Rula Asad ist Journalistin, seit 2011 lebt sie im Heinrich-Böll-Haus Langenbroich. Sie schreibt Geschichten von und über die syrische Gesellschaft und beteiligt sich an Aktionen, um die Menschen in Deutschland über die aktuelle Lage in Syrien zu informieren.
Wie sind Sie auf die Stiftung aufmerksam geworden?
Von der Heinrich-Böll-Stiftung erfuhr ich im November 2011, als ich in Freiburg war. Ich hielt mich mit einem dreimonatigen Fortbildungsstipendium in Deutschland auf, das bald auslaufen würde, und stand vor der Alternative, entweder nach Syrien zurückzukehren oder in Deutschland zu bleiben. Da rieten mir deutsche Freunde, die der Partei Die Grünen angehören, mit der Heinrich-Böll-Stiftung Kontakt aufzunehmen, damit sie mir helfen könne hierzubleiben.
Warum haben Sie Syrien verlassen?
Wegen eines Fortbildungsstipendiums vom deutschen Auswärtigen Amt im Bereich der Frauenrechte.
Wie schwierig war der Weg von Syrien nach Deutschland?
Ich hatte keine Schwierigkeiten.
Wie ist es Ihnen möglich, Kontakt nach Syrien zu halten? Was wird Ihnen berichtet?
Über das Internet, insbesondere die sozialen Medien wie Facebook und Skype, und auch übers Telefon.
Die Informationen, die ich erhalte, handeln von Tod, Verhaftungen, Entführungen, Zerstörung, schlechten Lebensbedingungen und großer Angst, die das öffentliche Klima beherrscht. Aber daneben gibt es auch Nachrichten über laufende Aktivitäten für eine Verbesserung der bestehenden Lage. Hinzu kommen Meldungen über zivilgesellschaftliche Organisationen, die ins Leben gerufen werden und unablässig darauf hinarbeiten, dass sich die Situation in Syrien zum Besseren wendet.
Was können Sie von hier aus bewirken?
Ich kann meine journalistische Arbeit fortsetzen, indem ich Geschichten von und aus der syrischen Gesellschaft aufschreibe. Und ich kann mich an jedweder Aktivität beteiligen, die darauf abzielt, die deutsche Gesellschaft über das, was in Syrien passiert, zu informieren, besonders im Hinblick auf Frauenfragen.
Wo waren Sie im März 2011 und wie haben Sie den Beginn der Revolution erlebt?
Ich war in Damaskus. Meine Freunde und ich versuchten mehrere Male, Demonstrationen zu organisieren, aber wir mussten unsere Pläne immer wieder aufgeben, weil der Geheimdienst davon erfahren und sich am Ort der Demonstration eingefunden hatte. Ich selbst unternahm einige Aufklärungskampagnen, indem ich da, wo ich mich aufhielt, das heißt in Damaskus, Flugblätter verteilte und Mails versandte, in denen ich das Geschehen in Städten wie Daraa, Banyas und Homs kommentierte.
Inwiefern haben die fast zwei Jahre andauernden Proteste Sie persönlich verändert?
Ich vertraue nun auf meine Fähigkeit, ohne Angst meine Meinung zu sagen. Und ich vertraue auf die Fähigkeit zur Veränderung.
Haben Sie vor, nach Syrien zurückzukehren?
Ja.
An welchem Projekt arbeiten Sie zurzeit in Langenbroich?
An einer Untersuchung, das heißt einem Bericht, über die sozialen und ökonomischen Rechte der Dürreflüchtlinge in Syrien. Außerdem arbeite ich daran, ein Netzwerk syrischer Journalistinnen zu gründen, um sie durch diese Vernetzung in die Lage zu versetzen, ihre Meinungen und Erfahrungen auszutauschen, ihre beruflichen Fähigkeiten durch Weiterbildung auszubauen und, vor allem, das Bewusstsein in den Medien für die Probleme und Rechte der Frauen zu fördern.
Zu den auffälligsten Merkmalen der syrischen Revolution gehört die starke und aktive Beteiligung der Frauen. Welche Rolle würden Sie den Frauen in der Transition zuschreiben?
Sie müssen an der politischen Arbeit teilhaben, sich noch stärker und mutiger einbringen und sich auch an der Formulierung der Verfassung und der Ausarbeitung der Gesetze beteiligen. Außerdem müssen die Frauen bei allen Verhandlungen präsent sein, wenn es zu solchen kommen sollte. Das Wichtigste aber ist ihre Rolle im Friedensprozess und bei der Aussöhnung innerhalb der Bevölkerung.
Nach fast 50 Jahren Alleinherrschaft einer Familie und einer Partei gibt es in Syrien keine Kultur des kritischen Austausches, der gesellschaftlichen Debatte und der privaten Initiativen – das politische Leben war nahezu tot. Wie groß ist der Einfluss von Schriftstellern und Kulturschaffenden auf die Demokratisierung Syriens?
