Ein Jahr lang wurde Rosa Yassin Hassan vom syrischen Geheimdienst verfolgt. Doch erst als sie die Einladung des Heinrich-Böll-Hauses in Langenbroich bekam, entschied sich sich ihr Land zu verlassen. Zur Zeit arbeitet die Aktivistin und Autorin an einem Roman über die Menschen im Herzen der syrischen Revolution.
Wie sind Sie auf die Stiftung aufmerksam geworden?
Ich erfuhr von der Heinrich-Böll-Stiftung, als ich die Einladung für den Aufenthalt im Heinrich-Böll-Haus mit einem Stipendium der Stiftung bekam. Zu dem Zeitpunkt war ich noch in Syrien.
Warum haben Sie Syrien verlassen?
Ich wollte Syrien nicht verlassen, und in den ersten anderthalb Jahren der syrischen Revolution blieb ich auch in Damaskus. Aber Ende des vergangenen Jahres 2012 wurde die Situation äußerst gefährlich. Seit ungefähr einem Jahr wurde ich vom Geheimdienst verfolgt, hielt mich versteckt und wechselte ständig die Wohnungen, in denen ich mit meinem Sohn wohnte. Als ich dann das Stipendium für das Heinrich-Böll-Haus erhielt, beschloss ich, nach Deutschland auszureisen.
Wie schwierig war der Weg von Syrien nach Deutschland?
Wirklich sehr schwierig. Zuerst einmal bestand für mich seit 2006 ein Ausreiseverbot. Wenn ich doch ausreisen wollte, musste ich bei der Dienststelle der Staatssicherheit, die mir die Ausreise verboten hatte, eine Genehmigung beantragen. Doch seit ich vom Geheimdienst verfolgt wurde, konnte ich dies nicht mehr tun, sonst hätte man mich verhaftet. Deshalb flohen mein Sohn und ich mit Hilfe einiger Personen, die Oppositionelle für eine Geldsumme nach Beirut schmuggeln. Aber auch der Weg nach Beirut war gefährlich, und es gab Auseinandersetzungen zwischen der Freien Armee und Kräften des syrischen Regimes, was uns eines Nachts zwang, Unterschlupf zu suchen. Wir konnten den Weg erst am folgenden Tag fortsetzen.
Wie ist es Ihnen möglich, Kontakt nach Syrien zu halten? Was wird Ihnen berichtet?
Ich halte den Kontakt mit verschiedenen Mitteln, entweder übers Internet, wenn es funktioniert, oder über Telefonverbindungen, wenn es sie gibt. Tatsächlich wird der direkte Kontakt von Tag zu Tag schwieriger. Ich habe eine Reihe von guten Freunden in Syrien, auch meine Schwester ist dort, und die Informationen, die ich erhalte, künden von nichts Gutem, falls das syrische Regime bestehen bleibt. Denn das Land ist heute offen für alle möglichen Interventionen aller möglichen Parteien, Kräfte und Staaten.
Was können Sie von hier aus bewirken?
Ich kann gewissermaßen fortsetzen, was ich in meinem Land getan habe, das heißt in erster Linie: schreiben. So bin ich sehr beschäftigt damit, meinen Roman über das Syrien von 2011 bis 2012 zu beenden. Außerdem halte ich Vorträge und beteilige mich an Diskussionen in verschiedenen deutschen Städten, über die Lage in Syrien allgemein sowie über mein Schreiben und meine beiden Romane, die ins Deutsche übersetzt worden sind. Zudem versuche ich, zu den syrischen Aktivisten und Aktivistinnen, die sich in Deutschland aufhalten, Kontakt zu halten.
Wo waren Sie im März 2011 und wie haben Sie den Beginn der Revolution erlebt?
Ich war in meiner Stadt Damaskus, wo ich seit 14 Jahren wohne. Aber meine politische Erfahrung als Aktivistin hat nicht erst mit der Revolution begonnen, sondern schon früher, deshalb bedeutete die Revolution für mich die Krönung alles Vorhergehenden. Von Anfang an versuchte ich, alle Erzählungen der Menschen im Herzen der Revolution, von allen Richtungen und allen Farben, zu dokumentieren, und viele davon habe ich in der letzten Zeit veröffentlicht. Jetzt profitiere ich davon bei dem Roman, den ich schreibe. Außerdem legte ich Wert darauf, mit den übrigen jungen Leuten im Herzen der Revolution zusammenzuarbeiten, und wir gründeten eine zivile Vereinigung, die wir „Vereinigung der säkularen Jugend in Syrien“ nannten – abgekürzt „Schams“(1). Wir versuchten, wie die gesamte revolutionäre Jugend in Syrien, uns an den Demonstrationen, Sit-ins und Hilfsaktionen zu beteiligen sowie Informationen und Medikamente weiterzuleiten.
