Türkische Protestierende: Nicht Marx, nicht Atatürk und auch nicht Allah

Zelte der Demonstrierenden im Gezi-Park.
Foto: Jürgen Klute/signaturen, Quelle: Flickr, Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0

10. Juni 2013
Ulrike Dufner
Wenn wir heute einen vorsichtigen ersten analytischen Blick auf die Ereignisse in der Türkei wagen, dann scheint Folgendes sehr deutlich zum Vorschein zu treten: An den Protestaktionen der letzten Tage nehmen zu einem überwiegenden Teil junge Menschen teil, die mit den Angeboten der dominanten politischen Strömungen nichts anfangen können. Denn die türkischen Parteien und die ihnen nahestehenden zivilgesellschaftlichen Organisationen – egal, ob AKP, die CHP oder links-radikale Parteien - haben eines gemeinsam: sie alle haben straffe Strukturen mit Fahnen- und Führerkult und einem autoritär-elitären Verhältnis zur Gesellschaft. Genau dagegen gehen dieProtestierenden auf die Straßen. Dass sich der Protest auf einen Protest gegen Erdogan zuspitzt, liegt an dessen Rolle in der Regierung und seinem autoritären Auftreten. Aber auch jemand wie Kemal Kılıçdaroğlu, Vorsitzender der oppositionellen CHP oder Führer anderer Parteien genießen bei den Protestierenden keine Sympathie. Und das ist gut so.

Denn kaum eine politische Strömung in der Türkei hat es bisher geschafft, sich von ihrem autoritätsgläubigen Verständnis von Politik und Gesellschaft zu befreien. Dieser Autoritätsglauben durchzieht nicht nur die politischen Parteien und den Großteil der zivilgesellschaftlichen Organisationen, sondern auch die Medienlandschaft. Dergestalt, dass wir hier im Land ständig von sogenannten „Diskussionssendungen“ berieselt werden, in denen die „Meinungsführer“ uns sagen, was wir zu denken haben. Oder in Gestalt von Zeitungen, deren Kolumnist/innen uns das Denken abnehmen und uns den Weg weisen sollen.
Dass die Medien auch nach 10 Tagen Protest auf den Straßen noch immer nichts begriffen haben, zeigt das zum Gähnen langweilige aktuelle Programm der großen Fernsehkanäle wie NTV oder CNN Türk. Anstatt die Protestierenden zu Wort kommen zu lassen, werden nach wie vor nur Diskussionssendungen ausgestrahlt, in denen die Eltern oder Großeltern der Protestierenden ihre „weisen“ Interpretationen der Lage der Dinge abgeben.

Bescheidenheit gehört nicht wirklich zum Repertoire dieser "Experten" für gesellschaftspolitische Prozesse. Sonst wäre es jetzt für sie an der Zeit, sich das eigene Scheitern einzugestehen. Denn keine/r von ihnen hatte auch nur eine vage Vorstellung von den Wirkungen der jahrzehntelangen Politik der vergangenen Regierungen – und damit ist explizit nicht nur die AKP-Regierung gemeint. Die Proteste sollten eigentlich allen - auch den zivilgesellschaftlichen Organisationen - einen Denkzettel verpasst haben. Denn auch dort herrscht ein Führungs- und Personenkult, der an alten sozialistischen Traditionen ihrer Gründungsväter erinnert. Junge Generationen sind dort kaum vertreten. Diese Abwesenheit junger Menschen wurde bisher immer auf die „unpolitische“ Jugend geschoben, die sich nur für Mode, Konsum und neue Technologien interessiert, anstatt Konferenzen zu besuchen. Auf die Idee, sich selbst kritisch zu hinterfragen, kam bisher kaum jemand. Stattdessen sind insbesondere die linksradikalen Parteien mit ihren Interpretationen der Realität nicht weniger weit entfernt von den realen Geschehnissen sind als Ministerpräsident Erdogan. Das zeigt sich daran, dass einige derzeit davon träumen, eine kurz bevorstehende Revolution anzuführen.

