Die Demokratie in Zeiten der Krise

25. Juni 2013
Maren Hennemuth

Die Demokratie verspricht dem Einzelnen Freiheit, Entfaltungsmöglichkeiten, Gleichberechtigung. Doch wie steht es um diese Errungenschaften in Zeiten, in denen Rettungspakete in scheinbarer Alternativlosigkeit durch die Parlamente gepeitscht werden? In denen Parlamentarier bei Fragen der Gerechtigkeit nicht selbst handeln, sondern die Entscheidung dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe überlassen? In denen der Rechtsstaat durch Spähprogramme wie Prism gefährdet scheint? Auf der dreitägigen Konferenz „Baustelle Demokratie – Wo Einmischen heute gefragt ist“ der Heinrich-Böll-Stiftung standen jene Fragen nach Mitbestimmung im Vordergrund.  Der Begriff Baustelle macht es deutlich, Demokratie bedeutet Arbeit, sie ist eine „Großbaustelle, die nie abgeschlossen sein wird“, wie Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, es in seiner Eröffnungsrede nennt. Sich einmischen, Streiten, Mitgestalten – wie kann der Einzelne das heute tun? Ein Konferenzbericht.

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Samstagnachmittag im Haus der Böll-Stiftung in Berlin: Die meisten Konferenzteilnehmer/innen sitzen auf einer Treppe. Ein Mann steht vor ihnen und fordert voller Pathos in der Stimme: „Wo Bürgerengagement aufhört, fängt Unternehmensengagement an. Verantwortliche Lobbyarbeit darf kein Tabu mehr sein.“ Stirnrunzeln, verdutzte Gesichter, vereinzelt ist Gelächter zu hören. Meint der das ernst? Der Mann, der sich als Luther van Blissett vorgestellt hat, geht noch weiter „Unser Unternehmen hilft allen, die trotz demokratischer Zwänge wirtschaftliche Erfolge verbuchen wollen. Wir schreiben Gesetzestexte für sie, die eins zu eins von der Politik übernommen werden“, verspricht er und startet einen Werbefilm für eine Consulting-Firma mit dem verheißungsvollen Namen „DemocReady“.

Die Demokratie ist brüchig, Lobbyismus nur eine ihrer Bedrohungen. Die Philosophin und Publizistin Carolin Emcke macht gar eine „Legitimationskrise der Demokratie im Zeitalter des globalen Kapitalismus“ aus. Aber wie kann diese Krise überwunden werden? Emcke liefert in ihrer Keynote (siehe Video) zu Beginn der Konferenz eine vermeintlich einfache Antwort. Für die Rückeroberung der demokratischen Prozesse brauche es ein „präziseres Vokabular für unsere Schmerzen an und in der Demokratie“, sagt sie. Es bedürfe einer Übersetzung.

Rassismus und Sexismus als Methoden der Exklusion

Eine Ursache der Krise ist schnell benannt: Während sich der Kreis derer, die politische Entscheidungen treffen, verkleinert habe, sei der Kreis derer, die von diesen Entscheidungen betroffen sind, gewachsen. Diese Ungleichheit zwischen Entscheidern und Betroffenen sei nicht nur schlicht postdemokratisch, sondern vielmehr undemokratisch und ungerecht, sagt Emcke. Sie speise sich aus verschiedenen Methoden der Exklusion, etwa dass bestimmten Gruppen der Zugang zu Bildung und überlebenswichtigen Gütern verweigert werde oder Menschen auf ihre vermeintliche Andersartigkeit reduziert würden. Emcke regt daher an, Sexismus und Rassismus nicht nur als Diskriminierung zu verstehen, sondern auch als Exklusion.

Wie aber kann der demokratische Willensbildungsprozess von solchen Ausschlussmechanismen befreit werden? Emcke präsentiert die Lösung mit Hilfe eines Musikstückes. Die anwesenden Gäste lauschen gespannt. Was sie zu hören bekommen, ist eine Verschmelzung des Chorus „Lasset uns den nicht zerteilen“ aus der Johannespassion von Johann Sebastian Bach mit einem traditionellen Gesang für Trauerzeremonien aus Gabun. „Diese Aneignung einer Tradition durch eine andere ist genau das, was Globalisierung auch bedeuten kann: Hybridisierung, Vieldeutigkeit, Vielsprachigkeit“, sagt sie. Es reiche nicht aus, die Mechanismen der Exklusion zu markieren, sie müssten vielmehr „ausbuchstabiert“ werden in konkrete Erfahrungen. „Der größte Gegner von Emanzipation und Anerkennung sind nicht repressive Gesetze allein sondern mangelnde Vorstellungskraft.“

