Differenzieren bis zur Kenntlichkeit - Vom schwierigen Umgang mit deutscher Diktaturvergangenheit

16. Januar 1990: Bürger stürmen die Stasi-Zentrale in Berlin. Foto: Thomas Uhlemann, Lizenz: CC BY-SA 3.0, Original: Wikimedia Commons.

6. Juni 2013
Wolfgang Templin
Die friedliche Revolution von 1989, die Arbeit der Runden Tische und schließlich die Ergebnisse der ersten freien Wahlen besiegelten das schnelle Ende der DDR. Offen blieb die Frage nach dem Umgang mit ihrem diktatorischen Erbe. Hier hatte der größte Teil der bundesdeutschen Eliten – und sie stellten die entscheidende Kraft im Vereinigungsprozess - die Lektion aus dem Umgang mit der Verbrechenslast des deutschen Nationalsozialismus plötzlich scheinbar wieder vergessen. Vor und nach 1968 hatte sich mühsam die Erfahrung durchgesetzt, dass es nicht half, die Vergangenheit zu beschweigen und dass man nicht nur „Hitler und die Seinen“ für die Massenmorde und den mit dem Holocaust verbundenen Zivilisationsbruch verantwortlich machen konnte. Es galt die Verankerung der nazistischen Verbrechenspotentiale in zahlreichen Teilen der deutschen Gesellschaft offenzulegen, Verantwortung und Mitverantwortung bis weit nach unten nachzugehen, zwischen Tätern, Helfershelfern und Mitläufern zu unterscheiden und sich der häufig schmerzhaften Geschichte der eigenen Familie zu stellen. Nur so konnte die Bundesrepublik zu einer wirklichen Demokratie werden und die Kräfte einer kritischen zivilen Gesellschaft freisetzen. Hier lag ihr wertvollstes Kapital und ihre eigentliche Überlegenheit gegenüber der DDR, nicht nur im verlockenden Wohlstand und der starken D-Mark.

Für den Umgang mit der kommunistischen Diktatur, einer Ideologie und Herrschaftspraxis, welche den kleineren Teil Deutschlands nach der Kriegskatastrophe über vier Jahrzehnte prägte, sollte das alles plötzlich nicht mehr gelten. Mitzuständigkeit oder gar Mitverantwortung für den Umgang mit dem Erbe des DDR-Kommunismus anzunehmen - bundesdeutsche Politiker, Intellektuelle oder in den neuen Bundesländern eingesetzte Beamte dachten nicht im Traum daran. Den Blick nach vorn richten und so schnell wie möglich blühende Landschaften errichten, darum ging es. Schließlich hatte das bundesdeutsche Wirtschaftswunder ja auch so funktioniert. Es blieb den DDR-Bürgerrechtlern, kritischen Bürgern aus den neuen Bundesländern und einer Minderheit von Unterstützern aus dem Westen vorbehalten, sich dieser Verdrängung und Verweigerung erfolgreich zu widersetzen. Mit einem letzten Beschluss der freigewählten Volkskammer, mit Besetzungsstreiks und Demonstrationen gelang es, die Schließung der Stasi-Akten zu verhindern und die Einrichtung einer Behörde zur rechtsstaatlichen Offenlegung und Verwaltung dieser Aktenbestände durchzusetzen. Akten, die nicht primär der Verfolgung von Tätern dienten, sondern zahlreichen Opfern einen Teil ihrer Würde zurückgaben und die wissenschaftliche Forschung und den selbstverantwortlichen Umgang mit der eigenen belasteten Vergangenheit ermöglichten.

Es galt den Kampf um nahezu jede heute existierende Gedenk- und Erinnerungsstätte zu führen, ob den Sitz des Mielke-Imperiums in der Ostberliner Normannenstraße, das zentrale Untersuchungsgefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in Hohenschönhausen oder die spätere Mauergedenkstätte in der BernauerStraße. Überall gab es Bürokraten und Ignoranten, die aus Blindheit oder eigenem Verdrängungsinteresse dagegen waren, sich der Berliner Mauer zu erinnern, oder der Zellenschicksale in den Haftanstalten, nicht nur in Ostberlin. Oft waren es die gleichen Personen und Kräfte, die auch dafür eintraten, endlich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit abzuschließen und schon gar nicht den Vergleich zwischen NS-Diktatur und kommunistischer Diktatur zu führen.