Inwiefern haben die fast zwei Jahre andauernden Proteste Sie persönlich verändert?
Ich habe mich sehr, sehr stark verändert, ich glaube, alle Syrer wurden mit der Revolution neu geboren. Alles hatte seine positiven und seine negativen Seiten, es gab Hoffnungen und auch Kummer und Leid. Es ist für einen Menschen nicht leicht, eine Revolution gegen eine Diktatur zu durchleben, von der bezeugt ist, dass sie seit mehr als fünfzig Jahren eine blutige Diktatur ist und die über ein Land herrscht, dessen Bevölkerung über Jahrzehnte hinweg unterdrückt und zum Schweigen gebracht wurde. Den Traum von der Freiheit zu leben, geschieht nicht einfach durch Zauberei, denn danach wird man nicht mehr so sein wie zuvor. Außerdem habe ich erlebt, wie sich das Wesen der Beziehungen in der syrischen Gesellschaft geändert hat, wie sich die Aufmerksamkeit plötzlich auf die vernachlässigte Landbevölkerung richtete, die nun in den Mittelpunkt rückte, wie sich die Stellung der lange an den Rand gedrängten jungen Leute bei der Entscheidungsfindung änderte, so dass sie dazu übergehen konnten, die Zukunft zu formen. Ich lernte Orte in meinem Land kennen, die ich vorher nicht gekannt hatte, ich erkannte die tatsächliche Wesensart von Menschen, von denen ich mir nie vorgestellt hätte, dass sie so sein würden.
Diese Phase im Meer der Revolution, die für mich anderthalb Jahre dauerte, war wirklich sehr intensiv und so vollgestopft mit Ereignissen, Veränderungen und Personen, als hätte sie ganze zehn Jahre gedauert. Aber ich erlebte auch die Schmerzen von Verlust, Tod, Angst und Schrecken. Viele von meinen Freunden, Bekannten und von den jungen Leuten, mit denen ich arbeitete, wurden getötet, viele andere verhaftet, viele vertrieben. Ich sah die Leiden der Mütter, deren Söhne getötet wurden, auf allen Seiten und in allen Regionen, und ich sah auch die Leiden der Kinder, ihre Furcht und ihren Schrecken, ich sah die Zerstörung der Städte und Dörfer, die Zersplitterung der syrischen Gesellschaft, die Versuche, sie zu spalten und konfessionelle Bürgerkriege zwischen ihren Angehörigen zu entfachen. Es war in der Tat eine Zeit, die angefüllt war mit allen möglichen widersprüchlichen Empfindungen und menschlichen Erschütterungen.
Haben Sie vor, nach Syrien zurückzukehren?
Ich wünsche mir, dass ich bald zurückkehren kann.
An welchem Projekt arbeiten Sie zurzeit in Langenbroich?
Wie oben bereits erwähnt, bin ich dabei, einen Roman über mein Land Syrien fertigzustellen.
Zu den auffälligsten Merkmalen der syrischen Revolution gehört die starke und aktive Beteiligung der Frauen. Welche Rolle würden Sie den Frauen in der Transition zuschreiben?
Die syrische Frau blickt auf eine Geschichte effektiver und einflussreicher Aktivitäten in allen Bereichen zurück, politisch, kulturell, sozial und rechtlich, und ich glaube nicht, dass sie dies nach der Revolution aufgeben wird. Wie auch immer die künftige Regierungsform aussieht, die syrische Frau wird weiter für ihre Freiheit und ihre Rechte kämpfen. Außerdem ist Syrien generell ein offenes Land mit einem gemäßigten Islam, und dies wird sich auch kaum ändern, es ist ein Land mit allen Schattierungen von Religionen, Konfessionen, Ethnien und Kulturen. Ich habe keine Angst um die Frauen meines Landes, wenn sie wieder kämpfen müssen, werden sie kämpfen.
Nach fast 50 Jahren Alleinherrschaft einer Familie und einer Partei gibt es in Syrien keine Kultur des kritischen Austausches, der gesellschaftlichen Debatte und der privaten Initiativen – das politische Leben war nahezu tot. Wie groß ist der Einfluss von Schriftstellern und Kulturschaffenden auf die Demokratisierung Syriens?
