaktoren. (Derzeit hat es keine.) Es geht nicht darum, dass Polen nicht „grün“ ist, sagte Osica, aber Polen gehe seinen eigenen Weg. Zu einem späteren Zeitpunkt würde es vielleicht sogar einiges von Deutschland übernehmen, sobald die Spreu vom Weizen getrennt sei.
Im Verlauf der Konferenz kam auch die Skepsis und Unzufriedenheit in weiteren Ländern zum Ausdruck. Tenor war, dass das traumatisierte Deutschland sich allein auf den Weg gemacht habe, ohne Rücksprache zu halten. Es sei nun mit den desaströsen Konsequenzen des Wechsels hin zu einem angebotsorientierten Energiemix, der auf schwankende Energiequellen wie Wind und Photovoltaik basiert, konfrontiert. Und trotz dieser enormen Probleme – wie Versorgungssicherheit und steigende Preise – dränge Deutschland das restliche Europa seinem Kurs zu folgen. Dieses sehe wie Deutschland zwar den Ernst der globalen Erwärmung, aber es glaube, dass es andere Möglichkeiten gibt, dieses Problem anzugehen. Dabei spielt die Atomkraft eine Schlüsselrolle um die fossile Energie zu ersetzen. Quotenregelungen und Zertifikatehandel sind, wie Deutschlands teures System über den Einspeisetarif, wertvoll und vielleicht sogar effektiver.
Obwohl es viele Reaktionen von deutscher Seite auf diese Anschuldigungen gab (so wurde betont, dass die Energiewende bereits spätestens im Jahr 2000 begonnen hatte), waren die Deutschen in der Defensive. Diese Anti-Energiewendestimmung war ein Ausdruck dessen, was verschiedene Diskutierende im Laufe der Konferenz als eine europaweite Gegenreaktion auf einen pro-aktiven, deutschen Kurs bezeichneten. Hatte es davor Zweifel an einer derartigen europäischen Entwicklung gegeben, räumte die Konferenz mit diesen gründlich auf.
Ein Großteil der Diskussion, auf dem Podium und in den Pausen, drehte sich um die angemessene Rolle der EU bei der Koordinierung und Steuerung der europäischen Energiepolitik. Dabei ist nach dem Vertrag von Lissabon die Energiepolitik selbstverständlich Sache der Mitgliedstaaten. Aber die EU hat ein Mitspracherecht über erneuerbare Energien, Klimaschutz, den Binnenmarkt für Energie, Energieeffizienz und andere Themen, die direkten Einfluss auf die nationale Energiepolitik haben. Es gibt von der EU inspirierte nationale Aktionspläne, ein Energie-Fahrplan für 2050, 20-20-20 Ziele für 2020, ein EU-Emissionshandelssystem (EU ETS) und andere Maßnahmen. Diese europäischen Initiativen und nationalen Politiken haben tatsächlich zu einem Anstieg der erneuerbaren Energien in der gesamten EU-27 geführt, was hier erwähnt werden soll, um das Bild der europäischen Lage nicht zu pessimistisch zu zeichnen.
Aber wie wird es weiter gehen? Interessanterweise waren es die Skeptiker, die sich für mehr EU-Koordination aussprachen, um in Deutschland mitreden zu können. Auf deutscher Seite betrachtete man eine gemeinsame EU-Politik mit Vorsicht, da sie die Energiewende verwässern könnte. Baake beispielsweise sagte, dass es, solange es derart divergente Energiepolitiken in der EU gibt und keine Chance besteht, einen gemeinsamen Standpunkt zu erreichen, das Beste für Deutschland sei, bi- oder trilaterale Abkommen mit seinen Nachbarstaaten wie Polen und der Tschechischen Republik zu verfolgen. Diese könnten Probleme wie das der Ringflüsse adressieren.
Deutschlands Vertreter aus dem Umweltministerium schlug einen ähnlichen Ton an. Er sagte explizit, dass Deutschland die Einspeisevergütung oder den Ausbau der erneuerbaren Energien nicht für ehrgeizige, gemeinsame Politiken auf EU-Ebene gefährden will. Im Moment, sagte er, würde Deutschland dadurch nur verlieren. Besser sei es, sich mit gleichgesinnten Mitgliedstaaten zusammenzutun und dem Rest zu zeigen, dass die Erneuerbaren der richtige Weg seien. Mit der Zeit würden sich die anderen anschließen.
Wozu jeder einigermaßen zustimmen konnte – der kleinste gemeinsame Nenner – war das langfristige Rahmenkonzept 2030 „No Regrets“ („Keine Reue“). Dies soll den jetzigen Rahmen ersetzen, der im Jahr 2020 ausläuft. Die No Regrets Option fordert eine intelligente, flexible Infrastruktur und eine Steigerung der Energieeffizienz zusätzlich zu einem wesentlich höheren Anteil an erneuerbaren Energien im EU-weiten Bruttoenergieverbrauch ab dem Jahr 2020. Unstimmigkeit gab es darüber, ob die Ziele für das Jahr 2030 verbindlich sein sollten. Auch wurde diskutiert, ob es Zielsetzungen für den Anteil an erneuerbaren Energien überhaupt geben sollte oder nur in Hinsicht auf die Reduzierung von CO2-Emmissionen, was jedes Land auf seine Weise erreichen kann. Auch äußerten einige die gerechtfertigte Kritik, dass Deutschland die Gesetzgebung zur Energieeffizienz auf der europäischen Ebene aufhält (dank Philipp Rösler und dem deutschen Wirtschaftsministerium) ebenso wie notwendige Verbesserungen des ETS, die von gleicher Seite untergraben werden.
Das letzte Panel (ein zweieinhalb-stündiger Marathon im deutschen Stil) mit dem Titel „100 Prozent Erneuerbare Energien in Europa: Sind wir auf einem guten Weg?“ zog das Fazit, dass obwohl die erneuerbaren Energien alle Argumente auf ihrer Seite haben – und einen Großteil der öffentlichen Meinung – ist Europa auf dem Weg zu einer Null-Kohlenstoff-Zukunft noch nicht weit gelangt. Es gibt keinen Konsens über die Atomenergie, obwohl diese viel zu teuer ist. Die Lobbys gegen die Erneuerbaren sind viel besser organisiert als die Kräfte dafür. Die deutsche Bundesregierung ist in sich gespalten. Kohle bleibt die wichtigste Energiequelle in Europa. Die Euro- und Finanzkrisen haben große Rückschläge verursacht und die notwendigen Verbesserungen der Infrastruktur werden Jahrzehnte dauern.
So gab es in den meisten Fragen wenig Übereinstimmung, aber alle Teilnehmenden aus dem europäischen Ausland, mit denen ich gesprochen habe, stimmten darin überein, dass sie das Niveau der Diskussion während der Konferenz als sehr hoch einschätzten. In keinem ihrer Länder gibt es – aus verschiedenen Gründen – einen ähnlich intensiven Diskurs über Energiefragen. Aus diesem Grund hatten sie keine Reue zu kommen, aber die Absicht, zurückzukehren.
Der Autor Paul Hockenos ist ein US-amerikanischer Journalist mit Wohnsitz in Berlin.