Der Einfluss von Schriftstellern und Kulturschaffenden ist abhängig von ihrer Produktivität und ihrem Beharrungsvermögen dabei, eine neue Kultur in der syrischen Gesellschaft zu propagieren, wie die Kultur des kritischen Austauschs, der Toleranz und des Eintretens für die Rechte der Frau.
Unter welchen Bedingungen kann die Demokratiebewegung in Syrien siegen?
Zuallererst müssen die Waffenexporte an jedwede Partei in Syrien gestoppt werden. Dann müssen politische Kräfte vorhanden sein, die in der Lage sind, das Land nach demokratischen Grundsätzen zu lenken.
Das syrische Regime herrschte mit dem größtmöglichen politischen Autoritarismus, der sich auf die Geheimdienstapparate und die Kontrolle von Gedanken, Medien und Kommunikationsmitteln stützte. Woher nimmt der Protest in Syrien den langen Atem?
Aus dem Mut, dem Tod ins Gesicht zu blicken, weil das Schlimmste schon hinter uns liegt. In Anbetracht dessen wäre ein Rückzug nicht im Interesse des Volkes, denn es kann sich sicher sein, dass das Regime im Falle eines Rückzugs wieder jeden bestrafen wir, der gegen es aufgestanden ist. Deshalb hält das Volk an der Veränderung und an der Hoffnung fest, dass der Weg nicht mehr lang ist.
Welche Errungenschaften der neu erwachten Zivilgesellschaft sehen Sie als besonders hoch an?
Die Fähigkeit zu organisieren, zum Beispiel Demonstrationen oder andere zivile Aktivitäten. Auch die Tatsache, dass zahlreiche zivile Medien auf der Bildfläche erschienen sind, wie Zeitungen, Websites, Radio- und Fernsehkanäle sowie weitere mediale Projekte, gehört zu den großen Errungenschaften; besonders, weil diese daran arbeiten, Tag für Tag und Augenblick für Augenblick zu dokumentieren, was in Syrien passiert, und außerdem Themen ansprechen und Meinungen austauschen, wie sie zuvor nicht zu hören und nicht erlaubt waren.
70 Prozent der Syrer sind unter 30 Jahre alt, sie sind der Motor der Revolution. Sehen Sie einen Generationenkonflikt? Wie kann man die politische Teilhabe der jungen Träger/innen der Revolution sichern?
Ja, es gibt in allen Bereichen, dem politischen, zivilen, medialen usw., einen Generationenkonflikt. Meiner Meinung nach kann man den jungen Leuten die Teilhabe nur sichern, wenn man, angefangen von den Gemeinderäten bis hin zu Parlament und Regierung, Quoten für junge Frauen und Männer festlegt.
Der revolutionären syrischen Intellektuellen- und Kunstszene ist vorgeworfen worden, den immer stärkeren Konfessionalismus der Auseinandersetzungen zu ignorieren. Wie sehen Sie das?
Ich stimme diesem Vorwurf zu, denn die Intellektuellen und Künstler lebten in bekenntnisfernen Zirkeln mit ähnlichem Denken und Lebensstil, die sich durch Offenheit und Toleranz auszeichneten. Als die Revolution begann, nahmen die meisten von ihnen eine Beobachterrolle ein und mischten sich nicht unter die revolutionären Menschen auf der Straße. Sie blieben innerhalb ihrer Zirkel und behielten die Überzeugung oder den Glauben bei, die syrische Gesellschaft sei so wie das Umfeld, in dem sie selbst lebten. So entging ihnen der zunehmende Konfessionalismus in Syrien.
Eine der großen Chancen der syrischen Gesellschaft liegt in dem Potential der vielen Menschen, die aktiv geworden sind und sich am Aufbau eines demokratischen Staates beteiligen wollen. Wie kann eine internationale Unterstützung hier aussehen? Was kann eine Organisation wie die Heinrich-Böll-Stiftung tun?
Optimismus allein genügt nicht, um einen Staat aufzubauen. Niemandem kann verborgen bleiben, dass die Syrer, und insbesondere die Meinungsführer in der Gesellschaft, nicht ausreichend Erfahrung besitzen, um das Land auf politischer und gesellschaftlicher Ebene zu lenken. Deshalb sind sie in diesem Gebiet auf Schulungen und Erfahrungsaustausch angewiesen.
Was erwarten Sie für den Fall, dass Assad gestürzt wird?
Chaos und fortgesetzte Kämpfe zwischen den Parteien, die im Besitz von Waffen sind. Wie lang diese Phase dauern wird, hängt davon ab, wie lange noch Waffen an die kämpfenden Parteien in Syrien geschickt werden. Außerdem Rachefeldzüge auf konfessioneller Grundlage.
Aus dem Arabischen von Christine Battermann