In der anschließenden Debatte (Video) wirft Ralf Fücks einen Blick in die Vergangenheit. „Machen Sie einmal die Augen zu und erinnern sich an die Welt vor dreißig Jahren“, sagt er an die älteren Zuhörer gewandt. „Sie werden feststellen, dass es eine ganz andere Welt war. Computer waren so groß wie Kleiderschränke. Das menschliche Genom war noch nicht entschlüsselt. Von Telekommunikation war noch keine Rede.“ Doch damit nicht genug, die Beschleunigung werde sogar noch zunehmen, ist sich Fücks sicher „Das ist keine frohe Botschaft. Ich beschreibe eine Welt, die nicht gemütlich ist“, meint er. Hartmut Rosa, Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Universtiät Jena, hält dagegen, dass durch Wachstumsprozesse und technischen Fortschritt auch neue Zugangschancen entstünden. Millionen von Menschen werde die Inklusion in eine Welt ermöglicht, in der ein selbstbestimmtes Leben möglich sei.

„Do-it-yourself-City“ - Basisdemokratische Initiativen in Städten

Samstagvormittag, Deutsches Theater, Malerboden. Drei junge Menschen sitzen vor den Teilnehmer/innen des Workshops „Do-It-Yourself-City“ und erzählen, wie sie sich auf verschiedene Weise Räume in der Stadt erobert haben.

Svenja Nette - 27 Jahre alt, blonde kurze Haare – projiziert ein Bild an die weißgetünchte Wand. Es zeigt eine zugemüllte und mit Unkraut überwachsene Brache. Auf dem nächsten Foto ist der Ort nicht wiederzuerkennen: Beete, angelegte Pfade, ein Café, „Mittlerweile ist es ziemlich grün“, sagt Svenja und lacht. Sie ist Projektkoordinatorin der „Prinzessinnengärten Berlin“, einem Urban-Gardening-Projekt, das 2008 ins Leben gerufen wurde. Mittlerweile sind die Initiatoren private Mieter der 5.800 Meter großen Fläche am Moritzplatz. „Gärtnern ist die Klammer, die alles zusammenhält“, sagt Svenja. Mit welchen Hürden sie zu kämpfen gehabt hätten, will jemand aus dem Publikum wissen. „Am Anfang ist es das typische Herumgehen von einem Amt zum nächsten“, antwortet Svenja. Dabei brauche es Menschen, die nicht nur nach den Regeln gingen, sagt sie.

Ines Knöfel wohnt in Chemnitz, einer Stadt, „in der junge Menschen nicht leben wollen und in der es viel Leerstand gibt“, wie sie sagt. Die 28-Jährige engagiert sich im Wohn- und Kulturprojekt „Kompott“. Zusammen mit Mitstreitern hat sie ein Modell zur Wiederbelebung eines leerstehenden Gebäudekomplexes erarbeitet. Ein Projekt, das einen „Gegenentwurf“ darstellen soll, wie sie sagt. „Mein Antrieb ist dabei der Gedanke, dass eine andere Stadt möglich ist“, berichtet Ines. In dem alternativen Zentrum gibt es ein Lesecafé, eine Bar, Ateliers und Wohnungen. Durch die Kooperation mit der Chemnitzer Oberbürgermeisterin habe sie gelernt, dass es auf bürokratischer Ebene am besten sei, „von oben“ heranzugehen, erzählt sie. Man finde immer jemanden, der ein Auge zudrücke.

Georg Rettner kann von ähnlichen Erfahrungen berichten. Er engagiert sich im „MachWerk-Wedding“, einer für jeden offenen und selbstorganisierten Berliner Projektwerkstatt. Auf der Suche nach einem Ort zur Umsetzung der eigenen Ideen ging die Initiative auf die landeseigene Berliner Wohnungsbaugesellschaft degewo zu und fragte nach einem Raum. Es funktionierte.

Es ist ein bisschen wie mit der Quadratur des Kreises: „Einerseits fordert ihr möglichst wenig Regularien für Euch ein, andererseits haltet Ihr Euch an bestimmte Institutionen, um von Ihnen profitieren zu können“, fasst es Hans Panhoff, Stadtrat für Bauen, Wohnen und Immobilienservice in Friedrichshain-Kreuzberg zusammen. Diesem Widerspruch sei man sich bewusst, entgegnen die drei Referenten. Man sei von der Politik abhängig, hinterfrage sie jedoch gleichzeitig, sagt Svenja Nette.

