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Plattform für neue Perspektiven

Austausch der Aktiven: Beim internationalen Kongress „Protest. Kultur. Politik“ diskutieren Gäste aus Russland, Belarus und der Ukraine über neue Formen des Protests. Foto: Marina Naprushkina

Lesedauer: 5 Minuten

Sie sind Künstler/innen, Aktivist/innen oder auch Publizist/innen. Vor allem aber: Persönlichkeiten, die mit ihren Ideen neue Perspektiven eröffnen. Als junge Bürgerinnen und Bürger von Russland, Belarus oder der Ukraine kommen sie mit drängenden Fragen in die Heinrich-Böll-Stiftung nach Berlin: Wie protestieren Menschen gegen autoritäre Strukturen? Wie unterscheiden sich ihre Aktionen in den jeweiligen Gesellschaften? Und was können Kunst und Kultur politisch bewirken?  

Über dies und mehr diskutieren am 27. und 28. Juni 2013 die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kongresses „Protest. Kultur. Politik. Aktionsformen gegen autoritäre Strukturen in den Gesellschaften Osteuropas“. Im Gepäck der Gäste: fachliche Expertise und eigene Erfahrungen mit repressiver Politik. Durch Panels, Workshops und Projektpräsentationen wollen sie sich in Berlin vernetzen. Ihre Ideen vermitteln sie in Performances, Videoclips, Diashows oder kurzen Lesungen. Wer aber sind die Menschen hinter den Projekten? Was bewegt sie? Was wollen sie erreichen? Eine kurze Vorstellung ausgewählter Teilnehmer.

Zwischen Kunst und Aktivismus

Als Autorin graphischer Reportagen hat sich die 1978 geborene Victoria Lomasko einen Namen gemacht. Die russische Künstlerin zeichnete unter anderem Szenen aus den Gerichtsprozessen gegen die Kuratoren der Ausstellung „Verbotene Kunst“ sowie gegen Mitglieder der Gruppe „Pussy Riot“. Gemeinsam mit Anton Nikolajew veröffentlichte sie das Buch „Verbotene Kunst“  ,das 2013 auch in deutscher Übersetzung erschien. In der Heinrich-Böll-Stiftung präsentiert Lomasko das Projekt „Zeichenstunde in der Kinderkolonie“. „Mich interessieren Ereignisse, die jetzt in unserer Gesellschaft vor sich gehen“, sagt die Künstlerin. „Das können sowohl wichtige soziale und politische Prozesse als auch Kammergeschichten kleiner Leute sein.“ 

Mit der speziellen Rolle von Kultur für den gesellschaftlichen Wandel befasst sich die Kulturjournalistin Taсiana Arсimović. Geboren 1984 in Minsk studierte sie dort an der Belarussischen Staatlichen Akademie der Künste und arbeitete an der Experimentellen Bühne von Anatoly Praudin in St. Petersburg. Heute ist sie Kunstkritikerin und verantwortliche Redakteurin des Online-Auftritts von “pARTisan”, einem Magazin über zeitgenössische belarussische Kultur (englische Fassung).

Ausstellung als Politikum

In einem restriktiven politischen Klima können Räume der Kunst Inseln der Freiheit bilden. Ein wichtiger Treffpunkt der unabhängigen belarussischen Kulturszene ist die Galerie Ў in Minsk. Die 1966 in Usbekistan geborene Valentina Kiseleva ist dort Leiterin, Kuratorin und Projektmanagerin und kann in Berlin von ihren Erfahrungen vor Ort berichten. 

Immer wieder zeigt sich gerade auch in Osteuropa die politische Brisanz künstlerischer Ausdrucksformen. Ein Beispiel ist die Ausstellung „Ukrainischer Körper“ vom Februar 2012, in der sich Künstler der Ukraine mit Körperlichkeit auseinandersetzten und dabei soziale Themen berührten. Vasyl Cherepany, der Leiter des Zentrums für visuelle Kultur an der Mohyla Akademie in Kiew, wo die Ausstellung eröffnet und schließlich geschlossen werden musste, ist Gast der Heinrich-Böll-Stiftung. Cherepany wurde 1980 in der Ukraine geboren und arbeitet unter anderem für die ukrainische Ausgabe des Magazins „Political Critique”. In Berlin wird er aufzeigen, wie die Ausstellung zum Politikum wurde und den kulturellen und politischen Kontext vor dem Hintergrund des Kunstskandals analysieren. Für den Kongress kommt auch Lesia Kulchynska nach Berlin. Die Ko-Kuratorin der Ausstellung „Ukrainischer Körper“ wurde 1984 in Russland geboren und arbeitet ebenfalls für „Political Critique“. 