Die syrische Revolution hat in vielen Bereichen deutlich gemacht, wie morsch das ganze System in Syrien geworden war, und Intellektuelle wie Schriftsteller stehen vor einer der größten Erschütterungen der Geschichte, nach der sie gezwungen sein werden, ihre Werkzeuge fallenzulassen und sich neue zu suchen. Die Kultur war immer ein essentieller Faktor der demokratischen Arbeit, vielleicht sogar wichtiger als die politische Arbeit, weil diese zeit- und augenblicksbezogen ist, während die Kultur eine auf vergangene Leistungen aufbauende Tätigkeit mit langfristiger Wirkung und Wirksamkeit ist. Das Schreiben beeinflusst das Unbewusste und Innere der Völker und nicht ihr Äußeres. Analyse, Kritik, Dialog und Respekt vor dem anderen sind die Grundvoraussetzungen künstlerischen Schaffens, und in der künftigen syrischen Gesellschaft müssen die Intellektuellen diese Werte tatsächlich und wirksam vorweisen können, sonst werden ihre Werke auf dem Müllplatz der Geschichte landen. Denn diese Werte sind die Grundlage dafür, dass ihr Schaffen jung und lebendig bleibt, wie hoch der Preis dafür auch ist.
Unter welchen Bedingungen kann die Demokratiebewegung in Syrien siegen?
Zuerst einmal muss das unterdrückerische Willkürregime verschwinden. Danach muss das tyrannische und alles infiltrierende Geheimdienstsystem zerschlagen werden. Dann muss man auf einen Bürger- und Rechtsstaat hinarbeiten, in dem alle Menschen gleich und ihre Freiheiten geschützt sind, genau wie die Besonderheiten jeder Konfession und Gruppe gewahrt und respektiert werden. Schließlich sollte man zu einem politisch-kulturellen Gesellschaftsvertrag kommen, der auf gegenseiter Achtung beruht, auf Freiheit, Würde, Gleichheit und Trennung von Religion und Politik. Denn die Religion ist für Gott und das Land für alle Angehörigen der Bevölkerung.
Das syrische Regime herrschte mit dem größtmöglichen politischen Autoritarismus, der sich auf die Geheimdienstapparate und die Kontrolle von Gedanken, Medien und Kommunikationsmitteln stützte. Woher nimmt der Protest in Syrien den langen Atem?
An genau diesem Autoritarismus, dessen die Syrer so überdrüssig geworden waren, entzündete sich die Revolution des syrischen Volkes. Es ist ähnlich wie bei dem Geist, der nach Jahren gewaltsamer Gefangenschaft aus der Flasche entwichen ist. Dieser Geist wird nicht wieder in sein Gefängnis zurückkehren. Die Tyrannei des syrischen Regimes ging letztendlich nach hinten los. Die immer schlimmer gewordene Erniedrigung, Unterdrückung, Knechtung und Marginalisierung des Menschen sind der Brennstoff dieser Revolution, so wie aller arabischen Revolutionen und vielleicht aller Revolutionen der Menschheitsgeschichte.
Welche Errungenschaften der neu erwachten Zivilgesellschaft sehen Sie als besonders hoch an?
Es ist noch zu früh, von sicheren Errungenschaften dieser Gesellschaft zu sprechen, denn sie ist in diesem Sinne noch unreif, selbst wenn sie schon seit dem Damaszener Frühling im Jahr 2000, bevor das Unterdrückerregime diesen hinmordete, versuchte, wirksam zu werden. Die syrische Zivilgesellschaft ist auf mehr Erfahrung, Arbeit und Organisation angewiesen. Nach der systematischen Vernichtung, die das syrische Regime die letzten beiden Jahre intensiv betrieben hat, nachdem es schon zuvor jahrzehntelang jede politische und zivile Aktivität im Land unterbunden hatte, ist die Gesellschaft darauf angewiesen, dass ihr Haus aufgeräumt, ihre Effektivität gesteigert und ihre Aktivisten unterstützt werden.
70 Prozent der Syrer sind unter 30 Jahre alt, sie sind der Motor der Revolution. Sehen Sie einen Generationenkonflikt? Wie kann man die politische Teilhabe der jungen Träger/innen der Revolution sichern?
Der Generationenkonflikt ist ein grundsätzliches und wesentliches Phänomen der Entwicklung in allen Ländern. Auch in Syrien ist er notwendig, um die Vergangenheit zu überwinden und sich der Zukunft zuzuwenden. Die jungen Männer und Frauen haben die Revolution begonnen, sie sind diejenigen, die die friedliche Revolution hauptsächlich in Gang halten – und die bewaffnete Revolution ebenfalls.
Der revolutionären syrischen Intellektuellen- und Kunstszene ist vorgeworfen worden, den immer stärkeren Konfessionalismus der Auseinandersetzungen zu ignorieren. Wie sehen Sie das?