Kritisch diskutieren die Workshopteilnehmer/innen schließlich noch die Frage, ob derartige Initiativen einen Beitrag zur Stadtgesellschaft leisten. Ein junger Mann meldet sich und berichtet von seinem eigenen Projekt. „Wir bauen Gemüse auf einem Platz an, auf dem früher Jugendliche Fußball gespielt haben. Jetzt dürfen sie dort nicht mehr spielen. Da frage ich mich, ob unser Projekt wirklich einen Beitrag für alle Menschen leistet.“ Und Ines Knöfel fügt hinzu: „Ich wünsche mir schon, dass unser Projekt eine Ausstrahlungskraft in die Stadt hinein hat, gleichzeitig weiß ich, dass sich die Nachbarn von uns gestört fühlen.“

Gesellschaftliche Ungleichheit als größter Feind der Demokratie

Der Soziologe Berthold Vogel beschäftigt sich am Samstagnachmittag in einem Vortrag mit jenen Kräften, die die Demokratie schwächen (siehe Video). „Der größte Feind der Demokratie sind nicht postdemokratische Machenschaften, sondern die wachsende materielle und soziale Ungleichheit in der Gesellschaft“, sagt er. Eine Entwicklung, die sich auch in den Kommunen als den „lokalen Leistungsträgern der Demokratie“ bemerkbar mache; die „öffentliche Armut“, die zum Sparen zwinge. Eine gute Nachricht hat er aber doch für die Zuhörer. Nicht der „Abgesang auf die Demokratie“ werde in den kommenden Jahren überwiegen, sondern es werde eine Debatte um ihre Wiederbelebung geben.

Aber was ist mit den Akteuren, die neben den Bürgerinnen und Bürgern zum Funktionieren der Demokratie beitragen sollen? Was ist mit den Politikerinnen und Politikern? Fragen, denen der Dramaturg Andreas Marber und der Autor Ulrich Peltzer am dritten Tag der Konferenz nachgehen. Marbers These klingt dabei pessimistisch: Solange ein Politiker nicht an der Macht sei, mache er das, was die Menschen, die ihn an die Macht bringen sollen, hören wollten. Diese Unterwerfung der Masse bringen die Schauspielerinnen Susanne Wolff und Judith Hofmann in einer Szene aus dem Shakespeare-Stück Coriolanus zum Ausdruck. Sie stellen den Konflikt zwischen  Coriolanus und seiner Mutter dar, der schließlich in der Handlungsmaxime der Mutter mündet „Sprich mit dem Volk, aber nicht über das, von dem du überzeugt bist“. Und Coriolanus alias  Judith Hofmann kommt dem nach, in dem sie sagt: „So will ich Kanzlerin, äh Kanzler, äh Konsul werden.“

Und „DemocReady“? Das perfide Marketing für die Consulting-Firma ist in Wirklichkeit eine Aktion des peng! Collective, einem Projekt von Jean Peters und Hannes Böttger (alias Luther van Blissett). Die beiden Aktionskünstler wollen mit zivilem Ungehorsam und Subversion auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam machen. Jean Peters stellte nach dem Rücktritt von Bundespräsident Horst Köhler die satirische Seite Horst-Köhler-Consulting ins Netz und bekam eigenen Angaben zufolge tatsächlich ernsthafte Anfragen. Die Motive von „DemocReady“ seien „sehr nah an der Realität“, meint er. Was er denn tue, wenn sich tatsächlich jemand mit einem Auftrag melde, fragt ein Mann im Publikum. „Dann schaue ich zuerst in meinen Terminkalender“, sagt Jean grinsend, „ich sage ihnen dann auch, wie viel Geld ich verlange und wenn sie mich tatsächlich einladen, würde ich hingehen und das Treffen filmen.“

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Die Mitschnitte der Panels finden Sie hier:

Beschleunigte Demokratie. Wie viel Zeit hat Politik?
Mit Hartmut Rosa, Friedrich-Schiller-Universität, Jena; Brigitte Young, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster; Ralf Fücks, Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin, Moderation: Peter Siller, Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin

Wo was passieren muss. Orte unserer Demokratie
Berthold Vogel, Universität Göttingen /ISF Hamburg

Inklusive Demokratie? Zum Verhältnis von Demokratie und Gerechtigkeit
Mit Chantal Mouffe, University of Westminster, London, und Rainer Forst, Goethe-Universität Frankfurt/Main, Moderation: Thomas Biebricher (Goethe-Universität Frankfurt/M)