Viele Gäste des Kongresses engagieren sich an der Schnittstelle von Kunst und Gesellschaft. Für die Arbeit von Lilia Voronkova spielt Interdisziplinarität eine besondere Rolle. Die 1977 in Russland geborene Sozialwissenschaftlerin und Fotografin koordiniert interdisziplinäre Projekte am Zentrum für unabhängige Sozialforschung (CISR) in St. Petersburg. Immer wieder bringt sie Sozialwissenschaftler und Künstler zusammen und organisiert Ausstellungen in Berlin und St. Petersburg. Ihre Präsentation auf dem Kongress beschäftigt sich mit „Recht auf Stadt“: Kunstformen des Widerstands im urbanen Raum. 

Literatur als Katalysator? 

Welche Rolle spielt die zeitgenössische Literatur für den gesellschaftlichen Wandel in Osteuropa? Wie prägen Schriftsteller gesellschaftliche Prozesse? Mit Fragen wie diesen beschäftigt sich der 1984 in der Ukraine geborene Dichter und Menschenrechtsaktivist Yaroslav Minkin. Seit 2008 ist er Vorsitzender der in Luhansk angesiedelten literarischen Gruppe „STAN“. Ziel der Organisation ist es, die kreativen Kräfte der Region zu bündeln. In der Heinrich-Böll-Stiftung präsentiert Minkin Literaturprojekte zum Schwerpunkt „Die moderne Literatur als Instrument für sozialen Wandel und zivilen Widerstand“. 

Ebenfalls in der literarischen Szene aktiv ist die 1984 in der Ukraine geborene Kateryna Mishchenko. Sie ist Autorin, Übersetzerin und Redakteurin bei „Просторы“, einem Magazin für Literatur, Kunst und Sozialkritik. Auf dem Kongress in Berlin wird sie eine Sonderausgabe der Zeitschrift vorstellen und über  „die sozialen Wunden der modernen ukrainischen Gesellschaft“ sprechen.   
Eine kleine Szene aus ihrem jüngsten Stück liest die Dramaturgin Yaroslava Pulinovich. Geboren 1987 im russischen Omsk studierte sie dramatisches Schreiben bei Nikolai Kolyada und hat mit ihren Dramen bereits mehrere Preise gewonnen, etwa den Literaturpreis „Debüt“ im Jahr 2008 (YouTube-Video zur Autorin mit ihren Kommentaren über das Theater und englischen Untertiteln). Zu ihren Werken zählt etwa „Nataschas Traum“, der Monolog eines jungen Mädchens im Waisenhaus.

Protestkultur aus wissenschaftlicher Perspektive 

Protestkulturen wandeln sich. Die Art und Weise, in der Menschen gegen autoritäre Strukturen angehen, ist stark beeinflusst vom historischen und sozialen Kontext des Landes. Der 1977 in Russland geborene Mischa Gabowitsch untersucht Russlands neue Protestkultur aus der Sicht des Soziologen und Zeithistorikers. Sein 2013 bei Suhrkamp erschienenes Buch „Putin kaputt!? Russlands neue Protestkultur“ () liefert erstmals eine umfassende Studie zum Thema. Als Suhrkamp-Autor ist auch der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan auf dem Kongress vertreten. Der 1974 geborene Ukrainer lebt aktuell in Kharkiv, schreibt Prosa, Gedichte und Essays. Zuletzt erschien auf Deutsch „Die Erfindung des Jazz im Donbass“. Zhadan ist auch als Musiker aktiv und gibt am Donnerstagabend ab 20.30 Uhr ein Konzert mit seiner Band „Sobaki v Kosmose“ (Hunde im Weltall). 

Als belarussischer Musiker und Songwriter nimmt der 1971 geborene Dzimitry Vaitsiushkevich am Kongress der Heinrich-Böll-Stiftung teil. In seinen Liedern interpretiert er unter anderem Gedichte von Vladimir Mayakowski. Es sind also vor allem junge Protagonistinnen und Protagonisten aus Kultur und Gesellschaft, die sich auf dem Kongress „Protest. Kultur. Politik“ in Berlin zusammenfinden. Ihre Ansätze und Ansichten sind vielfältig, aber alle eint der Wunsch, in ihren Ländern etwas bewegen zu wollen. Sie zeigen Perspektiven auf und geben den Protesten ein Gesicht.

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