Ich glaube, dass der Konfessionalismus der Auseinandersetzung in dieser grausamen Form in Syrien ein vorübergehendes Phänomen ist. Seine wesentliche Ursache ist die unbarmherzige Gewalt, die das Regime von Beginn an gegen die syrische Straße angewandt hat, außerdem die gewalttätigen Reaktionen von Seiten einiger Gruppen auf der Straße der Revolution. Es gibt einen Grundsatz, der für alle Völker in der Menschheitsgeschichte gilt, welcher besagt: „Wenn die Waffen sprechen, schweigt die Vernunft.“ Das ist verständlich, zwar hart und grausam, aber verständlich. Ich bin der Meinung, wenn die Gewalt bekämpft wird und allmählich aufhört, wenn dann das Land zu Stabilität und Sicherheit zurückkehrt und man einen demokratischen Bürger- und Rechtsstaat aufbaut, dann wird all dies die Gewalt zwischen den Konfessionen neutralisieren, die heute so erschreckend sein kann. Sollte jedoch diese Gewalt in Syrien weiter andauern, so ist dies ein Warnsignal für wachsenden wechelseitigen Hass der Konfessionen und kann zum Ausbruch eines wirklichen konfessionellen Bürgerkriegs im Land führen.
Eine der großen Chancen der syrischen Gesellschaft liegt in dem Potential der vielen Menschen, die aktiv geworden sind und sich am Aufbau eines demokratischen Staates beteiligen wollen. Wie kann eine internationale Unterstützung hier aussehen? Was kann eine Organisation wie die Heinrich-Böll-Stiftung tun?
Zunächst einmal sollte man bei der geschichtlichen Entwicklung die Bevölkerung als das Wichtigste und Grundlegende betrachten und keine auf regionalen und internationalen Interessen beruhende Lösung herbeiführen. Macht man sich diese Sichtweise zu eigen, so steht zunächst das syrische Volk im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Dabei kommt es in erster Linie darauf an, weiteres Blutvergießen zu vermeiden. Ferner geht es darum, der Zerstörung der Häuser über den Köpfen der Menschen einen Riegel vorzuschieben und die vom syrischen Regime initiierten Feindseligkeiten zwischen den Konfessionen, Bevölkerungsgruppen und Regionen zu beenden. All dies wird sich bezahlt machen, wenn das Regime zu Fall gebracht und die Kräfte und Parteien zurückgedrängt werden, die für ihre Interessen und Pläne in diesem Land das Leben der Syrer aufs Spiel setzen. So wird man schließlich das Volk aufrufen können, allein über sein Schicksal zu entscheiden – und ich bin überzeugt, es wird tun, was das Beste für es ist.
Es kommt darauf an, die einheimische Opposition und die einheimischen gemäßigten Widerstandsgruppen zu unterstützen, denn dadurch wird man gewährleisten, dass keine Gesetzlosigkeit eintritt und außerdem die Reaktionen der verschiedenen Konfessionen, die auftreten oder auftreten könnten, eingedämmt werden. Und man gewährleistet den Minderheiten und der Mehrheit, als geeintes Volk zu leben, so wie sie es früher getan haben, ohne einander zu hassen und ohne dass ihr friedfertiger Umgang miteinander und ihre Achtung voreinander von einer Partei aufs Spiel gesetzt würden.
Das Wichtigste, glaube ich, was die Welt dem syrischen Volk bieten kann, ist, ihm beim Aufbau eines sicheren und freien neuen Syrien zu helfen. Und die Künstler zu unterstützen, indem man ihnen die Möglichkeit zu schöpferischer Arbeit gibt – denn diese trägt dazu bei, dass sich das Schicksal der Syrer zum Besseren wendet – an einem sicheren Ort, der für schöpferische Tätigkeit geeignet ist, wie das Heinrich-Böll-Haus. Außerdem sollte man sich bemühen, die Wahrheit zu veröffentlichen statt all der Lügen, die die westlichen Medien verbreiten. Dies ist ein Teil der Dinge, die man für eine Gruppe von Syrern tun kann.
Was erwarten Sie für den Fall, dass Assad gestürzt wird?
Ich halte es für möglich, dass es zu einer Phase der Gesetzlosigkeit kommt, aber diese Phase wird vorübergehen, so wie alle Übergangsphasen in der Geschichte der Völker. Dann wird man das Land neu aufbauen, unter der Bedingung, dass ein demokratischer Bürger- und Rechtsstaat entsteht, der die völlige Gleichheit aller Angehörigen der Bevölkerung garantiert, ungeachtet ihrer Religion, Konfession, Rasse oder Ethnie, der ihre Würde, ihre Rechte und ihre Besonderheiten garantiert. Wird dies in Syrien nicht umgesetzt, dann sieht es für die Zukunft düster aus.