Bereits in den neunziger Jahren standen sich mehrere Tendenzen beim Blick auf die DDR gegenüber, die auch ihre Vorläufer im Umgang mit der NS-Vergangenheit haben. So gab und gibt es den Blick der Dämonisierung, welche die Geschichte der DDR, auf äußere Gewalt und innere Unterdrückung, auf Stacheldraht und Schießbefehl zu reduzieren sucht.

All diese Elemente existieren und hatten entscheidendes Gewicht, aber sie können die Verführungskraft der kommunistischen Ideologie, die Bindungswirkung des gesellschaftlichen Großexperimentes, das die DDR im Kern war, nicht wirklich erklären – genauso wenig wie das Fortwirken sozialer Prägekräfte weit über 1989/90 hinaus und schließlich das Fortdauern und Erstarken einer authentischen DDR-Nostalgie.

Auf der anderen Seite gibt es den verharmlosenden Blick, der vom „ guten antifaschistisch-demokratischen Beginn“ schwärmt, der dann leider in den Eisesgraden des Kalten Krieges zum Stalinismus missriet oder vom friedlichen Einschlafen der DDR spricht, die in ihren letzten Phasen schon keine Diktatur mehr gewesen sei. Hier werden die einfachsten historischen Wahrheiten, vom Machtwillen der deutschen Kommunisten unterschlagen, die sich als Stalins beste Verbündete sahen und von Beginn an jeden Widerstand blutig brachen. Hier werden die Bereitschaft der DDR-Führung, ihre Macht mit allen Mitteln zu verteidigen, und der repressive Charakter des Systems bis zum kläglichen Ende unterschätzt. Nicht nur Egon Krenz neigte der chinesischen Lösung zu.

Auf der positiven Seite stehen immer zahlreichere Arbeiten von Historikern und Zeitzeugen, stehen biographische Erinnerungen und Dokumentationen, die sich dem Prinzip: „Differenzieren bis zur Kenntlichkeit“ stellen. Es sind die Arbeiten der ostdeutschen Historiker Stefan Wolle und Ilko-Sascha Kowalczuk, die den Zusammenhang von Alltagsleben und Diktaturcharakter der DDR beleuchten, die mentalen und gesellschaftlichen Voraussetzungen des friedlichen Umbruchs von 1989 beschreiben und die Herrschaftsseite der DDR entdämonisieren, ohne dass diese Praktiken dadurch an Erbärmlichkeit und Scheußlichkeit verlieren.

Historische Würfe, Detailarbeit, gesellschaftliche Initiativen und internationale Vernetzung kommen hier zusammen und zeigen die Größe einer Aufgabe, die mit jedem weiteren Jubiläum deutlicher sichtbar wird.

Die Bundeszentrale oder die Landeszentralen für politische Bildung, die Stiftung Aufarbeitung und zahlreiche gesellschaftliche Initiativen tragen mit Projekten, Veranstaltungen und Publikationen dazu bei, dass die Frage nach den diktatorischen, den totalitären Potentialen im 20.Jahrhundert und der Rolle Deutschlands dabei, immer intensiver gestellt wird. Vor allem wird es als internationale Aufgabe wahrgenommen, welche mindestens die europäischen Herrschaftsräume von Nazismus und Kommunismus umfasst. Gleichermaßen international gestalten sich auch die Ansätze, antidiktatorischen Widerstand und Opposition in den letzten Jahrzehnten des 20.Jahrhunderts, bezogen auf den sowjetischen Herrschaftsraum, zu dokumentieren.

Das im nächsten Jahr neu eröffnete Europäische Zentrum Solidarnosc (ECS) in Gdansk ist ein hervorragendes Beispiel dafür. So wie die polnische Solidarnosc in den gesamten Ostblock ausstrahlte und zum entscheidenden Impuls der friedlichen Überwindung der kommunistischen Herrschaft in Mittelosteuropa wurde, kann die dort geführte heutige Diskussion über den Zustand und die Verantwortung unserer Demokratie, Vergangenheit und Zukunft verbinden.