Viele der Journalist/innen und Kommentator/innen treten stattdessen erneut in die Falle gewohnter Denkweisen: Wer auf der Demonstration einen Helm trägt, wird von ihnen als gewaltbereit eingestuft. Dass viele der Jugendlichen nach den ersten Polizeiausschreitungen schlicht Angst vor Gewalt haben, kommt ihnen gar nicht in den Sinn. Selbst die Wohlmeinenden versuchen schon wieder, die Protestierenden in „gut“ und „böse“ aufzuteilen: Man ist entzückt von ihrer Kreativität, hat aber wenig Verständnis für die sich auf den Straßen entladende Wut. Diese Wut wird aber gerade durch das ignorante und elitär-arrogante Auftreten der Intellektuellen täglich neu genährt.

Hoffnungsschimmer in der Parteienlandschaft

Wer die Protestierenden in Istanbul besucht, für den wird schnell sinnlich begreifbar, wie groß der gesellschaftliche Riss ist, der sich durch die türkische Gesellschaft zieht. Auf dem Taxim-Platz hat jede noch so kleine linke Splitterpartei riesengroße Fahnen gehisst, nur: Es fehlen die Unterstützer/innen. Die Protestierenden hingegen sind auf dem direkt angrenzenden Gezi-Park zu finden. Sie haben sich dort eine eigene Bibliothek, einen Bio-Garten und vieles mehr aufgebaut und übernachten in ihren Zelten. Frauen- und LGBTI-Gruppen diskutieren gemeinsam mit den anderen Protestierenden darüber, welche Slogans beispielweise aufgrund von Sexismus besser nicht verwendet werden oder gar von den Häuserwänden entfernt werden sollten.

Zwei parteipolitische Strömungen geben derweil Anlass zur Hoffnung, die Spaltung überbrücken zu können: die pro-kurdische BDP und die „Grünen/linke Zukunftspartei“. Letztere verzichtet darauf, die Protestbewegung vereinnahmen zu wollen. Sie ist vielmehr Teil dieser Bewegung – im Gegensatz zu den meisten anderen Parteien stellen ihre Mitglieder einen großen Teil der Protestierenden. Die pro-kurdische BDP ist in einer schwierigen Position, da für sie der gerade begonnene Verhandlungsprozess zwischen AKP und PKK von herausragender Bedeutung ist. Dennoch hat sie auf ihrem Kongress für Demokratie und Frieden, der rund zehn Tage vor Beginn der Proteste in Ankara durchgeführt wurde, ihre Offenheit für die Belange ganz unterschiedlicher Kreise der Gesellschaft bewiesen. Der Titel der Konferenz „Demokratie und Frieden“ und die Durchführung der Konferenz waren in dieser Hinsicht überzeugend: In drei Arbeitsgruppen mit jeweils mehr als hundert Teilnehmenden konnte nicht nur jede/r zu Wort kommen. Die sehr unterschiedlichen Forderungen wurden alle auch in den Abschlussbericht der Arbeitsgruppen aufgenommen.

Will eine Partei an Wahlen teilnehmen können, muss sie allerdings in der Hälfte aller Provinzen – also insgesamt 41 - organisiert sein. Diese unglaublich große Hürde macht es insbesondere der grün-linken Zukunftspartei schwer, zu mehr öffentlicher Aufmerksamkeit zu kommen. Die BDP wiederum wird als reine pro-kurdische Partei wahrgenommen und kann insofern nur schwer in nicht-kurdischen Kreisen Fuß fassen. Ebenso gilt sie als politischer Arm der PKK und trifft allein deshalb schon auf Vorbehalte in den nicht-kurdischen Gebieten.

Trotz alledem: Auf lange Sicht dürften diese beiden Strömungen politisch die gegenwärtigen autoritätsfixierten Kräfte an Bedeutung überholen.

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Ulrike Dufner ist Leiterin unseres Büros in Istanbul.